Zughersteller:Gibt es noch eine Zukunft für ICE und TGV?

Siemens und Alstom - ICE und TGV

Ein TGV des französischen Zugherstellers Alstom und ein von Siemens gebauter ICE stehen in Kehl auf einer Rheinbrücke. Foto: Marijan Murat/dpa

(Foto: dpa)

Monatelang haben Siemens und Alstom ausgehandelt, wie sie gemeinsam zum Zug-Champion werden könnten. Dann kam das Veto der EU-Wettbewerbshüter. Und alles steht wieder auf Anfang.

Von Thomas Fromm und Leo Klimm, Paris

In der Industrie passieren manchmal seltsame Dinge. Zum Beispiel, wenn sich Unternehmen überall in der Welt als Gegner gegenüberstehen, um jeden Auftrag kämpfen und sich nichts, aber auch gar nichts schenken - und derweil hinter den Kulissen ihre Hochzeit vorbereiten. Bei Siemens und Alstom waren es anderthalb Jahre, in denen die Manager der beiden Rivalen über eine Ehe sprachen. Meistens in kleinen Gruppen, an verschiedenen Orten.

Aus zwei Zugherstellern wollten sie einen machen. Anderthalb Jahre zwischen Sommer 2017 und Anfang 2019, in denen es so aussah, als würden die Zugsparten von Siemens und Alstom, als würden ICE und TGV, bald nicht mehr als Rivalen, sondern miteinander fahren. Weil die Unternehmen in diesen eineinhalb Jahren aber noch nicht vereint waren, sondern nur darüber sprachen, waren immer auch eine Menge Anwälte dabei, denn solche vertraulichen Gespräche unter Wettbewerbern sind juristisch heikel. Es könnten verbotene Absprachen dabei herauskommen.

"Weil wir direkte Wettbewerber waren, haben wir keinerlei geschäftliche Informationen zur Verfügung gestellt bekommen", erinnert sich Michael Peter, einer von zwei Geschäftsführern von Siemens Mobility. Einmal gewann Siemens in dieser Zeit einen Auftrag für Londoner U-Bahn-Züge, und Alstom legte vor Gericht Einspruch dagegen ein. "Fair enough, so ist das Tagesgeschäft", sagt Peters Kollegin in der Geschäftsführung von Siemens-Mobility, Sabrina Soussan, heute.

Alle hatten ja doch irgendwie damit gerechnet, dass es klappt mit dieser Zugehe. Als Siemens-Chef Joe Kaeser vor anderthalb Jahren in einem Konferenzzentrum an der Pariser Avenue d'léna stand, um die geplante Fusion der beiden Zugsparten anzukündigen, sagte er, die Franzosen von Alstom seien der "beste Partner". Dass sich die Hersteller von ICE und TGV lange spinnefeind waren, dass ein früherer Alstom-Chef einmal sagte, die Deutschen seien "gerade gut genug für die Scheißhäuser in den Zügen" - all das spielte keine Rolle mehr. Nun sollten sie Freunde und Partner werden, ein europäischer Zug-Champion, um sich gemeinsam gegen einen noch viel größeren und gefährlicheren Feind verteidigen zu können: den weltweit größten Schienenfahrzeug-Hersteller CRRC aus China. Ein Koloss, der seine Größe nicht zuletzt der sehr aktiven Wirtschaftspolitik Pekings verdankt.

Dann aber kam der Februar 2019, und EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager legte ihr Veto ein: Siemens und Alstom durften nicht fusionieren, um den Wettbewerb in Europa nicht zu gefährden. "Wer Europa liebt, der sollte sich nicht in rückwärts gerichteten Formeln verlieren", twitterte Kaeser, aber das änderte natürlich nichts mehr. Jetzt, wo die Hochzeit nach all den schwierigen Gesprächen offiziell abgeblasen ist, muss jeder selber sehen, wie er mit den Chinesen und der Zukunft fertig wird.

"Wir haben das unseren Mitarbeitern in diesen Monaten immer wieder gesagt: Wir sind Wettbewerber! Wir sind Wettbewerber!", erinnert sich Siemens-Managerin Soussan. Das war wahrscheinlich auch ganz gut so. Denn sie waren ja Wettbewerber. Und sie sind es, wie man heute weiß, auch geblieben. Aber wie geht es weiter, wenn so eine Konzernehe auf den letzten Metern platzt? Wie gehen Manager und Mitarbeiter damit um?

"Es geht uns als Unternehmen gut, wir sind sehr stark und können in aller Ruhe nach vorne sehen und schauen, welche Optionen wir sonst noch haben", sagt Soussan. Immer wieder im Gespräch: ein Börsengang des gesamten Zuggeschäfts. Nur ob das etwas hilft gegen den neuen großen Konkurrenten aus China?

Bei Alstom-Chef Henri Poupart-Lafarge, der den neuen europäischen Bahn-Champion mit 62 000 Mitarbeitern und einem Umsatz von 16 Milliarden Euro führen sollte, hört sich das ganz ähnlich an: "Wir müssen nach vorn schauen." Und er nutzt eine interessante Metapher. Das Ziel sei immer noch, "auf den Berggipfel zu gelangen". Nur: "Statt mit der Seilbahn hinaufzufahren, nehmen wir jetzt mit unveränderter Entschlossenheit die kurvige Straße." Immerhin so viel: Kurvig ist sie, die Strecke, die die beiden Konzerne jetzt vor sich haben. Da ist es angeraten, nach vorn zu schauen.

Denn da lauert ja nicht nur jener Konkurrent, mit dem man monatelang über Gemeinsames gesprochen hat. Da gibt es auch CRRC. "Wir gehen davon aus, dass unser chinesischer Wettbewerber in den kommenden Jahren noch größer in den hiesigen Markt einsteigen wird", sagt Siemens-Mann Peter. "De facto ist er ja schon da. In den USA hat er mehrere Metro-Projekte gewonnen. In Europa hat er mehrmals mitgeboten." Man bereite sich darauf vor, "dass dies zunehmen wird".

Zurzeit können beide Unternehmen nicht über zu wenig Arbeit klagen. Man expandiert, die Auftragslage ist gut. Siemens verkauft nach Israel, Großbritannien, in die Türkei, in Deutschland sowieso. Bis zum Jahr 2023 sollen 119 ICE 4 an die Deutsche Bahn geliefert werden. 2023 dann wird es spannend: Siemens könnte seinen Hochgeschwindigkeitszug Velaro Novo auf den Markt bringen, Alstom um die gleiche Zeit mit einem neuen TGV kommen. Die Auftragsbücher der Franzosen sind bis 2025 gut gefüllt, in den Konzernkassen liegen 2,6 Milliarden Euro. Jetzt, wo die Verlobung aufgelöst wurde, geht der Kampf um die Aufträge auf den Weltmärkten weiter.

Und doch hat das Ganze Spuren hinterlassen. Poupart-Lafarge, ein Schlaks in schwarzem Anzug, ist eher der nüchterne Typ, ein gelernter Ingenieur mit Diplomen von den besten Pariser Unis. Keiner, dem man eine Überdosis Nostalgie zutraut.

Er sitzt in seinem Büro in der Pariser Alstom-Zentrale an einem Konferenztisch aus schlichtem Pressholz, hackt noch schnell ein paar Zeilen in seinen Laptop und ist dann - bei aller gebotenen Contenance - bereit, über Gefühle zu reden. Er berichtet von seinem letzten Meeting mit den Siemens-Managern um Konzernvorstand Roland Busch in Brüssel. "Es gab diesen Moment, wo wir alle intuitiv gespürt haben, dass dies das letzte Mal sein könnte, dass wir uns sehen", sagt er. Es war das Vorbereitungstreffen vor dem entscheidenden Gespräch mit den EU-Wettbewerbshütern im Januar. "Weder bei uns noch auf der Seite von Siemens sprach es irgendjemand an, weil wir trotz allem in einem positiven Modus bleiben mussten. Aber es gab diesen emotionalen Moment."

Deutsche Bahn trifft Wintervorkehrungen

Ein Mitarbeiter arbeitet an einem ICE.

(Foto: ddp images/dapd)

München, Paris, Krefeld-Uerdingen

Emotionale Momente gab es damals auch in den Fabriken in Frankreich und Deutschland. Arbeiter, die sich fragten, was das alles eigentlich für ihre Arbeitsplätze bedeutet. Geht es bei einer Fusion nur um gemeinsame Entwicklungen und Plattformen oder nicht auch darum, wo man Jobs einsparen kann? Denn so ist es meistens bei solchen Projekten - nicht alles, was das Management strategisch wichtig findet, ist für die Arbeiter eine gute Nachricht. Nach dem Veto aus Brüssel sei für die Beschäftigten in den Fabriken "das Trauma geringer", sagt Poupart-Lafarge. "Sich von der abgesagten Verlobung zu erholen", das sei "natürlich hart für die Managementteams, die sich geistig schon in das neue Unternehmen versetzt hatten".

Für eine etwas andere Perspektive lohnt es sich, nach Nordrhein-Westfalen zu fahren. Krefeld-Uerdingen, das vorweg, ist nicht München oder Paris, und die Duisburger Straße ist nicht der schicke Wittelsbacher Platz in München, wo die Siemens-Zentrale steht. Wo es ganz in der Nähe ein Literaturhaus mit einem Lokal gibt, das "Brasserie Oskar Maria" heißt.

Die Gegend rund um die Duisburger Straße, wo Siemens Züge für die Welt baut, ist vielleicht nicht der Ort für Brasserien, die an den Schriftsteller Oskar Maria Graf vom Starnberger See erinnern. Hier gibt es Kneipen, die "Zum Eckchen" heißen, alte Werkswohnungen und Gründerzeithäuser. Und ein großes Siemens-Werk, in dem mehr als 2000 Menschen Regional- und Hochgeschwindigkeitszüge bauen. Auf der einen Seite der Friedhof von Uerdingen, daneben ein Chemiepark auf dem alten Bayer-Gelände, dahinter der Rhein, der Stadtpark und wieder Wohngebiete.

Es ist eine klar umgrenzte Welt, einer von vielen Siemens-Standorten rund um den Globus, in denen Menschen Züge bauen oder Gasturbinen, Windräder oder Röntgenapparate. Wie sie das tun, das wird in der Zentrale entschieden.

Also in München.

Hier hatte Siemens-Chef Joe Kaeser vor einigen Jahren beschlossen, dass es das Beste wäre, wenn man die Züge nicht mehr allein bauen würde. Für Manager großer Konzerne in München oder Paris, die ja irgendwie ständig damit beschäftigt sind, ihre Unternehmen umzubauen, mag so etwas Routine sein. Große Strategiewürfe, Fusionspläne, Arbeitskreise, Verlobung - dann wieder die plötzliche Trennung, bevor es überhaupt angefangen hat. Und zurück zur Tagesordnung. Für die Mitarbeiter in den Fabriken aber ist das meistens etwas anders.

Vor fünf Jahren ging es zwischen Deutschland und Frankreich mal um einen interessanten Tauschhandel: die Alstom-Energiesparte gegen das Siemens-Bahngeschäft. "Als vor einigen Jahren Joe Kaeser die Bahnsparte gegen die Alstom-Energietechnik tauschen wollte, waren die Leute richtig gekränkt", erinnert sich der Krefelder IG-Metall-Chef Ralf Claessen. "Da fühlten die sich wie auf dem Trödelmarkt."

Anfang April in Krefeld-Uerdingen: In den Werkshallen wird gebohrt, geschweißt, gehämmert. Arbeiter schrauben Sitze fest, Kabelbäume hängen aus den Decken neuer Züge, Toilettenräume werden eingerichtet, es riecht nach Plastik und neuem Teppichboden. Gebaut wird hier unter anderem der ICE 4 für die Bahn. "Fusion oder nicht Fusion: Auch in den vergangenen Monaten ist das Tagesgeschäft hier im Werk weitergelaufen, als ob nichts wäre", sagt Werksleiter Sabri Esslimani.

Als die Fusions-Planer abgeschottet am Ehevertrag mit Alstom feilten, haben sie hier in Krefeld weitergemacht wie immer. Wer mit Alstom sprach, musste raus aus dem Tagesgeschäft, beides ging nicht. Es ist eine kartellrechtliche Gratwanderung, wenn man noch nicht fusioniert ist, aber auf dem Weg dahin schon mal das eine oder andere klären muss.

Und so musste Sabri Esslimani, der Werksleiter, seine Schienenfahrzeuge bauen, als gäbe es gar keinen Alstom-Plan.

"Wir haben in den vergangenen Jahren viele neue Aufträge bekommen", sagt der Werksleiter. "Von Nordrhein-Westfalen über Israel bis nach London. Und Hochgeschwindigkeitszüge made in Krefeld fahren heute in China, in Russland, in Spanien und Deutschland." Zwei Züge im Monat für die Bahn. 115 Züge nach London. Sieben Hochgeschwindigkeitszüge hat er schon an die Türkei geliefert. Was er damit sagen will, ist: Wir können auch anders. Oder, wie es IG-Metall-Mann Claessen über die Leute im Werk sagt: "Da ist die Trauer jetzt gar nicht so ausgeprägt, wie man bei der letzten Betriebsversammlung sehen konnte. Die Leute wissen, dass sie das am Standort auch ohne Alstom gewuppt kriegen."

Noch vor ein paar Monaten trommelten Manager und Politiker für die Fusion und warnten: Europa mit seinen im Weltmaßstab eher kleinen Zugherstellern könne von dem Koloss aus China zermalmt werden. Noch kurz vor der EU-Entscheidung wurde auf allen Seiten gefeilscht und verhandelt. Und deshalb stellt sich nun vor allem die Frage: Wenn es den Unternehmen so wichtig war, zusammenzugehen - wie geht es dann ohne Fusion weiter? Werden Siemens und Alstom in den nächsten Jahren die Verlierer sein? Werden ihre Züge nicht mehr attraktiv genug, vor allem zu teuer sein? Dann hätten nicht nur die Mitarbeiter in Krefeld ein Problem.

"Die Chinesen werden preislich schon sehr sportlich antreten und heimische Anbieter wie Siemens damit schwer unter Druck setzen", glaubt die Bahnexpertin Maria Leenen vom Hamburger Beratungsunternehmen SCI Verkehr. "Ich glaube aber nicht, dass das die Welt komplett auf den Kopf stellen wird. Es wird einfach einen neuen, großen Wettbewerber geben." Der allerdings kein einfacher Rivale sein wird. Wer sich gegen den Großkonzern aus Asien wehren will, wird mehr brauchen als niedrige Preise. "Bei künftigen Ausschreibungen wird es nicht nur um den Preis gehen", sagt Siemens-Managerin Soussan. Da gehe es auch um Dinge wie Wartungsarbeiten und Energiekosten. "Solange wir gerade bei Themen wie der Digitalisierung vorn sind, können wir uns auch gut allein im Wettbewerb behaupten."

Alstom-Chef Poupart-Lafarge hat die rund 200 Mitarbeiter, die er für die Vorbereitung der Fusion und die deutsch-französischen Arbeitsgruppen abgestellt hatte, gleich wieder mit neuen Aufgaben eingedeckt, damit sie nicht "in ein Loch fallen". Jetzt tüfteln sie an der neuen Konzernstrategie, die der Alstom-Chef seinen Investoren in den nächsten Monaten vorstellen wird. Und in Krefeld wartet IG-Metall-Mann Claessen darauf, dass Siemens erklärt, wie es in diesem Zuggeschäft nun weitergeht. "Kommt jetzt der Börsengang? Kommt ein neuer Investor? Irgendetwas muss ja jetzt passieren." Und dann sagt er, worum es in Krefeld - weit weg von München, Paris und all den Planungszirkeln - eigentlich geht. "Uns ist es ehrlich gesagt egal, welcher Name da auf dem Werkstor steht - solange die Arbeitsplätze erhalten bleiben." An Fusionen werde sich vorläufig ohnehin keiner mehr wagen, glaubt SCI-Beraterin Leenen. "Man wird jetzt verstärkt auf Partnerschaften setzen."

Und doch: Die langen Monate, in denen man sich auf großer Bühne Konkurrenz machte und im kleinen Kreis eine Fusion sondierte, waren nicht ganz umsonst. Die Diskussion um die Frage, wie und ob Europa industriepolitisch auf Chinas Großkonzerne reagieren soll, kam durch die Idee eines europäischen Zug-Champions erst so richtig in Gang. Und sonst? "Es ist doch bemerkenswert", sagt Alstom-Chef Poupart-Lafarge, "dass wir auf der persönlichen Ebene hervorragende Beziehungen zu den Leuten von Siemens behalten haben." Bemerkenswert, in der Tat: Die zwei Erzrivalen sind sich nähergekommen, auch ohne Fusion. Vielleicht ein Anfang für lockere Partnerschaften, irgendwann mal.

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