Sozialleistungen:Wie die Jobcenter Arbeitslose in die Armut treiben

Sozialleistungen: Arbeitslose in einem Jobcenter in Berlin

Arbeitslose in einem Jobcenter in Berlin

  • Hartz-IV-Empfänger haben Anspruch auf 399 Euro im Monat. Trotzdem müssen viele unter diesem Existenzminimum leben.
  • Das liegt an Rückforderungen und Darlehen der Jobcenter, die einfach die Bezüge kappen. Arbeitsministerin Nahles (SPD) will daran etwas ändern.

Von Kristiana Ludwig

Das Minimum für eine menschenwürdige Existenz liegt im Fall von Julia Meier bei 399 Euro. So viel Arbeitslosengeld steht ihr im Monat zu, mindestens, sagt das Bundesverfassungsgericht. Meier, die eigentlich anders heißt, lebt seit ihrem 41. Lebensjahr immer wieder von Hartz-IV. Sie ist jetzt 52. In einer Kleinstadt in Süddeutschland, in der es Fachwerkhäuser gibt und eine Bimmelbahn, zog sie zwei Söhne alleine groß. Sie jobbt, wenn sie Jobs findet und wenn es die Rückenschmerzen zulassen. Dennoch erreicht sie schon seit Jahren das Existenzminimum nicht mehr. Meist lebt sie von 50 Euro weniger.

Der Grund: Julia Meier hat Schulden. Zwar bekommen Menschen, die so wenig besitzen wie sie, eigentlich einen Pfändungsschutz. Das Minimum darf ihnen keiner nehmen. Doch es gibt einen Gläubiger in Deutschland, für den diese Regel nicht gilt: die Bundesagentur für Arbeit. Um Darlehen und überschüssige Aufstockungen wieder einzutreiben, darf sie bis zu 30 Prozent des Minimalbetrags abziehen - auch während der Betroffene noch arbeitslos ist. Nachdem sich die Länder in der vergangenen Woche beim Bundesarbeitsministerium über 30-Prozent-Abzüge allein durch Darlehensrückzahlungen an das Jobcenter beschwert hatten, will Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) der Bundesagentur für Arbeit diese Praxis nun untersagen. Die fachliche Weisung werde jetzt "entsprechend angepasst", sagte ihre Sprecherin der Süddeutschen Zeitung.

100 Euro für die Stromnachzahlung, 1000 Euro für die Mietkaution oder 300 Euro für Möbel - Julia Meier muss bei jeder größeren Ausgabe ein Darlehen beim Jobcenter aufnehmen. Erspartes hat sie nicht. Wenn sie im Callcenter arbeitet, wo der Stundenlohn nicht zum Leben reicht, hilft das Amt aus. Doch auch dieses sogenannte Aufstocken hat häufig ein Nachspiel: Wenn Meier mehr verdient, als sie am Monatsanfang geschätzt hat, erhält sie nach einiger Zeit einen Brief: Das Jobcenter fordert sein Geld zurück. Mittlerweile hat sie viel Post von dieser Sorte bekommen. "Ich habe den Überblick verloren", sagt sie. Das Amt dagegen addiert die Rechnungen auf. Pro Darlehen oder Rückzahlung behält es bisher zehn Prozent des Regelsatzes ein und begleicht dabei bis zu drei Forderungen gleichzeitig. Ist eine Schuld getilgt, folgt die nächste.

Die Höhe der geliehenen Beträge steigt

Wie viele Menschen wegen solcher Rückzahlungen unter dem Existenzminimum leben, erhebt die Bundesagentur für Arbeit nicht. Auch die Frage, wie viele ihre Schulden beim Amt abbezahlen, wenn sie wieder einen Arbeitsplatz gefunden haben, kann die Behörde nicht beantworten. Klar ist aber, dass die Zahl der Jobcenter-Darlehen seit Jahren kontinuierlich steigt. Während im Jahr 2007 noch knapp 13 000 Hartz-IV-Empfänger Jobcenter-Kredite aufnahmen, waren es vergangenen Jahr fast 19 000. Die Höhe der geliehenen Beträge stieg ebenfalls - im Schnitt von 216 auf 365 Euro pro Person.

Noch nicht eingerechnet sind dabei die Schulden, die bei Aufstockern wie Meier regelmäßig entstehen, weil sie stundenweise arbeiten und ihre Monatslöhne schwanken. Wenn die Jobcenter ihnen Rückforderungen schicken, ist das Geld meist schon verbraucht, kritisiert Michaela Hofmann von der Caritas. "Die Leute können nichts ansparen", sagt sie. Gerade bei Langzeitarbeitslosen sei das Geld durch dauerhafte Abzüge so knapp, dass sie immer wieder neue Darlehen aufnehmen müssten, um Stromrechnungen oder eine neue Waschmaschine zu bezahlen. Frieder Claus, der elf Erwerbslosen-Beratungsstellen der Diakonie im Landkreis Esslingen betreut, sagt, dass etwa die Hälfte seiner Klienten weniger Geld bekommt, als es der Hartz-IV-Satz vorsieht.

Die Neuregelung der Darlehensraten durch das Arbeitsministerium wird daran wenig ändern: Durch die Kombination mit Aufstocker-Rückzahlungen werden sich auch in Zukunft die Bezüge vieler Hartz-IV-Empfänger reduzieren. Selbst eine längerfristige Reduzierung um 30 Prozent sei bei einem "zuvor schuldhaften Verhalten der Betreffenden gerechtfertigt", heißt es vom Ministerium. Zum Vergleich: Sanktionen, die ebenfalls Leistungen reduzieren, sind maximal drei Monate gültig. Die Rückzahlungen dagegen bleiben bestehe, bis die Rechnung beglichen ist.

Die Bundesagentur setzt nun auf ein Inkasso-Konzept

Bei der Bundesagentur für Arbeit heißt es, Arbeitslosengeldempfänger entschieden selbst, in welcher Form sie ihre Darlehen zurückzahlen. Sie könnten wählen, ob sie die offenen Forderungen mit ihren Leistungen verrechnen oder sie lieber selbst überweisen wollen. Das Jobcenter Hamburg hat allerdings erst im Oktober seine Mitarbeiter darauf hingewiesen, "dass die Darlehen möglichst während des Leistungsbezugs aufzurechnen sind". So steht es in einem internen Protokoll.

Um säumigen Schuldnern beizukommen, setzt die Bundesagentur außerdem auf ein neues "Fachkonzept Inkasso", mit dem sie künftig einen "besseren Einziehungserfolg" erreichen will. Von 2015 bis 2020 verspricht sie sich dadurch Mehreinnahmen von rund 70 Millionen Euro pro Jahr. Das Amt hat bereits fünf Stützpunkte in Recklinghausen, Bogen, Hannover, Halle und Kiel geschaffen, an denen sich Mitarbeiter auf das Eintreiben von Außenständen konzentrieren sollen - auch bei den Menschen, die ihre Jobcenter-Schulden mit in die Berufstätigkeit nehmen.

Das Amt erwägt, private Inkassounternehmen zu beauftragen

Gerade haben dort rund 180 Mitarbeiter ein "Intensivtraining Telefoninkasso" von der Deutschen Inkasso Akademie bekommen, einer Tochter des Bundesverbands deutscher Inkasso-Unternehmen. Im Dezember sollen weitere Kurse folgen. Die Bundesagentur erwägt außerdem, die privaten Inkassounternehmen gleich selbst zu beauftragen. Dies sei bereits "erfolgreich erprobt" worden. Eine Sprecher der Bundesagentur für Arbeit sagt, aktuell seien noch keine Firmen eingebunden. Man prüfe aber, "ob es wirtschaftliche Möglichkeiten der Beteiligung externer Dienstleister in Teilbereichen des Inkasso" gibt.

Laut Statistischem Bundesamt sind Aufstocker überproportional häufig überschuldet, mit durchschnittlich knapp 38 000 Euro. Überschuldeten Hartz IV-Empfängern fehlten im Schnitt rund 22 700 Euro, "allerdings dürfte es dieser Gruppe besonders schwer fallen, die Schulden zurückzuzahlen", heißt es in der Auswertung.

Auch Julia Meier sollte im Augenblick auf neue Schulden verzichten. Seit knapp drei Jahren ist sie im Insolvenzverfahren. Dabei muss sie sich auf ein geringes Einkommen beschränken und weitere Kredite könnten ihr Verfahren scheitern lassen. Für ein neues Bett und einen Kühlschrank hat sie beim Jobcenter deshalb Beihilfe beantragt. "Da Sie diese Gegenstände schon einmal besessen haben, ist eine Bewilligung als Beihilfe (...) nicht mehr möglich", antwortet ihr das Amt. Aber: "Es besteht die Möglichkeit, ein Darlehen zu beantragen."

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