Siemens:Das Wunder von Cuxhaven

Siemens Gamesa inaugurates plant for wind engine nacelles, Cuxhaven, Germany - 05 Jun 2018

Ob die Zukunft in Cuxhaven so strahlt wie das Turbinenhaus aus dem Siemens-Werk?

(Foto: Rex/Shutterstock)

Aus der Stadt hatte sich die Hoffnung verabschiedet. Bis Siemens kam. Jetzt kennt Cuxhaven nur noch einen Gedanken: Der Heilsbringer muss bleiben.

Von Thomas Hahn und Angelika Slavik

Am Tag, als der Messias offiziell empfangen wird, knallt die Sonne auf Cuxhaven, als wollte sie der ganzen Festgesellschaft den Garaus machen. Trotzdem sind alle gekommen: der Bürgermeister, der Ministerpräsident, der Staatssekretär. Es ist eine große Sache. Es gibt ein Festzelt und ein Buffet. Eine Bühne und riesige Leinwände daneben. Musik, natürlich. Die Stimmung ist feierlich. Heute ist der Tag.

"Siemens-Gamesa-Werk für Offshore-Maschinenhäuser Cuxhaven Nacelle Factory" steht auf einer Leinwand. Der Heilsbringer hat einen recht umständlichen Namen.

Es gibt viele Geschichten, die vom Abstieg einer Region erzählen, wenn der wichtigste Arbeitgeber dichtmacht. Davon, was das mit einer Stadt macht und mit ihren Menschen. Wenn die Hoffnung verschwindet und die jungen Leute wegziehen. Das hier aber ist die Geschichte von Cuxhaven. Einer strukturschwachen Gegend an der deutschen Küste, aus der sich die Hoffnung längst verabschiedet hatte. Bis die Fabrik kam. Der Messias. Was macht das mit einer Stadt und ihren Menschen? Wenn es plötzlich wieder Hoffnung gibt?

Es ist die erste Produktionsstätte seit 20 Jahren, die Siemens in Deutschland eröffnet

Stephan Weil, grauer Anzug, rote Krawatte, ist jetzt dran. Vermutlich ist er der einzige Ministerpräsident Deutschlands, der immer pünktlich ist. Er federt auf die Bühne. "Moin", sagt er und strahlt. Weil kennt sich schon auf dem neuen Fabrikgelände aus, er hat die Baustelle besichtigt, er war bei der Inbetriebnahme dabei. Jetzt also die Eröffnungsfeier. "Es ist nicht so, dass jede Fabrik drei Mal vom Ministerpräsidenten heimgesucht wird", sagt er.

Aber das ist ja auch nicht irgendeine Fabrik. Das ist die erste Fabrik seit 20 Jahren, die Siemens in Deutschland eröffnet. Ein Widerspruch zu den geltenden Regeln kapitalistischer Effizienzrechnung. Fast möchte man sagen: ein Wunder.

Weil sagt, Cuxhaven habe "weiß Gott schwere Jahre" hinter sich. "Viele Enttäuschungen, auch viele Verluste." Nun aber werde es aufwärts gehen. Die Arbeitslosenquote sei bereits in den vergangenen drei Jahren um 17 Prozent gesunken, seit die Entscheidung für die Fabrik in Cuxhaven gefallen ist. 850 Jobs entstehen direkt im Werk, Hunderte weitere bei Zulieferern in der Region.

"Ich bin sicher, diese Entwicklung hat noch kein Ende", sagt Weil. Er lobt die Siemensleute für ihren Mut, hierher an die Küste zu kommen. Er dankt ihnen. Er redet eine ganze Weile darüber, wie super Siemens ist. "Möge dieser Erfolg nicht der letzte sein bei der Wiederauferstehung von Cuxhaven und dem Cuxland!"

Wiederauferstehung also. Cuxhaven ist plötzlich ein Beispiel dafür, was Industriepolitik bewirken kann. Wenn sie gelingt.

Es ist nicht so, dass man den Aufstieg schon an jeder Ecke sehen könnte. Cuxhaven ist immer noch eine dieser Städte, die mit Anspruch und Wirklichkeit kämpft. Die größte Attraktion ist die "Alte Liebe", ein knapp 300 Jahre alter Anleger, der heute als hölzerne Aussichtsplattform dient. Heinrich Heine soll hier mal ein Gedicht geschrieben haben.

Leider ist das Gedicht verschwunden. Im Souvenirladen daneben wird Sanddornlikör verkauft, auf dem "Danke für's Blumengießen" steht. Es gibt auch "Danke für's Haus hüten", in Dutzenden verschiedenen Sorten. Alle mit diesem Rechtschreibfehler, dem falschen Apostroph. Daneben ist eine Sonnenblume aufgemalt, mit einem lachenden Gesicht.

Im Stadtzentrum gibt es eine Sparkasse, die lokale Zeitungsredaktion, die üblichen Modeketten und ein paar asiatische Nudel-Restaurants. Die asiatischen Restaurants werben im Internet damit, dass es hier "Essen bis spätabends" gibt. Wenn man um neun Uhr kommt, kriegt man in dem einen gar nichts mehr und im zweiten nur noch was zum Mitnehmen.

Trotzdem ist jetzt alles anders. Eine neue Zuversicht. Cuxhaven mit seinen wenigen Einwohnern (knapp 50 000) auf vielen Quadratkilometern (knapp 162) hat eine neue Ausstrahlung bekommen. Liegt das nur an dem neuen Werk? "Doch, doch", sagt Cuxhavens Oberbürgermeister Ulrich Getsch, "da ist so ein richtiger Ruck durch die Stadt gegangen."

So viel ging verloren

Getsch, 68, ist ein Jeansträger mit Gemütsruhe, Hobbysegler, parteilos und keiner, den es nach Geltung drängt. Sich zu Cuxhavens Oberbürgermeister wählen zu lassen, war nicht seine Idee, sondern die von CDU, FDP und Grünen. 2011 kamen Vertreter dieser drei Stadtratsfraktionen auf ihn zu: Ob er sich den Posten vorstellen könne. Das sagt viel über Cuxhavens Lage damals, denn Getsch ist ein ausgewiesener Fachmann für wirtschaftliche Vernunft. Betriebs- und Volkswirtschaft hat er an der Berufsschule gelehrt. Dazwischen war er als Mitarbeiter der Universität Göttingen jahrelang mit Auftragsprojekten beschäftigt, bei denen der Autokonzern VW ein klügeres Firmenmanagement erforschen ließ. Kostensenkung, Montageeffizienz, Abbau von Werken. Solche Sachen.

Getsch weiß also, wie man kriselnde Betriebe in Form bringt. Damit war er der richtige Mann für Cuxhaven. Die Stadt hatte in den Jahrzehnten zuvor viel verloren. Die Fischindustrie war geschrumpft, die Bundeswehr hatte zwei Standorte geschlossen, Leute zogen weg, Läden verwaisten. Und die ersten Versuche des Landes Niedersachsen, Cuxhaven zum Standort der erwachenden Windkraftindustrie auszubauen, hatten zunächst auch keinen nachhaltigen Erfolg. Noch vor drei Jahren blickte Getsch auf einen unterforderten Hafen, auf die leere Riesenhalle des pleitegegangenen Offshore-Park-Zulieferers Bard und auf eine mächtige, ungenutzte Fläche zwischen den Stadtteilen Osterende und Altenbruch, die das Land mit zwei Millionen Kubikmetern Elbsand als Industriegebiet der Zukunft hatte aufspülen lassen.

"Da stand ich mit meinem Latein", sagt Getsch. Es sah nicht gut aus.

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Bislang waren die leicht angestaubte Küstenromantik um Strandkörbe und Leuchttürme die größte Attraktion der Stadt.

(Foto: Klaus Rose/imago)

Ihn hat mal jemand gefragt, was er mit der Brache gemacht hätte, wenn Siemens nicht gekommen wäre. Und Getsch hat prompt geantwortet, als wäre er nie um eine Idee verlegen gewesen: "Dann hätten wir so einen Mega-Freizeitpark da hingestellt, größer als in Mallorca. Wir hätten unser Rockfestival Deichbrand hier vorgeholt und Drachenfeste veranstaltet. Bis sich irgendwas entwickelt." Im Rückblick redet es sich leichter, aber es kann schon sein, dass er in der Not tatsächlich versucht hätte, ein bisschen Ballermann-Ambiente ins beschauliche Seebad zu bringen. Gerade er als Fachmann für Kostensenkung wusste doch, dass vielen Firmen China näherliegt als Cuxhaven, wegen der billigen Löhne. Wer sollte da schon kommen? Getsch sagt: "Die Verzweiflung war relativ groß."

Bei der Eröffnungsfeier in der Fabrik soll die gesammelte Prominenz nun auf der Bühne ein Windturbinenmodell zusammenbauen. Es besteht aus drei Teilen, trotzdem scheinen die sechs honorigen Herren, nun ja, herausgefordert zu sein. Es folgt ein intensiver Beratungsvorgang. Kurz bevor es peinlich wird, ist die Aufgabe bewältigt. Jubel. Manchmal ist es halt auch eine Frage des Willens.

Der Konzern zahlt gut. Das freut die Gewerkschaft, aber nicht die alteingesessenen Betriebe

Wenn der Oberbürgermeister Getsch erklärt, warum seine Stadt den Zuschlag vor Brunsbüttel, Esbjerg und anderen erhielt, verwandelt sich das darbende Cuxhaven in den Traum jedes Windkraftanlagen-Herstellers: Wassertiefe! Nähe zur Nordsee! Verfügbarkeit von Flächen und Arbeitskräften! Alles optimal. "Nicht zu vergessen der Flughafen Nordholz", sagt Getsch. "Der hat eine längere Landebahn als der Flughafen in Bremen, erstaunlich."

Außerdem war Cuxhaven bereit für einen Kraftakt. "Sehr attraktives Standort-Marketing", nennen das die Siemensleute. Das ist anerkennend gemeint. Tatsächlich hat der Konzern 200 Millionen Euro in den Standort investiert. Aber das Land ließ für die nötige Infrastruktur 250 Millionen springen. Für die speziellen Anforderungen des Windkraftanlagen-Baus organisierte die Stadt über die Agentur für Arbeit und Jobcenter insgesamt 460 Qualifizierungsmaßnahmen. Und vielleicht kam der Stadt auch entgegen, dass Siemens etwas für sein Image in Deutschland tun wollte.

Verantwortung ist ein schwieriges Thema für einen Konzern. Ist er nur für seine Bilanzen verantwortlich? Oder auch für das Land, aus dem er kommt? Groß war jedenfalls die Empörung in Görlitz, als Siemens dort sein Turbinen-Werk schließen wollte. Groß ist die Ernüchterung in Mülheim, wo Siemens in einem ähnlichen Werk Stellen abbaut. Das brachte bittere Schlagzeilen. Hier an der Küste aber wird Siemens nun von einer Welle der Sympathie getragen, fast möchte man sagen: von einer Welle der Verehrung.

Siemens: Immerhin: Heinrich Heine soll hier mal ein Gedicht geschrieben haben. Passenderweise nennt man ihn auch den letzten Dichter der Romantik.

Immerhin: Heinrich Heine soll hier mal ein Gedicht geschrieben haben. Passenderweise nennt man ihn auch den letzten Dichter der Romantik.

(Foto: imago)

Getsch sagt, er habe in der Stadt Skepsis gespürt, als Siemens ins Gespräch kam. Aber diese Skepsis war im Grunde schon ein Symptom der Pro-Siemens-Stimmung. "Ob das was wird?", fragten die Leute bange und waren dann angenehm überrascht, als Bauarbeiter nach dem Zuschlag im Sommer 2015 tatsächlich damit anfingen, auf der leeren Gewerbefläche 2000 Betonpfähle für die neuen Werkshallen ins Schwemmland zu rammen. Widerstand gegen Veränderung ist mittlerweile fast Standard bei großen Baumaßnahmen. Aber diesmal? "Null", sagt Getsch. "Keine Bürgerinitiative, gar nichts." Der Stadtrat begrüßte in seltener Eintracht die Ansiedlung. "Das war einfach nur Jubelfeier."

"So eine Ansiedlung verändert den Wohlstand einer Stadt"

Siemens und seine Zulieferer haben neues Publikum in die Stadt gebracht, die Umsätze in den Läden steigen. Gasthäuser und Hotels verzeichnen nicht mehr nur im Sommer regen Touristen-Zulauf, sondern auch im Winter durch Planer und Ingenieure des Offshore-Geschäfts. Und das "Bali Kinocenter" wird renoviert: Mehr Beinfreiheit, neue LED-Technik. Es geht voran.

"So eine Ansiedlung verändert den Wohlstand einer Stadt", sagt Gunnar Wegener, Cuxhavens SPD-Fraktionschef, und freut sich auch in seiner Funktion als Gewerkschaftsmitglied: Siemens zahlt gut. Die alteingesessenen Handwerker finden das nicht so richtig knorke, das neue Werk verderbe die Löhne, hört man hier. Fachkräfte sind ohnehin knapp, jetzt werden sie auch noch teurer. Aber gleichzeitig verschafft das Werk eben auch den Handwerksbetrieben Aufträge: Irgendwer musste das ganze Ding ja errichten. Und irgendwer muss es in den kommenden Jahren warten. Das bedeutet zuverlässige Aufträge von einem zahlungskräftigen Kunden. Will man sich da beschweren?

Umweltverbände sind so etwas wie die natürlichen Feinde großer Infrastrukturprojekte. Die Wirtschaft mault oft, der Fortschritt gerate ins Stocken, weil die Naturverteidiger ständig die Rechte irgendwelcher Tiere oder Pflanzen einklagten. Im weitläufigen Landkreis Cuxhaven ist das Naturbewusstsein verbreitet. Seine vielfältige Landschaft mit Wald, Marsch, Geest, Fluss und Watt ist ein Paradies für Vogelfreunde - was auch dazu führt, dass beim jährlichen Birdrace, einer Art deutschen Meisterschaft für Vogelbeobachter, das Team aus dem Landkreis Cuxhaven regelmäßig vorn liegt. Außerdem sind die Cuxhavener Gegner der Elbvertiefung, die sich die Hafenmetropole Hamburg für das Geschäft mit den Riesenfrachtern seit Jahren wünscht. Und die Siemens-Ansiedlung? Hans-Joachim Ropers, Vorsitzender der Gruppe Cuxhaven im Naturschutzverband Nabu, sagt fast entschuldigend: In dem Thema stecke "kein Sprengstoff".

Der Oberbürgermeister hält Spendenanfragen von der Firma fern. Kein Stress für den Messias

Bis in die Achtzigerjahre hinein war der Standort, an dem das Siemenswerk untergekommen ist, ein Sommerdeichgebiet mit "relativ interessanter Vogelwelt", wie Ropers das nennt. Aber das Land hatte sich diesen Teil des Elbufers eben als "Vorrangstandort für Industrie und Gewerbe am seeschifftiefen Wasser" ausgesucht. Seinerzeit gab es heftige Proteste, schließlich einen Kompromiss. Längst hat Ropers sich damit abgefunden, dass die Natur an dieser Stelle unter einer fünf Meter dicken Sandschicht verschwunden ist. "Was soll man als Naturschutzverband sagen, wenn sich auf einer Fläche, die für Industrieansiedlung hergerichtet ist, tatsächlich Industrie ansiedelt?" Es gab Ausgleichsmaßnahmen im Sinne der Natur. Außerdem ist eine Fabrik für Windkraftwerke ja im Grunde ein Beitrag zum Klimaschutz. Und als gebürtiger Cuxhavener muss Ropers sagen: "Für die Stadtentwicklung ist die Ansiedlung natürlich ein Glücksfall irgendwo."

Die Eröffnung des Glücksfalls steuert nun auf ihren Höhepunkt zu. Ein Maschinenhaus, wie es in der Fabrik produziert wird, ist unter einem weißen Tuch verborgen und soll symbolisch enthüllt werden. Es ist ein riesiges Ding, es wiegt 400 Tonnen. Dramatische Musik setzt ein, es soll ein großer Moment werden. Aber dann verfängt sich das banale weiße Tuch ganz oben auf dem Hightech-Teil, das nun ein wenig unwürdig dasteht, so halb bedeckt und halb entblößt. Ein paar Arbeiter stehen oben auf dem Maschinenhaus und kämpfen mit Stangen gegen das dumme Tuch. Es ist ein erschütternd analoger Vorgang, es dauert ewig, das Tuch wehrt sich, es hängt schon in Fetzen, aber dann, endlich, gibt es den Blick auf das strahlend weiße Symbol der neuen Zeit frei.

Optimismus ist kein hervorstechender Wesenszug der Cuxhavener. Wie weit trägt der Glücksfall? Für die kommenden drei Jahre sind die Auftragsbücher des Werkes voll. Und dann? Den Oberbürgermeister Getsch beschäftigt das auch. Es reicht nicht, sich zu freuen. Siemens-Pflege ist wichtig. Getsch möchte den Standort für den Konzern noch besser machen. Er vermittelt Ideen zur Montageeffizienz. Kulturschaffenden, die sich überlegt haben, dass Siemens doch die eine oder andere Spende einbringen könnte, sagt Getsch väterlich: "Lass die doch erst mal ankommen."

Siemens braucht Schonung. Siemens soll bleiben. Und andere Firmen sollen sehen, dass sie in Cuxhaven gut aufgehoben wären. Ulrich Getsch holt die Karte des Industriegebiets und zeigt auf verschiedene Flächen. Er sagt: "Ich hab' noch was frei."

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