Süddeutsche Zeitung

So viele Erwerbstätige wie noch nie:Stellenboom mit Kehrseite

Die Beschäftigung in Deutschland erreicht ein Rekordniveau. Das ist eine gute Nachricht, doch Vorsicht: Immer mehr Menschen können trotz Vollzeitjob nicht von ihrer Arbeit leben. Fühlen sich die Menschen in ihrer Würde verletzt, nutzen auch die schönsten Statistikrekorde nichts.

Claus Hulverscheidt

Nach zwei Jahren Euro-Krise klingen die Nachrichten vom deutschen Arbeitsmarkt beinahe wie Märchen aus Tausendundeiner Nacht: Um uns herum bricht die Welt zusammen - und hierzulande eilen die Beschäftigtenzahlen von Rekord zu Rekord. Im Schnitt 41 Millionen Menschen standen 2011 in Lohn und Brot, 535.000 mehr als im Vorjahr. Die Zahl der offenen Stellen stieg im Dezember gar auf den höchsten Stand aller Zeiten.

Zu diesem Erfolg haben alle Beteiligten beigetragen: die Beschäftigten, die ihren Betrieben durch jahrelange Lohnzurückhaltung bei der Wiederherstellung der Konkurrenzfähigkeit halfen. Die Unternehmen selbst, die ihre Strukturen modernisierten und in der Rezession des Jahres 2009 gut ausgebildete Mitarbeiter behielten, statt sie zu feuern. Und, ja, auch die Politiker, die zunächst mit der Agenda 2010 die Verkrustungen auf dem Arbeitsmarkt aufbrachen und später in der Krise mit Hilfe von Konjunkturprogrammen und einer äußerst großzügigen Kurzarbeiterregelung einen Beschäftigungseinbruch verhinderten. Diese Erfahrungen müssen sich die Firmen und Parteien zunutze machen, sollte es im neuen Jahr tatsächlich zu einem neuerlichen wirtschaftlichen Absturz kommen.

Der Stellenboom hat aber auch eine Kehrseite, denn immer mehr Menschen können trotz Vollzeitjob von ihrer Hände Arbeit nicht leben. Daraus sollte man - siehe Linkspartei - nicht ableiten, dass etwa die Zeitarbeit grundsätzlich schlecht wäre. Ignorieren aber darf die Regierung das Problem auch nicht. Vielmehr muss sie handeln, etwa indem sie einen gesetzlichen Mindestlohn einführt. Fühlen sich nämlich die Menschen in ihrer Würde verletzt, nutzen auch die schönsten Statistikrekorde nichts.

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SZ vom 03.01.2012/bbr
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