Süddeutsche Zeitung

Siemensstadt Berlin:Grün und smart

Siemens hat seine Wurzeln in Berlin wiederentdeckt - und will in Spandau ein ganzes Quartier bauen.

Von Steffen Uhlmann

Arbeitswelt, Wohnwelt, Bildungswelt, Forschungswelt - alles in einem. Eine Welt, die smart organisiert ist und klimaneutral funktioniert. So soll die "Siemenssatdt" aussehen, die der Konzern in Berlin auf einer Fläche plant, die für 100 Fußballfelder reichen würde.

Mit dem Projekt wollen die Initiatoren auch zeigen, dass Berlin an eine längst vergangene Tradition anknüpfen kann, die die Stadt vor mehr als 100 Jahren glanzvoll zur "Elektropolis" aufsteigen ließ. Eine Reihe von schnell wachsenden Großbetrieben sorgte damals dafür, dass Berlin zum Zentrum der deutschen und europäischen Elektroindustrie wurde. An der Spitze Siemens & Halske, das sich zwischen dem 1920 eingemeindeten Ortsteil Spandau und dem alten Berliner Stadtbezirk Charlottenburg ansiedelte, dort zur Blütezeit 70 000 Arbeitskräfte beschäftigte und damit den Aufstieg des Areals zur Großsiedlung Siemensstadt möglich machte. In jenen Jahren des Wachstums waren Industrie und Wohnen noch streng voneinander getrennt. Die Grenze markierte dabei die vom Konzern 1929 angelegte Siemensbahn, eine der ersten elektrisch betriebenen S-Bahnen der Stadt.

Prägender Architekt von Industrie- wie Wohnbauten auf dem konzerneigenen Gelände war damals Siemens-Hausarchitekt Hans Hertlein, der im Industrieteil mit Gebäuden wie dem Schaltwerk-Hochhaus Beispiele für eine neue sachliche Industriekultur schuf. Das Schaltwerk etwa war das erste mehrgeschossige Fabrikgebäude in Europa, 75 Meter hoch und 175 Meter lang. Auf der anderen Seite der Bahnstrecke schuf Hertlein Wohnsiedlungen im "Stile des neuen Bauens". Zu diesen Siemens-Werkswohnungen gesellten sich bald weiter östlich unter kommunaler Aufsicht und Planung mehrere Wohnanlagen, an deren Entwicklung und Bau Großarchitekten wie Hans Scharoun und Walter Gropius mitwirkten. Das Ensemble macht die eigentliche Großsiedlung "Siemensstadt" aus und zählt seit 2008 zum Unesco-Weltkulturerbe "Berliner Siedlungen der Moderne".

"Hoch zwei" - oder lieber "Siemensstadt Square"?

So viel Geschichte, und jetzt auch wieder Zukunft, seitdem sich der Siemens-Konzern wieder aktiv zu seinen Berliner Wurzeln bekennt und auf dem alten Betriebsgelände das Stadtquartier errichtet. Seit Anfang März hat es auch einen Namen: "Siemensstadt²", ausgewählt nach einer öffentlichen Abstimmung, an der sich im Netz fast 7500 Interessierte beteiligt hatten. Favorisiert hat man bei Siemens aber nicht "hoch zwei", sondern die englische Variante "Siemensstadt Square". Das sei auch ein Verweis auf den zentralen Platz (englisch square), der im Herzen des neuen Stadtquartiers entstehen wird, heißt es beim Unternehmen.

Siemens wird für seinen Berliner Campus tief in die Tasche greifen. Bis zu 600 Millionen Euro nimmt man in die Hand. Neben dem Campus sind auch mehr als 2700 Wohnungen, eine Europa-Schule, zwei Kitas, ein Hotel und Flächen für Einzelhandel und Gastronomie geplant. Die Entwicklung des 70 Hektar großen Areals, das zu mehr als 60 Prozent unbebaute Flächen enthält, wird Siemens nicht allein realisieren. Die 600 Millionen Euro fließen laut Stefan Kögl, Generalmanager des Siemensprojekts, vorrangig für Produktions- und Verwaltungsbauten sowie für Forschungsvorhaben. "Für die städtische Entwicklung aber brauchen wir Partner wie Firmen, die sich ansiedeln wollen, Immobilienentwickler oder auch kommunale Wohnungsbaugesellschaften", sagt er. "Und nicht zuletzt sollen weitere Start-ups und junge innovative Firmen angesiedelt werden." Kögl schätzt, dass zu den aktuell 7000 Jobs der Berliner Siemens- und Siemens-Energy-Beschäftigten etwa 20 000 Nicht-Siemens-Arbeitsplätze entstehen könnten und in die Gesamtentwicklung von Campus und Stadtquartier mehr als drei Milliarden Euro fließen müssen.

"Ende 2022 soll Baustart sein", sagt Kögl. "Und Anfang des neuen Jahrzehnts wird nach vorläufigen Planungen ein Gutteil des Projekts fertiggestellt sein." Womit auch gesagt ist, dass mit dem Gesamtprojekt noch viele Fragezeichen verbunden sind.

Antworten suchen die Investoren zunächst auf die Frage, wie die Menschen in 20, 30 oder 40 Jahren arbeiten und wohnen wollen - und welche Notwendigkeiten sich daraus für das geplante Stadtquartier ergeben. Deshalb hatten Siemens und das Land Berlin im Sommer 2019 fast 20 Architektur- und Stadtplanungsbüros zum städtebaulichen Wettbewerb geladen. Anfang September 2020 wurde das vom deutsch-österreichischen Architekturbüro Ortner & Ortner Baukunst eingereichte Städtebaukonzept von der Jury einstimmig zum Siegerentwurf bestimmt.

Markus Penell, einer der Autoren des Masterplans, erhofft sich von dem neuen, weitgehend autofreien Quartier einen "sehr vitalen Schmelztiegel" unterschiedlicher Welten, inklusive Bewegungswelten mit Fahrrädern, Rikschas, Shuttles und der S-Bahn - "einfach mit allem", so Penell, "was die öffentlichen Bereiche animiert und belebt". Der Masterplan sieht die Bebauung eine Bruttogrundfläche von knapp einer Million Quadratmetern vor. Gut ein Viertel der Fläche ist für Wohnnutzung reserviert, fast die Hälfte für Büros und Gewerbe. Knapp ein Fünftel bleibt der direkten Produktion vorbehalten, auf dem Rest entstehen Forschungseinrichtungen und Infrastrukturbauten. Für den Bau sollen vorrangig Öko-Materialen wie etwa recyclebarer Beton oder komplette Holzkonstruktionen verwendet werden.

Die Herausforderung dabei ist, alte und denkmalgeschützte Bauten mit der neuen Gebäudewelt zu verbinden. Der Siemens-Generalmanager verweist hier auf den Entwurf für die Gestaltung des Eingangsbereichs des Campus, der vom Berliner Architekturbüro Robertneun stammt. Auch die Berliner hatten sich mit ihrer Hochbauarbeit in einem extra dafür ausgelobten Architektenwettbewerb durchgesetzt. Dabei gefiel der Jury besonders, dass der Gewinnerentwurf mit seinem rund 60 Meter hohen Holzhybrid-Hochhaus, einem Hofgebäude sowie einem Info-Pavillon die historischen und denkmalgeschützten Bestandsgebäude ergänzt. Im Inneren des neuen Hofgebäudes soll ein Atrium die Besucher im öffentlich zugänglichen Stadtgeschoss empfangen. Die Idee des offenen Stadtgeschosses findet sich auch beim Hochhaus wieder. Zudem haben beide Gebäude öffentlich zugängliche Dachterrassen. Vom Eingangsbereich wiederum führt ein begrünter Boulevard in den künftigen Stadtteil.

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