Das Gespräch findet im Besprechungsraum von Roland Busch, 56, statt, mit Abstand, immer ein Sitz bleibt frei. Der promovierte Physiker führt bereits die Geschäfte, mit der Hauptversammlung am 3. Februar 2021 übernimmt er auch offiziell den Vorstandsvorsitz von Joe Kaeser, 63, der Siemens nach über 40 Jahren verlässt. Zeit für eine Bilanz.
SZ: Herr Kaeser, wegen Corona können Sie bei der Hauptversammlung Anfang Februar 2021 nun keine große Abschiedsparty feiern. Alles wird virtuell stattfinden. Nach 40 bewegten Siemens-Jahren, ohne Party, ohne Glamour?
Joe Kaeser: Das ist doch gut so, ich brauche keinen Glamour zum Abschied.
Können Sie nach 40 Jahren überhaupt loslassen? Es gibt da diese Zeilen in dem Stück "Hotel California" Ihrer Lieblingsband Eagles : "You can check out any time you like, but you can never leave." Könnte bei Ihnen genauso laufen: Sie checken im Februar aus, aber Sie gehen nicht wirklich.
Kaeser: Wenn man 40 Jahre, also zwei Drittel seines Lebens, für ein Unternehmen gearbeitet hat, dann ist es normal, dazu auch eine starke Verbundenheit zu verspüren. Und es ist besonders erfreulich zu sehen, dass die Firma danach in guten Händen ist.
Herr Busch, damit meint er Sie. Wann war Ihnen klar, dass es ausgerechnet auf Sie zuläuft?
Roland Busch: Spät. Ich hatte nie einen festen Plan, sondern habe die Aufgaben übernommen, die sich ergeben haben - immer mit vollem Engagement und mit viel Herz. Viele Schritte waren eher fremdbestimmt, wie zum Beispiel meine Ernennung zum Strategiechef. Aus heutiger Perspektive zurückgeschaut, war es gut, diese Breite und die tiefen Einblicke ins Unternehmen zu bekommen.
Wie lange kennen Sie sich eigentlich schon?
Kaeser: Ich kenne Roland, seit ich Strategiechef war und damals an den Sitzungen des Zentralvorstands teilnehmen durfte. Das war 2004, damals gab es große Aufregung, weil Navigationsgeräte für einen deutschen Automobilkunden, die wir damals noch herstellten, nicht richtig funktionierten. Der Kunde tobte. Es gab eine Sondersitzung des Zentralvorstands dazu, alle redeten durcheinander. Der Einzige, der die Ruhe behielt und durchblickte, war ein gewisser Herr Busch, der zusammen mit dem damaligen Bereichsvorstand vorsprechen musste.
Also schon damals ein Kandidat für den Job?
Kaeser: 2007 gab es erneut großes Theater, damals mit Zügen für die Deutsche Bahn. Da kam wieder ein gewisser Busch, der wusste, was zu tun und was vernünftig ist, und der sich auch nicht aus der Ruhe bringen ließ. Daran erinnerte ich mich, als wir später einen neuen Strategiechef suchten. Ich sagte damals: Schaut euch den mal an. Denn mir war nach den Eindrücken klar: Aus dem wird mal was werden.
Und Sie haben in all den Jahren nie über Kreuz gelegen bei irgendeinem Thema?
Kaeser: Gute Frage. Roland, fällt dir was ein?
Busch: Als ich noch Strategiechef war, gab es mal eine Vorlage für den Kauf einer anderen Firma. Ich war sehr dafür, das zu tun, und du dagegen.
Kaeser: Ich war damals Finanzchef, und Finanzchefs sind immer etwas vorsichtiger mit dem Geld... (lacht).
Herr Busch, wenn Ihr Vorgänger Siemens in den vergangenen Jahren nicht in seine Einzelteile zerlegt und die Gesundheits- und Energiesparte, Siemens Healthineers und Siemens Energy, an die Börse gebracht hätte, dann wären Sie Chef eines viel größeren Konzerns als jetzt.
Busch: Die schiere Größe ist nicht der Punkt. Wenn Joe sagt, dass er damals angetreten ist, um seinem Nachfolger ein besseres Unternehmen zu hinterlassen, dann kann ich nur sagen: Das ist ihm gelungen. Wir sind heute besser aufgestellt als vor ein paar Jahren.
Joe Kaeser hatte bei seinem Amtsantritt vor sieben Jahren gesagt, dass er Ruhe in den Konzern bringen wollte. Stattdessen hat er das Unternehmen halbiert. Wird es jetzt unter Ihnen ruhiger?
Busch: Keineswegs. Weil sich gerade alles gigantisch verändert - Technologien, Kunden, die Wettbewerber. Das erfordert ein hohes Maß an Veränderungen auch bei uns. Aus dieser Transformation als Gewinner hervorzugehen ist unsere nächste Aufgabe.
Aber würden Sie den Weg Ihres Vorgängers denn weitergehen?
Busch: Die wichtige Neuaufstellung von Siemens mit den drei eigenständigen und fokussierten Firmen der Siemens AG, Siemens Energy und Siemens Healthineers ist erfolgreich abgeschlossen. Ich glaube, dass wir als Siemens AG aber auch eine gewisse Größe brauchen, um mit den führenden IT-Firmen auf Augenhöhe zu sprechen und ein wettbewerbsfähiges, gewichtiges Ökosystem aufzubauen.
Wer sind denn jetzt eigentlich die großen Wettbewerber der alten Siemens AG?
Busch: Wir werden künftig ein fokussiertes Technologie-Unternehmen sein. Sind wir damit vergleichbar mit den großen IT-Konzernen aus den USA? Eher nicht. Unsere einzigartige Stärke ist die Verbindung der realen mit der digitalen Welt für Infrastruktur, Industrie und Mobilität: Wir machen nicht nur Software, sondern auch Hardware, und verbinden diese beiden Welten miteinander. Und wir arbeiten für andere Unternehmen, nicht für Endkunden. Das unterscheidet uns von Microsoft, Apple oder Google.
Können Sie sich Übernahmen vorstellen? Die Zeiten sind doch günstig.
Kaeser: Sie sind vor allem günstig für Verkäufer. Die Unternehmensbewertungen sind gerade extrem hoch.
Busch: Aber natürlich schauen wir uns immer um. Dabei geht es nicht darum, ob ein Unternehmen groß oder klein ist - es muss für die Weiterentwicklung von Siemens passen.
Herr Kaeser, ist es nicht ein bisschen schade, dass Sie bei solchen Zukunftsplanungen jetzt nicht mehr dabei sind?
Kaeser: Nein, je mehr ich zuhöre, desto mehr freue ich mich. Der Zeitpunkt meines Ausscheidens ist genau richtig! Für mich ist es ein Glücksfall, wenn man Leute hat, die von verschiedenen Themen mehr verstehen als man selbst. Jetzt geht es um Digitalisierung, da muss man schon sehr tief einsteigen. Und die industrielle Digitalisierung ist sehr komplex - wer da schiefliegt, hat ein Problem. Roland Busch ist für die jetzige, neue Siemens AG der bessere Chef. Das darf man wirklich so sagen.
Haben wir das richtig verstanden: Ihr Kollege Busch gilt eher als Mann für die technologischen Details, also die Tiefe. Und Sie eher als derjenige, der das große Ganze im Blick hat.
Kaeser: (lacht) Ich weiß schon, worauf Sie hinauswollen, aber ich sage Ihnen gleich: Roland hätte das andere auch machen können. Aber er steigt eben technisch tief in die Themen ein, da muss ich irgendwann aussteigen.
Braucht man denn jetzt jemanden, der alle technischen Details genau durchschaut? Siemens scheint doch gerade ein besenreines Haus zu sein.
Kaeser: Ich weiß nicht, ob man Unternehmen überhaupt jemals als besenrein bezeichnen sollte. Aber wenn: Auch besenreine Häuser kann man wunderbar neu ausstatten und damit wertvoller machen.
Herr Kaeser, spüren Sie da nicht zumindest ein bisschen Wehmut?
Nein, eigentlich nicht. Ich wundere mich über mich selbst. Wir haben gemeinsam schon viel erreicht, auch wenn vielleicht nicht alles gelungen ist. Als ich 2013 Vorstandsvorsitzender wurde, habe ich mir zwei Dinge vorgenommen. Erstens: Ich wollte das Unternehmen in einem besseren Zustand weitergeben, als ich es übernommen hatte. Zweitens wollte ich einen geordneten Übergang auf meinen Nachfolger oder meine Nachfolgerin gestalten. Es hatte mich damals schon sehr mitgenommen, dass der Übergang des Chefpostens von Peter Löscher auf mich so ungeordnet lief, und das zum zweiten Mal in kurzer Zeit bei Siemens. 2006 war es ja auch sehr schwierig - in der Compliance-Krise, wie wir immer so vornehm sagen.
Wie heißt es denn richtig?
Kaeser: Na ja, es war die größte bekannt gewordene Bestechungsaffäre nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland. Damals ging Klaus Kleinfeld, und Peter Löscher kam - in sehr unvermittelter Weise. Und 2013 gab es dann - diesmal aufgrund wirtschaftlicher Probleme - wieder einen ungeplanten Chefwechsel...
Sie wurden Vorstandschef, und Herr Löscher musste quasi über Nacht gehen.
Kaeser: Ich habe mir jedenfalls vorgenommen: Mir passiert so etwas nicht, auch wenn grundsätzlich natürlich der Aufsichtsrat diesen Prozess verantwortet. Ich finde, wir haben diesen Übergang jetzt ungewöhnlich gut hinbekommen. Das erfordert viel gegenseitiges Vertrauen. Ich freue mich, dass uns das so gut gelungen ist.
Wie regelt man das untereinander? Gibt es da Verhaltensregeln oder unausgesprochene Gesetze?
Busch: Da sind zehn Prozent geregelt und 90 Prozent unausgesprochen. Wir haben viele Jahre miteinander gearbeitet, wir können uns gegenseitig sehr gut einschätzen, das Vertrauen und der Respekt sind da. Es gibt keinen großen Masterplan dahinter.
Kaeser: Absolut! Wir mussten vor allem sicherstellen, dass es bei den Mitarbeitern keine Loyalitätskonflikte gibt, und dafür hatten wir natürlich einen Plan mit klaren Zuständigkeiten und Terminen für die Übergabe von Verantwortungsbereichen entwickelt.
Haben Sie einen unterschiedlichen Führungsstil?
Kaeser: Wir sind einfach unterschiedliche Persönlichkeiten, und das ist auch gut so.
Busch: Ich möchte, dass die Mitarbeiter Eigenverantwortung übernehmen und nicht jeden Entwicklungsschritt immer nur genau so machen, wie ihn die Personalabteilung vielleicht empfehlen würde. Und wir brauchen eine Führungskultur, bei der nicht immer alles nur von oben nach unten geht. Siemens muss beweglicher werden. Dafür müssen wir allerdings auch mehr Leute von außen holen. Wir müssen zum Beispiel darauf achten, dass wir mehr Frauen zu Siemens holen.
Und das alles in sehr schwierigen Zeiten. Seit Mittwoch gilt ein neuer harter Lockdown. Welche Folgen für die deutsche Wirtschaft erwarten Sie? Kommt die nächste Rezession?
Busch: Meine Sorge sind nicht die nächsten paar Wochen. Meine Sorge ist, wie wir langfristig mit dem Thema umgehen. Die Pandemie wird uns noch mindestens ein Jahr beschäftigen. Wenn man von einigen Branchen wie Reise, Luftfahrt oder Gastronomie absieht, würde ich die dauerhaften Folgen aber noch nicht überbewerten. In Summe wird es auch Chancen geben. An vielen Stellen läuft das Leben weiter und die Wirtschaft funktioniert, auch dank der Digitalisierung. Das gilt auch für Siemens. Unsere Kunden nehmen Projekte online ab, wir haben digitalen Service, wir können die Fertigung aus der Ferne steuern.
Kaeser: Es ist noch zu früh für eine Bilanz. China kommt im Moment sehr gut zurecht und wird möglicherweise auch im laufenden Quartal wieder zweistellige Zuwachsraten erzielen. Andere Länder tun sich da schwerer. Gleichzeitig gibt es viele Gewinner der strukturellen Veränderungen. Ich mache mir vielmehr Sorgen um die sozio-ökonomische Entwicklung in Deutschland. Ein langer Lockdown bedeutet ja auch, dass die Menschen in ihrer Freiheit eingeschränkt sind. Viele haben zu kämpfen, nicht nur wirtschaftlich. Wichtig ist, dass die schon länger in Aussicht gestellten Hilfen der öffentlichen Hand auch bei den Menschen ankommen. Hier erscheint mir ein eklatanter Nachholbedarf zu sein. Die Differenz zwischen dem angekündigten großen "Wumms" und den kleinen Tropfen, die tatsächlich ankommen, ist doch sehr groß.
Wie soll das passieren?
Kaeser: Wir müssen einander mehr vertrauen. Natürlich hat es Missbrauch auch bei den Hilfen gegeben in der ersten Welle. Aber deshalb darf doch nicht die ganz überwiegende Mehrheit, die jetzt Anspruch auf die Hilfen haben, so lange warten müssen.
Busch: Wir können für unsere Mitarbeiter und für die Gesellschaft insgesamt einen wichtigen Beitrag leisten, und zwar bei der digitalen Aus- und Weiterbildung. Das bedeutet dann auch eine Stärkung der Mittelschicht. Da gibt es einen großen Hebel. Wir werden uns hier weiter stark engagieren, insbesondere bei technologischen Themen.
Interessant, der eine spricht von Digitalisierung und Aus- und Weiterbildung, der andere von sozio-ökonomischer Verantwortung.
Kaeser: Wo soll denn da ein Widerspruch sein? Das gehört doch zusammen, wir können den technischen Fortschritt nicht aufhalten. Und mit Bildung fängt ja alles an.
Aber die Frage stellt sich doch: Joe Kaeser gilt seit Jahren als der politischste deutsche Topmanager. Werden Sie die große Politik genauso betreiben, Herr Busch?
Busch: Wenn Sie die Politik der Firma Siemens meinen, dann werde ich das künftig machen - und das ist auch richtig so. Siemens wird weiterhin Stellung beziehen zu wichtigen Themen.
Herr Kaeser hat aber auch zu Themen wie der AfD und der Flüchtlingspolitik Stellung bezogen. Wird Siemens also weniger politisch werden?
Busch: Es geht mir um die für Siemens wichtigen Themen und um unsere gesellschaftliche Verantwortung. Bei der Polarisierung der Weltwirtschaft zum Beispiel werden wir uns einbringen, gerade in Richtung eines starken Europa. Persönlich liegt mein Fokus derzeit insgesamt darauf, die Firma durch eine schwierige Zeit zu steuern, mein Terminkalender ist auch so schon ausreichend voll.
Bei Ihnen wird er demnächst etwas leerer sein, Herr Kaeser. Gehen Sie denn in den Siemens-Aufsichtsrat?
Kaeser: Ich habe doch schon drei Aufsichtsratsposten - Siemens Energy, Daimler und NXP. Damit bin ich ja aus Sicht einiger Experten schon fast "over-boarded", also überlastet.
Deswegen könnten Sie doch trotzdem nach einer Wartezeit von zwei Jahren Siemens kontrollieren?
Kaeser: Der amtierende Aufsichtsratschef Jim Hagemann Snabe ist einer der besten Aufsichtsratschefs, die ich kenne.
Und was machen Sie dann mit der vielen freien Zeit?
Kaeser: Da lass ich mir noch was einfallen. Vielleicht schreibe ich ein Buch.
Roman oder Sachbuch?
Kaeser: Sachbuch vielleicht. Es gibt viele Management-Ratgeber, die einem nahebringen wollen, wie man aufsteigt oder etwas Neues beginnt. Aber es gibt keinen, der einem erklärt, wie man richtig aufhört.
Wie - ein Buch übers Loslassen?
Kaeser: Das wäre doch mal was. Ein Buch über die Frage, wie man richtig aufhört.
Und Sie, Herr Busch, schreiben als Kaesers Nachfolger die Einleitung?
Kaeser: Gute Idee! Oder vielleicht eine Rezension.