Süddeutsche Zeitung

Soziale Marktwirtschaft:Warum Ludwig Erhard nicht Fernbus fahren würde

Wenn Lokführer streiken, fahren mehr Menschen mit dem Fernbus. Den Preis dafür zahlen die Busfahrer. Deren Löhne sinken - und sie lassen sich als Quasi-Streikbrecher einspannen.

Essay von Michael Kuntz

Ludwig Erhard würde Fernbus fahren. So formulierte der Spiegel vor zwei Jahren seine Freude über die gerade erfolgte Liberalisierung des Fernbusmarktes. Freier Wettbewerb für freie Bürger, so die These - das hätte dem zweiten Kanzler der Bundesrepublik gefallen. Erhard gilt als Vater des Wirtschaftswunders, er war der Meinung, dass ein wohlgeordneter Wettbewerb, nach den Regeln der sozialen Marktwirtschaft, Wohlstand für alle schaffen würde. Und der Fernbus brachte mehr Wettbewerb - vor allem für die Deutsche Bahn, diesen noch immer hundertprozentigen Staatskonzern, der mal privat werden sollte, aber sich bis heute auf der Schiene im Personenverkehr nur sehr weniger Wettbewerber erwehren muss, meist regionaler Anbieter, die hier und da ein paar Strecken bedienen. Aber echter Wettbewerb, so wie in der Telekommunikation, beim Paketdienst oder in der Energieversorgung, in Märkten also, die einst staatlich kontrolliert wurden, ehe man sie aufbrach - den gab es nicht.

Drei Thesen

Die Gelegenheit: Fernbus-Anbieter sahen den Streik der Lokführer als ihre Chance.

Das Problem: Busfahrer lassen sich als Quasi-Streikbrecher einspannen.

Die Lösung: Arbeitnehmer sollten sich wieder mehr auf Solidarität besinnen.

Doch dann rang sich die Politik im Jahr 2013 dazu durch, einen anderen Markt zu öffnen: jenen für Fernbusse. Seither ist die Bahn nicht länger mehr der Monopolist bei der landgebundenen Fortbewegung auf innerdeutschen Strecken, die länger als 50 Kilometer sind. Seither haben die Kunden nicht mehr nur die Wahl zwischen Bahn und Flugzeug, wenn sie quer durch Deutschland reisen wollen. Sondern sie können auch für wenig Geld in den Fernbus einsteigen. Das hätte nicht nur Erhard gefallen, das fasziniert seitdem viele Menschen, nicht mehr nur die Alten und Jungen. Jeder zehnte Bundesbürger probierte bisher das neue Verkehrsmittel aus. Eine kleine Revolution, die der Bahn inzwischen mächtig zu schaffen macht. Denn sie buhlt um dieselben Kunden - um Kunden, die ihr lange treu waren, nun aber froh sind über die meist deutlich günstigere Alternative.

Die Bahn hatte sich von einem Teil ihrer Kundschaft entfernt

Und erst recht ist die Zahl der Umsteiger, die nun Bus statt Bahn fahren, gestiegen, seit die Lokführer immer wieder streiken. Der Bahnstreik ist die bislang größte - und dazu noch kostenlose - Werbeaktion für die Busbranche. Während die meisten Züge stillstanden, fuhren die Busse häufiger denn je. Man könnte auch sagen: Die Fernbus-Betreiber und ihre Fahrer agierten als Streikbrecher, und zwar ohne jedes schlechte Gewissen.

All dies zwingt die Bahn dazu, ihr Angebot zu verbessern und kundenfreundlicher zu werden. Wenn man bedenkt, dass der Bahn-Chef allen Ernstes funktionierende Kaffeemaschinen und Zugtoiletten als elementare Teile eines sich über mehrere Jahre erstreckenden Investitionsprogramms verkauft, dann lässt sich erahnen, in welch desolatem Zustand die Bahn sich trotz aller Fortschritte noch befindet.

Vor allem: Mit schöner Regelmäßigkeit erhöhte die Bahn ihre Fahrpreise, nicht immer im Takt mit einem verbesserten Angebot. Da war das Feld bereitet für Fernbusse, die für die Hälfte des Geldes oder noch weniger ihre Kundschaft von einer Stadt zur nächsten bringen. Die Öffnung des Fernverkehrs für Busse hatte so gesehen eine sozialpolitische Komponente: Die Fernbusse ermöglichen das Reisen auch wieder Menschen, die sich eine Bahnfahrt irgendwann nicht mehr leisten konnten.

Die Zahl der Busfahrgäste ist zwar noch recht gering, verglichen mit den Fahrgastzahlen der Deutsche Bahn. Doch die Kräfte des Marktes wirken, der freie Wettbewerb funktioniert. Immerhin hat der neue Wettbewerb dazu geführt, dass die Bahn nun erstmals seit Jahren ihre Fahrpreise nicht angehoben hat - und inzwischen sogar auf den Internet-Portalen für Fernbusse mit eigenen Sonderangeboten wirbt.

Natürlich wird der Fernbus nicht ewig so günstig bleiben. Wer eine Fahrt über ein paar Hundert Kilometer bisweilen für fünf Euro verramscht (manchmal sogar nur für einen Euro), der holt seine Kosten bei weitem nicht herein - und will bloß Marktanteile gewinnen, egal wie hoch die Verluste auch sind. Andererseits erhöht dies den Druck auf die Bahn, deren Preise weiter sinken dürften. Die Entwicklung könnte hier verlaufen wie bei den Telefongebühren und Flugpreisen, wo ständig neue Billig-Wettbewerber auf den Markt drängten und so die etablierten Anbieter zu Preissenkungen zwangen.

Das wären alles gute Gründe, um in den allgemeinen Jubel über die Fernbusse einzustimmen. Indes: Man sollte es nicht tun. Denn wie sieht der liberalisierte Markt heute aus? Zu welchen Bedingungen fahren die Busse eigentlich durchs Land? Und wie steht es um die Bezahlung der Fahrer?

Beherrscht wird dieser Markt maßgeblich von amerikanischen Finanzinvestoren. Sie nutzten die Fusion der beiden führenden Anbieter MeinFernbus in Berlin und Flixbus in München, um beim Marktführer einzusteigen. Und die Bezeichnung Marktführer ist in diesem Fall wirklich wörtlich zu nehmen: MeinFernbus Flixbus, wie das fusionierte Unternehmen heißt, beherrscht 70 Prozent des Markts. Echter Wettbewerb sieht anders aus. Und im Gegensatz zur Deutschen Bahn, die zwar wie ein privatwirtschaftliches Unternehmen geführt wird, aber weiter dem Staat gehört, erfährt die Öffentlichkeit vom Fernbus-Giganten nicht, wer welche Anteile hält und wer letztlich das Sagen hat.

Die Preise ändern sich ständig - je nach Nachfrage

Klar ist nur: Die jungen Existenzgründer von MeinFernbus und Flixbus können wichtige Beschlüsse nun nicht mehr fassen, ohne ihre Heuschrecken-Partner zu befragen.

Bei den Fernbussen lief es wie häufiger in der Internet-Ökonomie. Erst installieren junge Start-up-Unternehmer die technische Infrastruktur für eine Branche, die bislang mit dem World Wide Web wenig zu tun hatte: Heute muss man nicht mehr in ein Reisebüro gehen, um eine Busreise zu buchen; das geht nun per Mausklick im Netz. Vergleichsportale ermöglichen die Suche nach dem derzeit günstigsten Preis; der allerdings kann stark schwanken, je nach Nachfrage. Diese Strategie haben die Anbieter von Fernbussen sich bei Airlines und Autovermietern abgeschaut, es ist das Yield-Management. Eine lernende Software passt den Preis ständig an - bis alle Plätze ausverkauft sind.

Technisch ähnlich perfekt steuern die Fernbus-Portale den Fahrbetrieb. Auf ihren Leitständen ist zu sehen, wo sich die Busse befinden, wie schnell sie fahren, ob sie sich verspäten. MeinFernbus und Flixbus entwickelten zudem starke Marken, die inzwischen bundesweit bekannt sind. Busse mit großem Sitzabstand, Wlan und Bordbar, ein elektronisches Unterhaltungsprogramm wie im Flugzeug - das ist Standard der Branche. Wie stark die Marken der beiden Start-ups waren, das bekamen auch die Wettbewerber mit den vermeintlich etablierten Namen zu spüren: ADAC Postbus, Bahnbus und Berlin-Linien-Bus. Sie rollen weit abgeschlagen den Newcomern von MeinFernbus Flixbus hinterher.

Das Geschäftsmodell von MeinFernbus Flixbus ähnelt stark dem von Uber, dem Vermittler von Fahrdiensten in Kalifornien. Die Jungs aus Berlin und München sind dabei allerdings um einiges diplomatischer als Uber-Gründer Travis Kalanick, der die Konkurrenz schon mal als "Arschloch" bezeichnet. Sie vermitteln wie Uber die Fahrten, nehmen aber die ausführenden Dienstleister, mittelständische Busunternehmen, von Anfang an als Partner mit ins Boot - und nicht erst nach Zoff mit allen. Für die zuvor meist regional tätigen Busunternehmer ist die nationale Marke eine Chance, um vom liberalisierten Markt zu profitieren.

Gegenwärtig treibt MeinFernbus Flixbus sein Geschäft im Ausland voran. Diese Erweiterung des Geschäftsgebietes auf Europa lenkt auch ein wenig von der marktbeherrschenden Stellung in Deutschland ab. Die Kartellbehörden sind hier derzeit untätig, denn sie nehmen als Rahmen den gesamten Markt für den Fernverkehr, also Bus plus Bahn. Da ist der Anteil von MeinFernbus Flixbus mikroskopisch klein - und daher aus Sicht der Kartellwächter kein Problem.

Es gibt weitere problematische Aspekte. Das System Fernbus arbeitet in dezentralen Strukturen, was den Arbeitnehmern die geschlossene Wahrnehmung ihrer Interessen erschwert. Die Folge: Auch weil die Busfahrer keine starke Vertretung haben, kosten sie vergleichsweise wenig. Dadurch geraten die klassischen Strukturen mit Vollzeitjobs bei der Bahn, die besser, aber auch nicht sehr hoch bezahlt werden, noch mehr unter Druck.

Für die Lokführer geht es bekanntlich nicht nur um ihr Einkommen. Wenn wie geplant das Tarifeinheitsgesetz im Sommer kommt, haben kleine Gewerkschaften wie die GDL kaum noch eine Chance, im Wettbewerb unter den Organisationen der Arbeitnehmer zu bestehen. Die Gewinner sind dann die Großgewerkschaften Verdi und IG Metall, die politische Heimat der Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles. Einheitsgewerkschaften nehmen Arbeitnehmern die Wahl, von wem sie sich vertreten lassen wollen. Das ist nicht gut: Wettbewerb sollte es nicht nur bei Fernbussen geben; Wettbewerb sollte auch unter Gewerkschaften herrschen.

Warum Ludwig Erhard nicht Fernbus fahren würde

Hinter dem Lokführer Claus Weselsky steht eine zwar kleine, aber hochorganisierte Arbeitnehmerschaft, die sich im Gegensatz zu anderen Berufsgruppen noch nicht mit ihrem Schicksal in einer zunehmend atomisierten Arbeitswelt voller Subunternehmer und Kleinselbständiger abgefunden hat. Davon ist die Welt der Fernbusse weit entfernt.

Gäbe es eine GDL für Busfahrer, würden auch die Lohn- und Beschäftigungsstrukturen bei den Fernbussen stärker öffentlich diskutiert. Dann würde vielleicht deutlicher, wer letztlich für die niedrigen Fahrpreise zu bezahlen hat. Für einen Euro durch Deutschland, solche Angebote sollten misstrauisch machen.

Diese Atomisierung der Arbeitswelt hebelt die soziale Marktwirtschaft mit starken Vertretungen der Arbeitnehmer mehr oder weniger aus. Die Liberalisierung des Fernbus-Marktes macht dies deutlich. Es entstehen neue Strukturen, in denen vor allem jeder an sich selbst denkt und in denen Solidarität zum Fremdwort wird.

Was sagt uns das? Ludwig Erhard würde heute vielleicht doch nicht Fernbus fahren. Nicht einmal dann, wenn der Bahnstreik über Pfingsten gedauert hätte.

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Quelle:
SZ vom 23.05.2015/kabr
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