Umverteilung:Denkt den Soli neu!

Landflucht

Ein leeres und verfallenes Wartehäuschen im Dorf Tuckhude in der Lewitz in Mecklenburg-Vorpommern. Solche Anblicke zeigen, dass wir immer noch einen Solidaritätszuschlag brauchen.

(Foto: dpa)

Fast alle wollen ihn loswerden. Dabei wäre es absurd, den Solidaritätszuschlag zu streichen. Ein Blick auf Deutschland zeigt, wie dringend manche Regionen ihn brauchen.

Essay von Stefan Braun

Die FDP will es schon lange, die Union neuerdings; die AfD möchte es auch. Und die SPD hat sich entschieden, mindestens teilweise mitzumachen. 30 Jahre nach dem Fall der Mauer hat der Solidaritätszuschlag keine Freunde mehr in Deutschland. Weg soll er, rufen fast alle Parteien. Genug gezahlt, lautet vor allem im Westen die Botschaft. Die Bürger sollen endlich wieder mehr Geld im Beutel haben, sagen die allermeisten.

Drei Jahrzehnte nach dem Ende der DDR ist dieses Gefühl verständlich. Und weit verbreitet. Beim Solidaritätszuschlag handelt es sich um eine Sonderabgabe, die dezidiert für eine Aufgabe erhoben wurde: die Kosten der deutschen Einheit zu stemmen. Die Mauer ist schon eine längere Zeit nicht mehr da, als sie einst Ost und West getrennt hat. Da liegt es auf der Hand, die Sondersteuer abzuschaffen.

Doch so plausibel das erscheint, so traurig ist eine andere Bilanz: Von einer echten Vollendung der Einheit, einer in den Köpfen und in den Seelen, kann noch immer nicht die Rede sein. Stattdessen gibt es neue Spaltungen. Gräben, die tiefer sind als vor ein paar Jahren. Gemeint sind Verletzungen zwischen Ost und West, die sich bis heute an einer unterschiedlichen Behandlung von Berufen, Karrieren und Ausbildungen, von Renten und Tariflöhnen festmachen. Gemeint ist ein offenkundiges Ungleichgewicht bei der Besetzung von Spitzenposten, obwohl das eine verheerende Wirkung entfaltet. Bis heute werden in Ostdeutschland viele große Institutionen, Behörden, Universitäten, Museen von Westdeutschen geführt, nicht von Kollegen aus dem Osten. Das kann niemand mehr redlich begründen.

Mangelnde Anerkennung und Wertschätzung, mangelndes Einfühlen in andere Lebensgeschichten - das sind die Gefühle, die nicht verschwunden sind, sondern sich heute eher neu ausbreiten. Und über all das hat sich ein zweites Problem gelegt, das wie ein Katalysator wirkt: Das Gefühl, dass sich Politiker und Parteien kaum oder gar nicht mehr um die Probleme und Ängste derer kümmern, die in prekären Landstrichen oder Großstadtbezirken leben und keine lauten Fürsprecher haben.

Hier verläuft der Riss nicht zwischen Ost und West; er trennt im Osten wie im Westen, im Norden wie im Süden Land und Stadt; und er trennt Ärmere und Reiche. Abgehängt sein - das mag wie ein politisches Modewort klingen. Aber wer sich anschaut, wie in bestimmten Regionen der öffentliche Nahverkehr schwindet, die Landärzte aussterben, die Geburtsstationen dichtmachen und bis heute riesige Funklöcher klaffen, der kann gar nicht umhin einzuräumen, dass dieses Deutschland ein Problem hat.

Dort, wo es prekär ist, verwaltet der Staat den Mangel, es fehlen Infrastruktur und gute Schulen, öffentliche Daseinsvorsorge und ein Nahverkehr, der den Menschen Beweglichkeit schenkt, statt sie immer mehr einzuschränken. Wer in diesem Moment etwas so symbolstarkes wie den Solidaritätszuschlag ersatzlos streichen möchte, hat keine Ahnung, was das bei den Betroffenen anrichtet. Menschen, die drauf und dran sind, den Staat als Behörde, als Sicherheitsversprechen und als Garant für die Daseinsvorsorge aufzugeben.

Was also tun, wenn Politik das verhindern möchte? Was machen, um der Wirkung einer Abschaffung des Soli entgegenzutreten? Hier die Antwort: Die Regierung könnte beschließen, den Solidaritätszuschlag neu zu begründen. Sie könnte ihn, so sie echte Courage hat, offensiv in einen Solidarbeitrag für einen gesellschaftlichen Aufbruch umwidmen. Ein Pakt für ein solidarisches Deutschland.

Der Soli sollte nicht mit dem Mauerjubiläum auslaufen

Absurd? Mitnichten. Schon ein kurzer Blick nach Frankreich, nach Großbritannien oder in die USA beweist das. Natürlich ist Deutschland nicht automatisch und erst recht nicht im Detail mit diesen drei Ländern gleichzusetzen. Aber eines lässt sich überall studieren: Wenn Menschen sich über Jahre und Jahrzehnte ignoriert und unberücksichtigt fühlen, werden sie aufbegehren.

Eigentlich hat die Bundesregierung ja längst verstanden, dass etwas passieren muss. Jedenfalls suggeriert das ihre Entscheidung, ein Heimatministerium einzurichten. Wer das für nötig erachtet, kann nicht behaupten, dass diese Heimat in Problemregionen nicht schwer verletzt ist. Und sie wird erst recht nicht glauben machen können, dass sie zum Schutze und zur Wiederherstellung dieser Heimat kein Geld benötigt. Entsprechend wird es gerade in diesen Regionen des Landes niemand verstehen, dass in Berlin viele ausgerechnet ein milliardenschweres Soli-Budget streichen möchten. Für diese Menschen ist nicht das Mauerjubiläum relevant, sondern die Frage, ob sie und ihre Kinder in diesem Leben eine Chance bekommen.

Steinmeier erlebt, wie groß der Graben ist

Wer nicht glauben will, dass dieses Gefühl viel weiter verbreitet ist, als man es beim Wirtschaftswachstum der letzten Jahre denken könnte, sollte sich an die Fersen des Staatsoberhauptes heften. Ausgerechnet Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier reist seit Monaten übers Land, besucht Problem-Stadtviertel und animiert unter der sanften Überschrift "Kaffeetafel" oder "Lasst uns reden" Begegnungen zwischen Menschen, die sich in ihrer Abgrenzung, ihrer Distanz, ihrem Misstrauen selbst kaum mehr etwas zu sagen haben, aber in einem einig sind: dass sie sich von den Parteien, der Politik, denen in Berlin und also auch von der Demokratie abwenden.

Steinmeiers Reise liefert zwar auch versöhnliche Bilder von engagierten Menschen, zum Beispiel in einer deutsch-polnischen Kita. Viel häufiger und intensiver aber erlebt der Bundespräsident nach eigenem Bekunden, wie groß der Graben, wie gering die Hoffnung und wie gravierend die Abwendung von diesem Land in manchen Quartieren schon sind.

Wer den Koalitionsvertrag liest, kann das mit der Soli-Abschaffung kaum glauben

Das Staatsoberhaupt macht, was eigentlich Sache der Bundesregierung sein müsste. Feierlich und mit hehren Worten hatte sie angekündigt, alles zu tun, um einer weiteren Spaltung entgegenzuwirken. Schon in der Präambel des neuen Koalitionsvertrags heißt es: "Wir arbeiten für Stabilität und Zusammenhalt, für Erneuerung und Sicherheit und für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in unserem Land." Außerdem betonen die Koalitionäre, sie würden die besonderen Herausforderungen in Ostdeutschland als "gesamtdeutschen Auftrag" anerkennen - und sie geben sich das Ziel, die Spannungen zu überwinden. "Wir nehmen die Ängste der Menschen ernst und wollen ihnen durch unsere Arbeit umfassend begegnen." Wer das liest, kann kaum glauben, dass dieselbe Koalition im Bündnis mit der FDP den Soli abschaffen möchte.

Und doch: Genau so ist es, und die Sache wird auch dadurch nicht besser, dass auf Drängen der SPD die reichsten zehn Prozent der Gesellschaft von der Abschaffung ausgenommen werden sollen. Die Hauptbotschaft bleibt: Wir wollen ihn loswerden. Und das, obwohl alles, was mit der Einrichtung des Heimatministeriums suggeriert wurde, bis heute nicht eingelöst wurde. Der zuständige Politiker Horst Seehofer hat Debatten um Flüchtlinge und Kriminalität angestoßen. Aber sein Amt als Heimatminister hat er noch nicht einmal richtig angetreten. Keine Signale des Aufbruchs; keine Besuche dort, wo es weh tut. Keine Auftritte, die als ein Werben für eine neue Gemeinsamkeit gelesen werden könnten.

Man muss den Amtseid nicht dauernd zitieren. In diesem Fall aber lohnt es sich, an ihn zu erinnern. Schaden vom deutschen Volk abwenden - darum geht es. Wer diese Aufgabe ernst nimmt, will Menschen wieder ein Zuhause geben. Und zwar auch dort, wo Strukturwandel und eine globale Konkurrenz nicht als Erfolgsgeschichte, sondern als großer Bruch erlebt werden. Dort also, wo Kommunen arm und Länder klamm sind. Hier wäre eine gute öffentliche Versorgung von überragender Bedeutung. Ein großzügiger öffentlicher Nahverkehr; eine garantierte Arztversorgung; besonders gut ausgestattete Schulen, die Familien anlocken; dazu auch mal ein neues Schwimmbad, einen Kletterpark, eine Skatingbahn oder eine Veranstaltungshalle. Bis heute entsteht all das zu oft dort, wo es sowieso schon schön ist. Nötig wäre es an Orten, die seit Langem vergeblich auf eine Aufwertung und einen Neustart warten.

Soli-Abschaffung würde gefährliches Loch reißen

Wer diesen Teufelskreis aufbrechen möchte, muss den Mut haben, einen radikal neuen Impuls zu setzen. Mit einem leidenschaftlich geführten Heimatministerium - und einem neuen Soli, der es möglich macht, dort zu wirken, wo lange nichts Gutes mehr gewirkt hat.

Und Steuersenkungen? Will die Regierung darauf nicht verzichten, hat sie andere und viel bessere Möglichkeiten. Und zwar dort, wo Steuern absurde Züge tragen: bei der kalten Progression. Hier kassiert der Staat per Steuer, was ihm gar nicht zusteht: durch Lohnerhöhungen. Das gefährdet die Akzeptanz des Steuersystems viel mehr als der Soli. Zumal dieser wie kaum eine andere Steuer dafür sorgt, dass der Stärkere mehr trägt als die Schwächeren dies tun: Je mehr man verdient, desto mehr führt man für die gemeinsame Aufgabe ab. Das ist für den Zusammenhalt kein schlechtes Ergebnis.

Deutschland ist am Soli nicht kaputtgegangen. Eher gilt das Umgekehrte: Sollte er jetzt ersatzlos gestrichen werden, würde das ein gewaltiges, mit Blick auf dringendste Aufgaben sogar gefährliches Loch reißen. Und das in einer Zeit, in der alle in der Gesellschaft wissen, dass die Infrastruktur, die Schulen, die Pflege und auch die Bundeswehr in den kommenden Jahren mehr Geld brauchen werden. Man mag sich die Verteilungskämpfe gar nicht vorstellen, sollte der Soli weg sein und die Konjunktur schwächeln.

Denkt den Soli neu

Eines freilich wäre unverzichtbar: Dass die Einnahmen (wie bei einer Abgabe möglich) noch strenger an die Ziele gekoppelt werden. Beim Soli in seiner bisherigen Form ist die Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben (für den 2019 auslaufenden Solidarpakt) über die Jahre immer größer geworden. Nach Berechnungen des Bundesfinanzministeriums belaufen sich die Einnahmen bis heute auf rund 338 Milliarden Euro; die Ausgaben dagegen liegen bei nur 269 Milliarden. Das hat die Akzeptanz des Soli untergraben, ließe sich aber ändern. Wenn man nur will.

Es ist nicht immer einfach, neu zu denken. Auch in diesem Fall wäre es eine mutige Botschaft und ein wichtiger Beleg dafür, dass Politik lernen kann, wenn es sein muss. Lernen aus neuen Gräben und Spannungen, die dieses Land wie schon lange nicht mehr herausfordern. Wer den Mut hat, kann das sehr gut begründen.

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