Heinrich von Pierer ist inzwischen 81 Jahre alt, und da will man eigentlich seine Ruhe und keinen Ärger mehr haben. Darauf hat der einstige Vorstandschef von Siemens, einem der deutschen Industriegiganten, aber lange warten müssen. Er war wegen der Schmiergeldaffäre der Siemens AG, die vor eineinhalb Jahrzehnten weltweit Schlagzeilen gemacht hatte, in Griechenland angeklagt gewesen. Das Verfahren, das von Anfang an zweifelhaft gewesen war, hat sich lange hingezogen und endete erst jetzt. Mit einem Freispruch, worüber Pierer sehr erleichtert ist.
Vor drei Wochen war Pierer, der ehedem als "Mr. Siemens" galt, sogar selbst noch beim Landesgericht in der griechischen Hauptstadt Athen gewesen. Und hatte sich dort ausführlich und eingehend gegen eine Verurteilung in ersten Instanz gewehrt. Der Tag bei Gericht soll freundlich und höflich verlaufen sein. Selbst die Staatsanwältin soll dann auf Freispruch plädiert haben.
Pierer war als Angeklagter Nummer acht der prominenteste Beschuldigte in einem riesigen Verfahren um Schmiergeldzahlungen von Siemens in Athen gewesen, mit mehreren Dutzend Beschuldigten aus Deutschland und vor allem Griechenland. Dort hatte sich Siemens auf schmutzige Art und Weise Aufträge der nationalen Telefongesellschaft OTE gesichert. Die Anklage gegen Pierer hatte aber nur den pauschalen Vorwurf der Bestechung enthalten; nichts Konkretes und schon gar nichts Neues im Vergleich zu den deutschen Ermittlungen.
Die Staatsanwaltschaft München I hatte im Herbst 2006 ein riesiges System von schwarzen Kassen und weltweiten Schmiergeldzahlungen bei Siemens enthüllt und anschließend quer durch den Konzern ermittelt, bis hinauf in den Vorstand. Pierer musste 250 000 Euro Bußgeld zahlen. Aber nicht etwa wegen Korruptionsdelikten, sondern wegen Vernachlässigung seiner Aufsichtspflichten. Damit wäre für den einstigen Vorstands- und späteren Aufsichtsratschef eigentlich der Fall erledigt gewesen. Zumal die griechischen Behörden bei Pierer auch nichts anderes gefunden hatten als die Münchner Staatsanwaltschaft.
Dass nach europäischen Grundsätzen niemand wegen einer Sache zweimal verfolgt werden darf, spielte für die griechische Justiz aber keine Rolle, worüber die SZ schon früher berichtet hatte. Pierer wurde wie viele andere frühere Siemens-Manager angeklagt und Ende 2019 in ersten Instanz sogar zu einer Haftstrafe verurteilt, allerdings auf Bewährung. Er musste also nichts ins Gefängnis, und legte Berufung ein. Mit Erfolg. Nach Angaben von Pierer hat das Landesgericht angebliche Taten bis 2002 für verjährt erklärt. Und die angeblichen Taten von 2002 bis 2005 gab es nach Überzeugung des Gerichts gar nicht. Weshalb Pierers Anwalt nach der Urteilsverkündung von einem "Freispruch erster Klasse" sprach.
Siemens selbst hatte bereits vor zehn Jahren einen außergerichtlichen Vergleich in Athen erreicht und darin unter anderem auf die Begleichung griechischer Schulden verzichtet und versprochen, Arbeitsplätze in Hellas zu fördern.
Pierer wiederum hatte die Schmiergeldaffäre im Frühjahr 2007 sein Amts als Aufsichtsratschef bei Siemens gekostet. Große Teile des Kontrollgremiums wollten damals den Konzern personell neu aufstellen und tauschten auch fast den kompletten Vorstand aus. Das Landgericht München I wiederum verurteilte Mitte 2008 einen Verwalter der schwarzen Kassen bei Siemens zu einer Gefängnisstrafe auf Bewährung.
Der Vorsitzende Richter Peter Noll hielt dem verurteilten Siemens-Manager zugute, er sei nur ein "Rädchen im System" gewesen. Noll nutzte die Urteilsverkündung, um mit der früheren Konzernspitze um Pierer abzurechnen. Nahezu alle Kontrollinstanzen und die "gesamte Organisation" bei Siemens seien darauf abgestellt gewesen, schwarze Kassen und Korruption zu ermöglichen. Der Richter sprach von einem "weithin erodierten Rechtsbewusstsein" bei Siemens.