Situation des Ruhrgebiets:Der Pott verdient mehr Solidarität

Jahresendpaket NRW - Wirtschaft Ruhrgebiet

Das Stahlwerk des Industriekonzerns ThyssenKrupp in Duisburg. Wirtschaftsexperten sind der Meinung, das Ruhrgebiet nutze sein wirtschaftliches Potenzial nicht.

(Foto: Oliver Berg/dpa)

Selbst nach Jahrzehnten des Umbaus ist das Ruhrgebiet ein Sozialfall. Es ist beschämend, was die Landespolitik in NRW seit den Siebzigerjahren zustande gebracht hat.

Essay von Karl-Heinz Büschemann

Zum Ruhrgebiet fällt ein Urteil offenbar leicht. Der Eingeborene hat seine konkreten Erfahrungen, der Fremde kann immer noch auf die von Herbert Grönemeyer geliehene Expertise zurückgreifen. Dem einen erscheint das alte Industriegebiet zwischen Duisburg und Dortmund als erstaunlich grün, dem anderen ist die Region, in der einst Kohleförderung und Stahlindustrie das Leben prägten, noch immer zu verrostet. Manchen gilt das Revier als abgehängt und als Denkmal seiner selbst. Dem nächsten ist es ein Hort von Szene-Avantgarde und Start-up-Kultur.

Keine Frage: Der Pott polarisiert. Hier leben offenbar nur Gewinner oder Verlierer. Dazwischen scheint es nichts zu geben. Und der Pott bewegt auch. Die gut fünf Millionen Menschen in der Großregion haben im kollektiven Gedächtnis der ganzen Republik einen besonderen Platz.

Gerade herrscht Wahlkampf, am kommenden Wochenende wird im bevölkerungsreichsten Bundesland ein neuer Landtag gewählt. Und wenn die Kanzlerin mal eben im Vorbeigehen sagt, NRW werde "deutlich unter Wert regiert", so hat das auch mit dem Aufregerthema Ruhrgebiet zu tun, wo die Arbeitslosigkeit höher ist als im gesamten Land und sich in Deutschland noch immer eine Wunde zeigt. Im Revier, von dem es früher hieß, dort würden die Wahlen entschieden, sagen viele, dass die Landesregierung der Region nicht die Aufmerksamkeit gibt, die sie verdient, um sich von der Vergangenheit erholen zu können. Wenn Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) ebenso lapidar wie selbstzufrieden erklärt: "Das Ruhrgebiet hat mit 2,3 Millionen genauso viele Beschäftigte wie zu den besten Zeiten von Kohle und Stahl", dann klingt das so, als sei das Dauerthema, das gerne mit dem bürokratischen Begriff "Strukturwandel" bezeichnet wird, für sie so gut wie erledigt.

Aber so einfach ist es nicht. Im Süden des Ruhrgebiets, in Essen, Bochum oder Dortmund, sind die Wunden, die das Ende von Kohle und Stahl geschlagen haben, zum großen Teil vernarbt. Im Norden, also in Oberhausen, Bottrop oder Herne, gibt es noch das bedrückende Grau bröckelnder Fassaden und die Furcht vor der Zukunft. Die letzte Zeche des Reviers, Prosper-Haniel in Bottrop, wird erst 2018 schließen. In Gelsenkirchen liegt die Arbeitslosigkeit bei mehr als 14 Prozent.

NRW eignet sich für einen politischen Grundsatzstreit

Das Revier ist auch nach fünfzig Jahren des Umbaus seiner Wirtschaft noch immer ein Sozialfall. Gerade hat die Unternehmensberatung Boston Consulting Group eine Untersuchung vorgelegt, wonach Nordrhein-Westfalen gewaltige Chancen verschenke. "Würde NRW sein wirtschaftliches Potenzial voll nutzen, ließe sich die heutige Wachstumslücke des Bundeslandes gegenüber wirtschaftlich stärkeren Ländern wie Bayern oder Baden-Württemberg schließen", heißt es da. Es ist ernüchternd, dass sich das Ruhrgebiet in einer Trotzreaktion schon seit Mitte der Achtzigerjahre dem Niedergang zu widersetzen suchte und sich "ein starkes Stück Deutschland" nannte. Es hatte seitdem ein paar Jahrzehnte Zeit, immer schwächer zu werden.

Diese Region nährt Zweifel an der Fähigkeit von Politikern, Jahrhundertaufgaben zu stemmen. Deshalb eignet es sich auch für politischen Grundsatzstreit. Ein bayerischer Landespolitiker lässt sich kaum die Gelegenheit entgehen, sich über das lahmende NRW und seine Wirtschaftspolitik zu erheben. Der eigene weiß-blaue Süden wird mit Erfolg, Wachstum und Hochtechnologie gleichgesetzt. Die Düsseldorfer Kollegen stünden für Misserfolg, Krise, Schulden, und stockende Erneuerung der Wirtschaft.

Es ist ein Kreuz mit dem Strukturwandel. Nichts ist offenbar so schwer in den Griff zu bekommen wie die Ablösung einer Technologie durch eine neue. Unternehmen schaffen es nur selten, Brüche zu überstehen, die sich daraus ergeben, dass über Nacht neue Produkte die alten überflüssig machen. Die deutsche Fotoindustrie, die Unterhaltungselektronik oder die Schreibmaschinenhersteller sind Beleg dafür, dass technische Revolutionen scheinbar unverwüstliche Firmen über Nacht in den Ruin treiben können. Am Alten hängen zu bleiben, ist ein zutiefst menschlicher Zug. Unternehmer und Politiker sind gleichermaßen gefährdet, sich den Blick auf die Zukunft zu verstellen. Der sogenannte Rostgürtel in den USA, der sich von den Großen Seen bis an die Ostküste erstreckt, zeigt, dass auch anderswo der Übergang in moderne Zeiten nicht gelungen ist.

Merkel setzte um, was die NRW-SPD nicht übers Herz brachte

Deshalb ist die Häme schwer zu ertragen, mit der Politiker aus dem Süden auf Nordrhein-Westfalen einschlagen. Bayern und Hessen haben jahrelang gegen NRW polemisiert, weil sie als reiche Bundesländer keine Lust mehr haben, im Länderfinanzausgleich die armen Bundesländer zu alimentieren. "Der Länderfinanzausgleich belohnt das Nichtstun", polemisiert der Zuspitzer und Bayern-Finanzminister Markus Söder (CSU).

Offenbar haben die Bayern schon vergessen, dass auch sie einmal arm waren und vom einst reichen Nordrhein-Westfalen bezuschusst wurden. Und längst nicht alles, was in Bayern heute gut läuft, geht auf die segensreiche Hand der weiß-blauen Staatsregierung zurück. Der Freistaat profitierte nach dem Krieg glücklich davon, dass der Siemens-Konzern seine Konzernzentrale von Berlin nach München verlegte und andere Technologiefirmen nach sich zog. Zu dem Glück gehört auch, dass Bayern kaum alte Industrien begraben musste. Bayerns ökonomischer Aufstieg geschah buchstäblich auf der grünen Wiese.

Wo die Not nicht endet, werden weiter die Retter gebraucht

Dennoch ist die Kritik der Südpolitiker an NRW nicht völlig falsch. Es ist beschämend, was die Düsseldorfer Landespolitik zustande gebracht hat, obwohl schon in den Siebzigerjahren klar war, dass es mit Kohle und Stahl zu Ende gehen wird. Die Filz-Koalition von SPD und Bergbaugewerkschaft, die das Land mit Ausnahme der fünf Jahre von 2005 bis 2010 praktisch seit Mitte der Sechzigerjahre führt, hat den nötigen Umbau der Wirtschaft systematisch verhindert; oft in schöner Einigkeit mit der Bundesregierung. Ging es der Kohle schlecht, wurden Subventionen bezahlt, kam der Stahl in die Krise, mussten die Steuerzahler helfen. Das überfällige politische Ende der Kohle und die Schließung der letzten Zeche wurde erst vor rund zehn Jahren von Kanzlerin Merkel besiegelt. Die ostdeutsche Kanzlerin und ihre CDU setzten um, was die im Revier so tief verwurzelten Sozialdemokraten jahrzehntelang nicht übers Herz brachten.

Es ist das ewige Dilemma der fürsorglichen Politik. Schützt man die Menschen mit staatlichem Geld vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, haben Herz und Moral gewonnen. Doch die qualvolle Anpassung wird damit verlängert. Lässt man aber Menschen und Region abstürzen und leitet mit kaltem Kalkül den Umbruch ein, sind für einige Zeit vor allem Not und der Verlust von Arbeitsplätzen die Folge. Eine kaum erträgliche Konsequenz. Doch die Realität an der Ruhr zeigt, dass dort, wo die Zechen am längsten künstlich am Leben gehalten wurden, die Not der Regionen heute am größten ist.

Vom freundlichen Landesvater Johannes Rau (SPD) bis zur heutigen Ministerpräsidentin Kraft haben sich Heerscharen von Politikern dem Wandel an der Ruhr bremsend in den Weg gestellt. Und man wird das Gefühl nicht los, dass es sich für die SPD und die mit ihr befreundeten Helfer aus Wohlfahrtsverbänden und Gewerkschaften sogar lohnt, mit dem Strukturwandel nicht weiterzukommen. Wo eine Partei wie die SPD trotz mangelhafter Erfolge immer wiedergewählt wird, drängt sich der Verdacht auf, auch Erfolglosigkeit kann ein politisches Erfolgsrezept sein. Wo die Not nicht endet, werden weiter die Retter gebraucht.

Das Ruhrgebiet legte sich für die Bundesrepublik krumm

Wer sich über das Versagen der Düsseldorfer Landespolitiker erregt, sollte aber auch anerkennen, dass hier ein Jahrhundertwandel vor sich geht. Dieser Landstrich hat in den vergangenen 200 Jahren Gewaltiges geleistet, um ganz Deutschland den Aufstieg zur Industrienation zu ermöglichen. Der begann mit Unternehmerfamilien wie den Haniels und den Krupps, die im 18. und 19. Jahrhundert das waren, was heute die Silicon-Valley-Wunderkinder sind. Dass die Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg schnell wieder auf die Beine kam, lag am Ruhrgebiet, das sich für die gesamte Republik krummlegte und auch das heute so ungnädige Bayern mit Energie versorgte. Das Opfer, das diese Region brachte, bestand nicht nur aus Dreck und Gestank in der Luft. Auch der Boden hat sich im Laufe der Zeit gesenkt und die Landschaft wurde verändert. Das Ruhrgebiet wäre heute ein von Duisburg bis Dortmund reichender Binnensee, würden die Grundwassermassen nicht pausenlos abgepumpt.

Es ist leicht, sich im politischen Tagesgeschäft und in Wahlkämpfen über die politischen Fehler von Düsseldorf oder Berlin zu erregen. Es ist wohlfeil, sich über die zu erheben, die gerade nicht von einem historischen Glück profitieren und mit Mühe die Altlasten aus jahrhundertelanger Schwerindustrie beseitigen müssen und zugleich Wege weisen sollen in die Industrie der Zukunft. Für einen solchen Strukturwandel, wie er an der Ruhr notwendig ist, gibt es kein Rezeptbuch. Deshalb verdient das Ruhrgebiet mehr Solidarität. Die Aufräumarbeiten in einer Region, die ungefähr so viele Einwohner hat wie Irland oder Finnland, sind mehr als Regionalpolitik. Sie sind eine nationale Aufgabe. Trotz aller Fehler in Düsseldorf - oder gerade deswegen.

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