Sozialrichter Jürgen Borchert:"Warum die Agenda 2010 als Erfolg begriffen wird, ist mir ein Rätsel"

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Acht Millionen Menschen sind im Niedriglohnsektor beschäftigt: Ein Fensterputzer reinigt das gläserne Dach des World Trade Centers Dresden. (Foto: dpa)

Die Agenda 2010 hat Deutschland verändert, Ökonomen sagen: zum Guten. Doch sie hat Millionen Menschen vom normalen Leben ausgeschlossen. Hat die Bundesrepublik überhaupt noch eine soziale Marktwirtschaft? Wir haben Jürgen Borchert gefragt, der beim Verfassungsgericht eine Neuberechnung der Hartz-IV-Regelsätze durchsetzte.

Von Hans von der Hagen

Was der damalige Kanzler Gerhard Schröder am 14. März 2003 im Bundestag präsentierte, hatte die Bundesrepublik in dieser Form noch nicht gesehen. Die Agenda 2010 ließ den Sozialstaat Deutschland erkalten. Nur noch etwas zu beißen und ein Dach über dem Kopf - das ist für Millionen Menschen in Deutschland Wirklichkeit geworden. Kultur, Sport, Urlaub sind nicht mehr bezahlbar. Das gilt nicht nur für jene, die Hartz IV bekommen, sondern auf für Menschen, die hart arbeiten aber so wenig verdienen, dass es für mehr als die Existenzsicherung nicht mehr reicht. Sozialrichter Jürgen Borchert, 63, sagt, warum die Agenda 2010 so verheerende Konsequenzen hat. Er sitzt dem 6. Senat des Hessischen Landessozialgerichts vor, der beim Verfassungsgericht in Karlsruhe die Reform der Hartz-IV-Sätze erstritt.

Süddeutsche.de: Seit zehn Jahren gibt es die Agenda 2010. Wie hat sie Deutschland verändert?

Jürgen Borchert: Die Agenda 2010 hat einen wesentlichen Beitrag dafür geleistet, dass unser Wirtschaftssystem den Idealen der sozialen Marktwirtschaft Hohn spricht. Wir haben den Aufstieg der Bundesrepublik besonders der Tatsache zu verdanken, dass man sich lange Zeit klar darüber war, dass die Kraftreserven jeder Volkswirtschaft im untersten Einkommensdrittel liegen. Über Jahrzehnte wurde entsprechend darauf geachtet, dass sich die Lohnspirale von unten nach oben drehte. Mit der Agenda 2010 wurde diese Richtung umgedreht: Die Lohnspirale wurde nach unten programmiert.

Was bedeutet das?

Dass wir eine Entwicklung erleben, die mit Erosion und Abwärtsmobilität der Mittelschicht beschrieben werden kann. Dabei ist sie der Garant für demokratischen und sozialen Frieden in Deutschland. Dieses Fundament ist durch die Agenda 2010 brüchig geworden. In ihrem Schatten hat sich nun eine breite Unterschicht etabliert. Acht Millionen Menschen sind im Niedriglohnsektor beschäftigt, die mit ihrem Einkommen nicht einmal die Existenz sichern können. Warum in diesen Tagen die Agenda 2010 als Erfolg begriffen wird, ist mir ein Rätsel.

Lässt sich noch von einer sozialen Marktwirtschaft sprechen, wenn so viele Menschen mit der Arbeit ihre Existenz nicht mehr sichern können?

Die soziale Marktwirtschaft war immer von dem Konsens getragen, dass es Aufgabe der Wirtschaft ist, dem Menschen zu dienen. Doch wenn eine Wirtschaft es nicht schafft, Menschen, die hart arbeiten, das Auskommen zu sichern, gleichzeitig eine hauchdünne Oberschichte unvorstellbare Reichtümer anhäuft, ist das die Aufkündigung der sozialen Marktwirtschaft. Vor unseren Augen entsteht eine Verfestigung von Armut in der bundesdeutschen Gesellschaft, die früher nicht vorstellbar war. Das reicht weit in die Zukunft hinein, denn einige Jahre Beschäftigung im Niedriglohnsektor oder im Hartz-IV-Bezug programmieren Rentenarmut.

Wurde die Abkehr von der sozialen Marktwirtschaft nicht schon 1982 mit dem Papier des früheren Wirtschaftsministers Otto Graf Lambsdorff eingeleitet, der seinerzeit das "Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit" vorlegte?

Die Wurzeln der Agenda 2010 können im Lambsdorff-Papier verortet werden. Denn es hat die Politiken, die mit der Agenda 2010 hochkonzentriert die Gesetzgebung passiert haben, bereits angedacht. Im Grunde liest sich das Lambsdorff-Papier wie eine Anleitung der Troika an die südeuropäischen Krisenländer, nur damals auf Deutschland bezogen.

Welche Strategie steckte dahinter?

Das Lambsdorff-Papier zielte von Anfang an auf die Schwächung der Vertreter des Faktors Arbeit im marktwirtschaftlichen Geschehen, etwa durch Schwächung der Gewerkschaften. Doch die Regierung unter Helmut Kohl konnte das Konzept nicht vollenden. Das erledigte dann paradoxerweise die Regierung unter sozialdemokratischer Führung mit der Agenda 2010. Lenin hatte wohl recht mit seiner Bemerkung, dass man seine Klasse nicht verlassen, sondern nur verraten könne.

Welche Bestandteile der Agenda 2010 haben den Arbeitsmarkt am stärksten verändert?

Es ist das Zusammenwirken der Hartz-I- und Hartz-IV-Reform. Damit hat sich der Staat einseitig auf die Seite der Leiharbeitsunternehmen und der Arbeitgeberschaft geschlagen. Hartz I und Hartz IV müssen immer zusammen gesehen werden. Hartz I war die Entfesselung der Leiharbeit und den Leiharbeitsunternehmen wurde mit dem Sanktionsmechanismus von Hartz IV die Arbeitskraft in Scharen zugetrieben. Hartz IV sorgt dafür, dass um jeden Preis und für jeden Preis Arbeit angenommen werden muss.

Der Drogeriemarkt-Gründer Götz Werner (dm) nennt Hartz IV offenen Strafvollzug. Hat er recht?

Das kann man so sehen. Es ist nämlich erstaunlich: Bei einer Straftat wie einer mittelschweren Körperverletzung darf die fällige Geldstrafe das pfändungsfreie Einkommen, also das Existenzminium, nicht antasten. Wenn Sie aber zu spät zum Laubharken antreten oder Pflichtbewerbungen nicht erledigen, dann bekommen Sie Sanktionen aufgebrummt, die auch auf das Existenzminimum zugreifen. Mit solchen Pflichtwidrigkeiten ist man also als einfacher Arbeitsloser unter Umständen übler dran als ein Straftäter. Es gab diese Zwangsmaßnahmen aus der Zeit, als Fürsorge noch eine Polizeiangelegenheit war, zwar auch früher schon, nur wurden sie damals nicht flächendeckend und millionenfach eingesetzt.

Die Industrie argumentiert, sie brauche die Leiharbeit - also Arbeitskräfte, die sich nach Belieben in kürzester Zeit ein- und freisetzen lassen. Ist das Konzept Leiharbeit grundsätzlich falsch?

Nicht, wenn die Leiharbeit - wie früher - strikt reguliert ist, womit die Industrie ja gut gefahren ist. Die Hartz-Reformen stellen die Regulierungsnotwendigkeiten doch nachdrücklich unter Beweis, denn die Kapitalseite hat im Arbeitsmarktpoker durch Hartz I und IV den Joker in die Hand bekommen, gegen den die Gewerkschaften kaum noch einen Stich bekommen. Mit der Agenda 2010 hat die damals rot-grüne Regierung den Bedürfnissen der entfesselten Finanzmärkte Rechnung getragen, die mit der vollen Mobilität ihres Kapitals natürlich auch sämtliche Fesseln ablegen wollten, die ihnen durch die nationalen Arbeitsmärkte noch verblieben waren. Es gehört übrigens zu den unappetitlichen Begleiterscheinungen der Agenda 2010, dass der damals federführende verantwortliche Minister Wolfgang Clement nach Ende seiner Amtszeit auf der Gehaltsliste von Adecco, einem weltweit führenden Leiharbeitsunternehmen, auftauchte.

Ökonomen sagen, dass die Agenda 2010 Deutschland als Produktionsstandort wieder attraktiv gemacht hat. War also die Schwächung des Faktors Arbeit notwendig?

Dass sich die Bedingungen für das vagabundierende Finanzkapital der Welt in Deutschland schlagartig verbessert haben, liegt auf der Hand. Doch das ist eine sehr kurzsichtige Betrachtungsweise, die nur auf die schnellen Profite achtet und nicht auf die langfristigen Schäden an der sozialen Substanz und der Demokratie achten.

Was sind die langfristigen Wirkungen?

Die zeigen sich besonders bei der Entwicklung des Humanvermögens, vor allem beim Bildungsniveau. Es sinkt in Deutschland auf breiter Front ab. Die Bundesrepublik liegt beim Aufwand für Bildung unter den OECD-Staaten an viertletzter Stelle. Und wir wissen, dass in Deutschland ein Viertel der Schulabgänger nicht einmal das Minimum an Kenntnissen beim Lesen, Schreiben und Rechnen beherrschen, das selbst Hilfsarbeiten voraussetzen. Es ist mit der Massenverarmung eine Entwicklung in Gang gesetzt worden, deren verheerende Ergebnisse bereits heute sichtbar werden.

Inwiefern?

Wir haben einen festen Sockel von 1,5 Millionen jungen Menschen zwischen 20 und 30 in der Dauerarbeitslosigkeit, obwohl diese Jahrgänge ständig kleiner werden.

Hat die Agenda 2010 den Umgang mit Arbeitslosigkeit verändert?

Sie hat mit der Selbstverständlichkeit gebrochen, dass die Verantwortung für den Arbeitsmarkt und die Beschäftigungssituation in Deutschland zuallererst die Verantwortung der Politik ist; das steht sogar im Stabilitätsgesetz. Nur der Staat kann über die Instrumente der Konjunktur-, Steuer- und Währungspolitik den heimischen Arbeitsmarkt in Schutz nehmen. Diese Instrumente wurden aber größtenteils inzwischen nach Brüssel und an die EZB abgegeben und so der Airbag für den Arbeitsmarkt, demontiert. Ausgerechnet in dieser Situtation, in welcher Arbeitslosigkeit weniger denn je auf individuellen Gründen beruht, den Arbeitslosen mit der Eigenverantwortung zu kommen, ist ein Zynismus sondergleichen und bestätigt die Stimmen, die sagen, der Staat würde die Arbeitslosen bekämpfen und nicht die Arbeitslosigkeit.

Die Bundesbank hat sich eigentlich nie um den Arbeitsmarkt gekümmert, im Gegenteil, man warf ihr vor, zu einseitig auf die Stabilität des Geldes zu achten.

Richtig, aber sie hat immer auch das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht - und damit auch den Arbeitsmarkt - im Auge gehabt. Der Erfolg des deutschen Modells beruhte doch darauf, dass sich alle Akteure an den runden Tisch gesetzt und die Politiken aufeinander abgestimmt haben.

Was wäre der wichtigste Punkt, der bei der Agenda 2010 sofort umgeändert werden müsste?

Wenn man die verheerenden Wirkungen der Agenda 2010 stoppen und umkehren will, wird kein Weg an einer Re-Regulierung der Leiharbeit vorbeiführen. Ein Arbeitsmarkt, bei dem Arbeit und Kapital nicht auf Augenhöhe miteinander verhandeln, kann niemals funktionieren.

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