Renu hatte sich doch so sehr auf ihre Hochzeit gefreut. Was die junge Frau nicht ahnte: Die Ehe war nur ein Vorwand, eine hohe Mitgift zu kassieren. Schon kurz nach der Hochzeit kommt es zum Streit, die Schwiegermutter übergießt Renu in der Küche mit Kerosin und zündet sie an - ein sogenannter Mitgiftmord. Die junge Renu gibt es nicht wirklich, sie ist bloß eine Figur in einem Computerspiel. Keines, wie man es kennt, mit Punkten, Rekordlisten, verschiedenen Levels und mehreren Leben der Spielfigur. Sondern ein Spiel, das versucht, den Alltag in Indien erlebbar zu machen. Denn Frauenschicksale wie das von Renu gibt es in dem Land viele.
"Zuerst wollte ich zusätzliche Feuereffekte einbauen, dann haben wir gemerkt, dass die Schüler geschockt genug von der Küchenszene sind", sagt Clemens Hochreiter. Seine Firma Reality Twist aus München hat " Missio for life" entwickelt. Jugendliche erkunden dabei an einem iPad eine reale Erlebniswelt, wie zum Beispiel die Küche von Renu. Serious games heißen solche Spiele, es gibt bereits Tausende von Computerprogrammen, die versuchen, ernste Inhalte wie arrangierte Ehen, Menschenhandel, Prostitution aus Armut, das Leben von Straßenkindern oder auch die Probleme bei einem Feuerwehr- oder Rettungseinsatz spielerisch zu vermitteln.
Beim Spielen lernen Kinder und Erwachsene wie nebenbei, erleben Situationen hautnah mit und können versuchen, ihren Ausgang zu beeinflussen. "Verstehen, verinnerlichen, im Kopf behalten", sagt Hochreiter. Und: Im Spiel darf man auch mal scheitern.
Nichtregierungsorganisationen wie die katholische Missio versprechen sich von den serious games sehr viel: "Wir nutzen die Medien, mit deren Umgang Jugendliche heute vertraut sind und bringen ihnen auf attraktive Weise sehr ernste Themen nahe", sagt Missio-Präsident Eric Englert, und berichtet von vielen positiven Reaktionen auf das Spiel.
Aber ist ein Spiel, das ernste Themen vermitteln will, das sozusagen didaktisch aufgeladen wird, überhaupt noch ein Spiel? Das fragt sich zum Beispiel ein Autorenteam um den Duisburger Professor für Mediendidaktik und Wissensmanagement, Michael Kerres. Bisher gebe es "eher wenige Beispiele, bei denen eine Integration von Spielen und Lernen überzeugend umgesetzt ist", schreiben sie in Bezug auf Lernspiele. Einfach, so lassen sich ihre Erkenntnisse zusammenfassen, ist es jedenfalls nicht, den Spieltrieb für pädagogische Zwecke nutzbar zu machen.
"Im Idealfall ist es so, dass der Spieler komplett unbewusst lernt", sagt dagegen Entwickler Clemens Hochreiter. "Dabei steht der Spielspaß an erster Stelle, der Spieler ist komplett bei der Sache und stellt nach dem Spielen erstaunt fest, dass er auch etwas gelernt hat."
" Serious games vermitteln komplexe Inhalte besser und sind weniger langweilig", sagt auch Valdis Wish. Er ist Geschäftsführer des Berliner Startups Little Green Men interactive, das den "Election Guru", ein Spielen rund um Wahlen in verschiedenen Ländern, entwickelt hat. Die Motive seiner Auftraggeber unterscheiden sich stark. Mehr Besucher auf ihrer Webseite, mehr Beteiligung oder mehr Schwung für eine Kampagne.
Für alle aber gelte: "Auch ein ernsthaftes Spiel muss Spaß machen, tut es das nicht schnell genug, wird es die meisten Spieler verlieren, und der Lerneffekt findet nicht statt", hebt Wish hervor, "viele Lernspiele halten ihr Spaß-Versprechen nicht ein, sie setzen zu viel auf Programm und Inhalt, und der Spaß kommt zu kurz".
Dabei spielt der flow eine wichtige Rolle, der bei der richtigen Mischung aus Herausforderungen und Beherrschung eines Spiels entsteht. Bei einem guten Spiel wird der Spieler davon absorbiert, er vergisst die Realität und die Zeit - ein Effekt, der oft bei guten Spaß-Spielen auftritt. Während die Spieler Städte planen, Königreiche aufbauen und ganze Zivilisationen retten, vergehen die Stunden wie im Flug. Diesen Flow sollten auch ernsthafte Spiele erzeugen, fordert Wish. Denn er motiviere den Nutzer, weiterzuspielen - und dabei dann auch zu lernen.
Bei vielen serious games geht es um heikle Themen, die auch schlecht enden können. Wie geht man mit Scheitern um? "Es ist besonders wichtig, dass der Spieler eine faire Chance hatte", findet Hochreiter, "ein Spiel, das man nicht gewinnen kann, lässt sich nur schwer vermitteln". Solche Sequenzen müssten daher mit großer Sorgfalt dramaturgisch begründet werden. Und es müsse auch nicht alles gezeigt werden: "Ich bin überzeugt, dass die gedachten Bilder meist stärker sind als die gezeigten", sagt der Spieleentwickler.
Wie groß der Markt der serious games ist, darüber gibt es keine verlässlichen Zahlen. Klar ist aber, dass er nur einen Bruchteil des Marktes für digitale Unterhaltungsspiele ausmacht. Der jedoch ist riesig: 800 Millionen Menschen weltweit spielen am Computer, Tendenz steigend. Allein mit Online-Spielen beschäftigen sich Menschen auf der ganzen Welt drei Milliarden Stunden pro Woche. Einen Klassiker der ernsthaften Spiele, Darfur is dying von 2006, haben aber immerhin mehr als zwei Millionen Menschen gespielt.
Das Budget für ein ernstes Spiel beginnt bei 15.000 Euro, dafür bekommt man aber nur ein einfaches Spiel. Im Schnitt kosten sie zwischen 50.000 und 300.000 Euro. Budgets mit zweistelligen Millionenbeträgen, wie bei den reinen Spaß- oder Ballerspielen der großen Studios durchaus üblich sind, bilden hier die absolute Ausnahme. Ein Nischenmarkt mit einer begrenzten Anzahl von Produktionen und auch nur wenigen Anbietern, die über die nötige Erfahrung verfügen.
Dabei geht es weniger darum, die technischen Möglichkeiten von Computern und Spielekonsolen wie Playstation oder Xbox bis auf den letzten Lichteffekt auszureizen, sondern darum, die Inhalte angemessen umzusetzen. Oder einfach darum, Menschen zu helfen. Bei der Virtual Reality Therapy (siehe unten) der University of Washington in Seattle, USA, zum Beispiel bewegen sich Patienten mit schweren Brandverletzungen mittels Joystick durch die eisige "SnowWorld" - und leiden dadurch weniger unter Schmerzen, während ihre Wunden versorgt werden.
Auftraggeber wie Missio setzen konsequent auf die ernsthaften Spiele und haben Erfolg: "Menschen auf der Flucht", heißt das jüngste, entwickelt von der Potsdamer Firma Serious Games Solutions. Vor Kurzem gewann es den Deutschen Computerspielpreis 2013 in der Rubrik Bestes serious game. Das Spiel handelt davon, wie von einem Lastwagen aus Hilfsgüter in einer Krisenregion verteilt werden. "Es zeigt, wie viel edukatives Potenzial in Computerspielen schlummert und dass Kombinationen von Spielen mit anderen Erlebnisformen eine große Bereicherung darstellen können", urteilte die Jury.
Auftraggeber für solche Spiele seien fast immer große Unternehmen oder Organisationen, sagt Ralph Stock, Geschäftsführer von Serious Games Solutions. "Dort hat man erkannt, dass Spielen und Lernen vielfältig miteinander verknüpft sind und dass man die Lerneffizienz deutlich erhöhen kann, wenn man sich das geschickt zunutze macht."
Vor Kurzem hat seine Firma für den ADAC ein Lernspiel entwickelt. Die Aufgabe: Pannenhilfsfahrzeuge möglichst geschickt zu liegengebliebenen Fahrzeugen bugsieren. Das klingt nicht besonders spannend. Der Reiz liegt darin, dass die Teilnehmer zusammenarbeiten müssen. So entsteht Spaß, schnelles, direktes Lernen durch das spielerische Handeln. "Alles Aspekte, die das Spiel gegenüber dem E-Learning oder anderen Lernformen gegenüber überlegen macht", argumentiert Stock. "Die Lernarbeit erfolgt im Spiel selbst. Das dann auch bei hochspezifischen fachlichen Inhalten zum Fliegen zu bringen, das ist die Kunst". Entscheidend sei, dass nicht die Lerninhalte in ein Spiel integriert werden, sondern dass Spiel und Inhalt von vorneherein genau aufeinander abgestimmt werden.
Thematisch sind den Entwicklern kaum Grenzen gesetzt. In "City One", das im Auftrag des Computerkonzerns IBM entstanden ist, muss der Spieler zum Beispiel die Infrastruktur einer Stadt - Wasser, Energie und Verkehr - in den Griff bekommen. Neben dem Lern- ist dabei natürlich auch der Werbeeffekt für den Auftraggeber durchaus einkalkuliert.