Unternehmen„Wie ein Notartermin, der im Fernsehen übertragen wird“

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Siemens-Vorstandschef Roland Busch bei der virtuellen Hauptversammlung im vergangenen Jahr. Es gibt Kritik an dem Format.
Siemens-Vorstandschef Roland Busch bei der virtuellen Hauptversammlung im vergangenen Jahr. Es gibt Kritik an dem Format. (Foto: IMAGO/Frank Hoermann/SVEN SIMON/IMAGO/Sven Simon)

Viele Dax-Unternehmen bevorzugen inzwischen die digitale Hauptversammlung. Dagegen aber gibt es jetzt Widerstand einer mächtigen Aktionärsberatung: Siemens droht sogar eine Abstimmungsniederlage, andere planen wieder in Präsenz.

Von Björn Finke, Thomas Fromm, Sonja Salzburger und Meike Schreiber, Frankfurt, München, Düsseldorf

Wenn es darum geht, die Rechte von Kleinaktionären zu wahren und eine lebendige Aktienkultur zu pflegen, wollen es viele Vorstände und Aufsichtsräte deutscher Konzerne eher bequem. Trotz der Kritik von Aktionärsschützern und deutschen Fondsgesellschaften luden 2024 nur zwölf von 40 Dax-Konzernen ihre Aktionäre in Präsenz zur Hauptversammlung (HV) ein. Die restlichen 28 Unternehmen nutzten eine gesetzliche Regelung, die nach der Corona-Pandemie eingeführt wurde, und hielten ihre Versammlungen digital ab. Den Aktionären entgingen nicht nur Gratis-Würstchen vom Buffet, sondern auch der leibhaftige rhetorische Schlagabtausch zwischen Anteilseignern und Unternehmensführung.

Wie sich die Situation 2025 entwickelt, ist noch unklar: Während die Deutsche Bank, Bayer, Mercedes und Tui trotz anhaltender Kritik daran festhalten, wollen SAP und BASF sogar auf das Online-Format umstellen. Sie alle argumentieren, dass virtuelle Versammlungen insbesondere für internationale Aktionäre praktischer seien. Und nerven sie nicht auch, die oft mehrstündigen Sitzungen, auf denen sich neben Umweltaktivisten auch andere Stakeholder positionieren und schon mal eine Torte fliegt?

Das sehen viele Aktionäre anders, weswegen der Widerstand gegen virtuelle Hauptversammlungen wächst. Nun will etwa der einflussreiche Aktionärsberater ISS allen voran Siemens zur Rückkehr zur Präsenzversammlung bewegen. Die Beratungsgesellschaft, deren Stimmrechtsempfehlungen viele Indexfonds befolgen, rät Siemens-Aktionären, auf der Hauptversammlung an diesem Donnerstag gegen eine Ermächtigung zu stimmen, die bis 2027 virtuelle Hauptversammlungen ermöglichen würde. Für die Fortführung des digitalen Formats benötigt Siemens eine Dreiviertelmehrheit, die angesichts des ISS-Votums unsicher erscheint. Denn auch die großen deutschen Fondsgesellschaften Deka und Union Investment haben angekündigt, gegen die Ermächtigung zu stimmen. Eine Abstimmungsniederlage allerdings wäre ein Novum in der Unternehmensgeschichte von Siemens und würde dazu führen, dass der Konzern ab 2026 zwangsweise wieder zur Präsenzversammlung zurückkehren müsste. Siemens soll das ISS-Votum überrascht haben, heißt es, es wäre in der Tat peinlich für Vorstandschef Roland Busch und seinen Aufsichtsratschef Jim Hagemann Snabe.

Sollte es aber dazu kommen, dass der Konzern in dieser Woche eine Niederlage bei der Abstimmung erleidet? Dann sei man aber auch darauf vorbereitet, sagen sie im Konzern. Man könne auch mit Hauptversammlungen in Präsenz „umgehen“. Für alle Fälle hat der Konzern schon einmal die Münchner Olympiahalle für die Hauptversammlung 2026 reserviert. Da, wo sie jahrelang stattfanden, die Aktionärstreffen. Sicher ist sicher.

Tatsächlich macht ISS in seinen neuen Richtlinien deutlich, dass virtuelle Hauptversammlungen nicht zur Regel werden sollten, und schließt sich damit der Kritik von Fondsgesellschaften wie Union Investment und Deka sowie Aktionärsschützern der SdK und DSW an. Ihr Hauptvorwurf: Der kritische Austausch zwischen Unternehmen und Aktionären leide unter dem digitalen Format. Auch technische Probleme sind ein wiederkehrendes Thema. So musste die Hauptversammlung des Reisekonzerns Tui einmal für mehr als zwei Stunden unterbrochen werden. „Eine virtuelle Hauptversammlung hat den Charakter eines Notartermins, der im Fernsehen übertragen wird. Sie sollte nur im Notfall stattfinden, etwa während einer Pandemie“, sagte Josef Gemmeke, SdK-Sprecher am Dienstag bei der HV der Tui.

Ingo Speich, der für die Sparkassen-Fondsgesellschaft Deka regelmäßig auf Hauptversammlungen spricht, hofft jetzt auf eine Trendwende: „Die Entwicklung hin zu virtuellen Hauptversammlungen ist erst einmal gestoppt. Wir werden im nächsten Jahr wieder mehr Präsenzversammlungen im Dax sehen“, sagt er. Seiner Meinung nach könnten Unternehmen nur dann die Zustimmung der Investoren zum virtuellen Format erhalten, wenn sie den kritischen Austausch sicherstellen. „Eine virtuelle HV mag zwar günstiger sein als eine Präsenzveranstaltung, sie leidet jedoch unter einem Defizit an Kommunikation“, sagt Speich. Besonders bei wichtigen Entscheidungen wie Aufsichtsratswahlen oder Kapitalmaßnahmen sei eine Präsenz-HV zwingend erforderlich.

Deutsche Bank und Deutsche Börse reagieren auf Aktionärskritik

Einige Unternehmen treten bereits die Flucht nach vorn an. Zu hören ist, dass mehrere Dax-Unternehmen sogar schon vorsorglich Hallen für 2026 gebucht haben sollen. Die Deutsche Börse etwa kehrt bereits dieses Jahr zur Präsenz-Hauptversammlung zurück. Das beschloss der Aufsichtsrat am Dienstag, wie eine Sprecherin der SZ bestätigte. Die Hauptversammlung der Deutschen Börse mag zwar weniger im Fokus von Privatanlegern stehen als die von Siemens, Volkswagen oder BMW, doch ihr Schritt hat Signalwirkung. Der neue Vorstandschef Stephan Leithner und die neue Aufsichtsratschefin Clara Streit möchten womöglich ein Zeichen für Corporate Governance, also gute Unternehmensführung, setzen – was auch zur Börse als Hort der Aktienkultur passt. Streit ist nicht nur Aufsichtsratschefin des Wohnungskonzerns Vonovia, sondern auch Vorsitzende einer wichtigen Regierungskommission für gute Unternehmensführung. Hinzu kommt, dass die Aktionärsberatung ISS seit einigen Jahren eine Tochter der Deutschen Börse ist. Auch wenn beide Unternehmen nach eigener Aussage strikt getrennt arbeiten, dürfte dies Einfluss auf die Entscheidung gehabt haben.

Aber auch die Commerzbank kehrt dieses Jahr zur Präsenz-HV zurück – in erster Linie, um dort über ein neues Vergütungssystem zu diskutieren, wie Aufsichtsratschef Jens Weidmann neulich ankündigte. Vielleicht aber auch, um Fernsehbilder zu produzieren, im Abwehrkampf gegen die italienische Unicredit, was Weidmann indes zurückwies. „Beide Formate haben Vor- und Nachteile. Wir verfolgen einen pragmatischen Ansatz und wollen in diesem Jahr vorsorglich eine Genehmigung für mögliche virtuelle Hauptversammlungen 2026 und 2027 einholen“, so Weidmann.

Die Deutsche Bank wiederum reagiert ebenfalls auf die Kritik an ihrem digitalen Format. Während sie ihre HV weiterhin virtuell abhält, müssen Aktionäre ihre Fragen dieses Jahr immerhin nicht mehr vorab einreichen. „Nachdem uns verschiedene Stakeholder signalisiert haben, dass sie Live-Fragen bevorzugen, haben wir das Format angepasst“, teilte ein Sprecher mit. Auch Eon und die Lufthansa haben auf diese Kritik reagiert.

Im vergangenen Jahr führte das vorab festgelegte Frageformat zu massiver Kritik. Union Investment verweigerte der Deutschen Bank deswegen sogar die Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat. Nun begrüßt die Fondsgesellschaft die Änderung. „Der Grund für unsere Ablehnung auf der letzten Hauptversammlung entfällt damit“, sagte Vanda Rothacker, Analystin bei Union Investment.

Auch die frühere Siemens-Tochter Siemens Energy wagt sich an die Präsenz-HV: Als Siemens sein Energiegeschäft im September 2020 an die Börse entließ, war an Hauptversammlungen in Präsenz nicht zu denken – die Covid-Pandemie hatte die Welt fest im Griff. Jetzt plant der Energieinfrastrukturkonzern, seine Hauptversammlung im kommenden Jahr in Berlin abzuhalten. Es wäre die erste Präsenz-HV für den Dax-Konzern überhaupt. „Wir wissen, dass viele unserer Aktionäre (…) ein besonderes Bedürfnis haben, das Unternehmen einmal persönlich und unmittelbar kennenzulernen und mit uns in einen ‚analogen‘ Austausch zu treten“, schrieb der Vorstand Mitte Januar an die Aktionäre.

Tui wird nächstes Jahr ebenfalls wieder in den analogen Austausch mit seinen Mitgliedern treten - gezwungenermaßen. Der Antrag von Vorstand und Aufsichtsrat, sich die digitale HV für die nächsten zwei Jahre genehmigen zu lassen, fiel bei den Aktionären durch. Aufsichtsratschef Dieter Zetsche wirkte sichtlich unzufrieden. Er wolle sich weiter für die digitale Hauptversammlung einsetzen, sagte der frühere Daimler-Chef. Mal sehen, ob die Tui-Führung damit weit kommt.

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