Wie sie sich fühlen? Andreas Schulze, 41, und Magdalena Schulze, 35, fassen es in drei Wörtern zusammen: "Verraten und verkauft". Das hat auch etwas mit dem Bild zu tun, das an der Küchenwand hängt. Darauf ist das Ehepaar mit den beiden Töchtern zu sehen, im Hintergrund der glänzende Rotor einer Dampfturbine, wie sie Siemens in seinem Werk in Görlitz baut. Das Foto ist Ende September entstanden. Die Werksleitung hatte alle Mitarbeiter und ihre Familien anlässlich eines Jubiläums eingeladen. Für die Kinder gab es eine Hüpfburg, sie durften mit der Hebebühne fahren und sich Süßigkeiten von einer der Turbinen herunter holen. Das Ehepaar Schulze sah darin ein Dankeschön an die Mitarbeiter.
Wochen später der Schock: Siemens will bis zu 6000 Stellen abbauen, drei Werke in Ostdeutschland sollen dicht gemacht werden. Allein in Görlitz könnten laut Betriebsrat 950 Beschäftigte ihre Arbeit verlieren. Gerüchte über die Schließung gab es seit Mitte Oktober. Die Schulzes erfuhren davon aus der Zeitung. Von der Werksleitung hörten sie keinen Mucks. Erst vergangenen Donnerstag erhielten die Mitarbeiter eine offizielle Mail. Die Gerüchte stimmten. Die Art der Kommunikation bezeichnet Andreas Schulze als "unfassbar".
Bernd Lange, Landrat im Landkreis Görlitz:Siemens-Management soll "selbst den Hintern heben und nach Görlitz kommen"
Im Landkreis Görlitz in Sachsen könnten die Siemens-Pläne bis zu 2000 Arbeitsplätze kosten - in einer ohnehin strukturschwachen Gegend. Landrat Bernd Lange rätselt, warum Siemens das Werk in Görlitz schließen will.
Siemens - für die Schulzes war das nicht nur ein Unternehmen, sondern eine Familie, auch davon zeugt das Foto an der Küchenwand. Das Ehepaar ist über lange Zeit in diese Familie hineingewachsen: Magdalena Schulze machte im Görlitzer Werk 2000 eine duale Ausbildung. Sie arbeitet seit mehr als zehn Jahren für den Konzern. Ebenso ihr Mann. Ohne Siemens hätten sich die beiden Diplomingenieure vielleicht nie kennengelernt. Zwischen ihnen funkte es 2006 auf einer Konferenz in Köln. Ein Paar wurden sie in Südkorea, wo sie für Siemens ein Kraftwerk bauten. Sie reisten durch die Welt, betreuten Baustellen in Südafrika, Aserbaidschan oder Italien.
2009 ließ sich das Paar in Görlitz nieder. In der sächsischen Stadt, direkt an der polnischen Grenze, wurden Ingenieure gesucht. Sie bauten ein Haus im Süden der Stadt. Der Kredit ist noch nicht abbezahlt. Um sie herum wohnen viele Kollegen, der Freundeskreis besteht fast nur aus Siemensianern, wie sich die Mitarbeiter stolz nennen. Magdalena Schulze ist gerade im achten Monat schwanger. Auch das dritte Kind sollte eigentlich in den betriebseigenen Kindergarten "Turbinchen" gehen. "Wir wollten uns hier eine schöne Zukunft aufbauen - jetzt ist da nur ein schwarzes Bild", sagt Magdalena Schulze. Sie ist derzeit krankgeschrieben. Die vielen schlaflosen Nächte haben ihr die Kraft geraubt.
"Wir haben unseren Soll übererfüllt"
Was die Schulzes und viele Siemensianer nicht verstehen, ist die Erklärung, mit der Siemens die Schließung des Werks begründet: Aufgrund des Trends zu erneuerbaren Energien brauche es kleinere, dezentralere Kraftwerke. Gas- und Dampfturbinen fänden nicht mehr den gewünschten Absatz. In Görlitz lässt Siemens jedoch Industriedampfturbinen bauen, die in den vergangenen Jahren auf die Nachfrage hin angepasst wurden. Ingenieure wie das Ehepaar Schulze entwickelten Turbinen, die auch bei Biomasse-Anlagen sowie in der Solarthermie zum Einsatz kamen. "Wir haben unseren Soll übererfüllt", sagt Andreas Schulze. Die Auftragsbücher seien voll gewesen.
Er vermutet, dass Siemens Werkschließungen im Osten billiger kommen. Zwar zahlt Siemens auch hier nach Tarif, die Gehälter sind jedoch geringer als im Westen. Ähnlich würde es sich mit den Abfindungen verhalten, die Siemens im Zuge der Schließung zahlen müsste. Hinzu kommt, dass Gewerkschaften wie die IG Metall im Osten schlechter vernetzt sind als etwa im Ruhrpott. Siemens rechnete offenbar mit geringerem Widerstand.
Doch seit Bekanntwerden der Schließungspläne gab es mehrere Protestaktionen vor den Toren des Werkes. Die gesamte Stadt solidarisiert sich mit den Siemensianern. In Geschäften und Bäckereien liegen Unterschriftenlisten aus. "Wir geben nicht auf", der Satz ist überall zu hören. Die Görlitzer wissen, dass es auch um die Zukunft ihrer Stadt geht. Sie haben erlebt, wie nach der Wiedervereinigung die Zahl der Einwohner sank und die der Arbeitslosen stieg. Allein in der Stadt liegt die Quote derzeit bei 13 Prozent.
Doch Görlitz hat auch von der Wende profitiert. Die Stadt mit dem mittelalterlichen Stadtkern wurde liebevoll restauriert und war nicht nur ein Magnet für Touristen, sondern auch beliebt in der Filmbranche. Derzeit dreht die ARD einen Krimi mit Yvonne Catterfeld in Görlitz. Die Stadt mit ihren herausgeputzten Fassaden und Industriebrachen ist aber auch beliebte Kulisse bei Hollywood. In den vergangenen Jahren hat sich die Kulisse auch wieder mit Leben gefüllt, die Einwohnerzahl ist leicht angestiegen auf 56 521, auch weil sich große Arbeitgeber wie Siemens oder der Zug-und Flugzeughersteller Bombardier hier ansiedelten. Es gibt viele Familien in der Stadt, neue Schulen sowie ein Kindergarten sind in Planung. All das ist jetzt in Gefahr.
Stellenstreichungen:Siemens hat gerade in Sachsen eine politische Verantwortung
Der Konzern muss auf die Energiewende reagieren. Doch nach einem solchen personellen Kahlschlag kann sich die öffentliche Meinung schnell weiter radikalisieren.
Wenn Siemens zumacht, dann trifft das auch die Zulieferer. Bis zu 2000 weitere Stellen sind dann bedroht. Steigende Arbeitslosigkeit aber auch Abwanderung, davor fürchten sich alle in Görlitz. Vergleichbare Arbeitgeber gibt es nicht in der sonst sehr strukturschwachen Region.
Stadt und Land appellieren deswegen an die Politik. Schon vor Wochen hat Bürgermeister Siegfried Deinege einen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel geschrieben. Doch in Berlin hat man derzeit andere Probleme als ein von Schließung bedrohtes Siemens-Werk in Görlitz. Dabei geht es hier auch um die langfristige politische Verfassung der Region. Bei der letzten Bundestagswahl gewann hier die AfD ein Direkt-Mandat. Einige schieben die hohe Zustimmung auch auf Unsicherheiten, die durch die Schieflage von Bombardier entstanden sind. Dort zittern gerade 2000 Mitarbeiter um ihren Job. Ihnen wurde lediglich zugesichert, dass es bis Ende 2019 keine betriebsbedingten Kündigungen geben soll. Wie es dann weiter geht, bleibt jedoch unklar.
Die Siemensianer hoffen auf ein Verantwortungsgefühl
Auch unter den Mitarbeitern von Bombardier gibt es jetzt große Unterstützung für die Siemensianer. Die wollen für den Erhalt ihres Standortes kämpfen. Am Donnerstag reisen sie nach Berlin. Dort treffen sich die Betriebsräte zu Beratungen. Tausende Demonstranten werden erwartet. Andreas Schulze wird auch dabei sein.
Er und seine Frau haben bereits darüber gesprochen, was die Werkschließung für sie bedeuten könnte. Wegziehen kommt nicht infrage, sie sind mittlerweile zu stark in der Region verwurzelt. In Görlitz wohnen Magdalena Schulzes Eltern, die immer einspringen, wenn etwas mit den Töchtern ist. Wie sollte das fernab der Heimat gehen, wenn jetzt auch noch das dritte Kind kommt? Dass beide in den Westen pendeln? Auch schwierig. Einer müsste sich also zurücknehmen, einen schlechteren Job in der Region annehmen, zugunsten der Kinder. "Wir haben eine Verantwortung übernommen, als wir uns entschlossen haben, eine Familie zu gründen", sagt Andreas Schulze.
Auf das gleiche Verantwortungsgefühl hofft er jetzt auch bei Siemens, auf einen Kompromiss. Derzeit sieht es bei der Konzernleitung nicht danach aus. Bisher gibt es keinerlei Reaktion auf die Proteste. Sollte das Unternehmen bei der Schließung bleiben, gibt es für die Schulzes nur einen Weg: Sie müssen die Siemens-Familie verlassen. Womöglich für immer.