Süddeutsche Zeitung

Anleihenkäufe in Italien:Abfahrt

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Die Anleihenkäufe der EZB haben einen schlechten Ruf. Die Industriestadt Pistoia und ihr Zughersteller sind ein Beispiel dafür, was die Geldpolitik auch bewirkte: das Aufblühen einer fast abgeschriebenen Fabrik.

Von Ulrike Sauer, Pistoia

Die Septembersonne knallt auf die riesigen Werkshallen. Ein lauter, heulender Ton überdeckt für wenige Sekunden den Hochbetrieb. Diese Sirene ertönt jede Viertelstunde, sie taktet hier das Leben, sagt Adriano Sbordone. Er meint damit nicht nur das Fabrikgelände mitten in der toskanischen Stadt Pistoia, die eine halbe Stunde von Florenz entfernt im Tal liegt. Auch ringsum auf den Hügeln, wo nun die Weinlese und in paar Wochen die Olivenernte die Tage füllt, hört man die Sirene noch, sagt der Mechaniker. Das gilt auch im weiteren Sinne: Der Herzschlag des traditionsreichen Zugherstellers Breda bestimmt seit Generationen die Identität und das Wohl der 92 000-Einwohner-Stadt. Vor drei Jahren stockte die Herzfrequenz beängstigend. Breda, Italiens einstmals stolzer Schienenfahrzeugbauer, wirkte nur noch wie ein Schatten seiner selbst. Die Bilanzen des maroden Staatsunternehmens waren tiefrot, die Belegschaft schrumpfte, kleine Zulieferfirmen hatten dichtgemacht, in den Auftragsbüchern gähnende Leere. "Zum Schluss haben sie nicht mal mehr an Ausschreibungen teilgenommen", sagt der Gewerkschafter Sbordone. An die Zukunft ihrer Fabrik, dem größten Arbeitgeber der mittelalterlichen Stadt, glaubten die wenigsten. "Angst und Frust hatten uns im Griff", sagt Antonella Nannetti, die seit 28 Jahren im Werkseinkauf arbeitet. Das ist Vergangenheit. Das Bahnunternehmen, das Ende 2015 an den japanischen Konzern Hitachi verkauft wurde, brummt jetzt.

Der Tag, an dem die Wiederauferstehung erstmals an die große Glocke gehängt wird, ist der 18. April 2018. Alle sind gekommen: der Chef des Großkunden Ferrovie dello Stato (FS), die Hitachi-Bosse, der Bürgermeister, der Regionalpräsident. Zu feiern gibt es im weißen Festzelt die Premierenvorstellung eines brandneuen Regionalzuges für die italienischen Staatsbahnen FS. 20 Monate nach der Auftragsunterzeichnung ruft Bahn-Chef Renato Mazzoncini in Pistoia die Wende aus: "Wir verändern das Leben der italienischen Pendler mit der Investition von 4,5 Milliarden Euro in neue Züge", sagt er. Und der doppelstöckige Zug aus der Toskana namens "Rock" ist das in hellem Grau und Gelb leuchtende Aushängeschild dieses Wandels. Mazzoncini versprach, bis 2023 drei Viertel seiner Regionalzugflotte zu erneuern und ihr Durchschnittsalter auf 10,6 Jahre zu halbieren. Die Größenordnung der Bestellung ist einmalig. In Pistoia gab er 300 Rock-Züge in Auftrag. Der Gesamtwert beläuft sich auf 3 Milliarden Euro.

Zwei Monate vor der Vertragsunterzeichnung hatte Mario Draghi im Juni 2016 begonnen, Unternehmensanleihen in das Kaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) aufzunehmen. Ein Jahr nach dem Start der Geldschwemme tauchten nun zusätzlich zu den Staatsanleihen der Euro-Länder auch Unternehmensbonds auf seiner Shoppingliste auf. Draghi bahnte so einen neuen Weg, um Geld in Umlauf zu bringen und über niedrigere Zinsen die Wirtschaft zu stimulieren.

Der römische Bahnkonzern Ferrovie dello Stato war sofort dabei. Nach dem Ausbau der Hochgeschwindigkeitsverbindungen muss Mazzoncini in den vernachlässigten Pendlerverkehr investieren und die verwahrlosten, unsicheren Züge für Millionen Berufstätige und Schüler möglichst rasch von der Schiene holen. Der Plan stand schon vor Draghis Ankündigung. Doch das billige Geld aus Frankfurt beschleunigte die Investition und erhöhte das Auftragsvolumen. Genau das brauchten die Zugbauer in der Toskana: einen energischen Impuls zum Neustart ihres Unternehmens.

In zwei Jahren hat die EZB italienischen Unternehmen Anleihen im Wert von 20 Milliarden Euro abgenommen. Das entsprach Mitte August zwölf Prozent des Kaufprogramms in den 19 Ländern der Eurozone. Aus Italien griffen in erster Linie Infrastrukturkonzerne zu.

Das Einspringen der Zentralbank half ihnen aus einem doppelten Engpass. Die staatlichen Investitionen Italiens fielen seit der Schuldenkrise besonders stark dem Spardruck zum Opfer. Gleichzeitig drehten die Banken den Firmen den Kredithahn zu. In der Folge verlor das Land in seiner schwersten Rezession mehr als ein Zehntel der Wirtschaftsleistung. So stieß Draghi de facto ein öffentliches Auftragsprogramm an. 2017 wuchs die italienische Wirtschaft um 1,5 Prozent, der stärkste Anstieg binnen sieben Jahren.

Die Beschäftigten des Zugherstellers in der Toskana, der heute unter dem Namen Hitachi Rail firmiert, spürten den Aufschwung besonders intensiv. Der Großauftrag der Bahn hat ihre Resignation weggewischt. Leute wurden eingestellt, Geld in die Modernisierung der Produktionsanlagen investiert. Eine nagelneue Testhalle für die Zugabnahme entstand. Die Entwicklungsabteilung heuert nun neue Ingenieure an. "Das ist ein hübsches Wachstumssignal", sagt Sbordone. Pistoia ist so ein Beispiel dafür, was Draghis Anleihenkauf bewirken kann. Auf Umwegen, aber nachhaltig. Die Kritiker des EZB-Chefs hatten dagegen die Aufnahme von Unternehmensanleihen in das Kaufprogramm missbilligt. "Ungeachtet der Vorteile für die Emittenten dürfte der Nutzen für die Realwirtschaft ziemlich begrenzt sein", nörgelten die Analysten der Deutschen Bank in einem Kommentar. Mittelständische Unternehmen gingen leer aus. Und die zusätzlichen Mittel würden anstatt für Neuinvestitionen primär für die Refinanzierung von Altschulden verwendet.

In Pistoia kam das Geld aus Frankfurt dort an, wo es gebraucht wurde. Zum Beispiel bei Valentino Tognetti, 36. Mehrere Jahre war der Monteur als Leiharbeiter beim Zughersteller beschäftigt. Alle neun Monate zitterte er um seinen Vertrag. Vor einem Jahr stellte Hitachi ihn fest an. Das habe viel für ihn verändert, sagt der vollbärtige Mann. Langfristiger in die Zukunft zu blicken, sei für ihn ganz neu. "Jetzt kann ich sogar mit meiner Frau ans Kinderkriegen denken", sagt er.

Von den EZB-Käufen haben im Übrigen nicht nur Italiens Großunternehmen profitiert. Auch die Zinsen für mittlere und kleine Firmen sind gesunken, allein 2017 im Schnitt von 1,20 auf 0,80 Prozent. Das löste auf dem Markt einen Boom von Anleihen-Emissionen aus, der für die traditionell auf Bankkredite fixierte Wirtschaft einen Paradigmenwechsel darstellte.

In der Bahnfabrik in Pistoia rockt es nun. Am 9. Januar schweißten sie die erste Naht des neuen Zuges. Vier Monate später wurde er der Öffentlichkeit vorgestellt. "Rock ist für Hitachi Rail mehr als ein Produkt: Er ist ein Projekt", sagte Maurizio Manfellotto, der das Unternehmen auch vor der Privatisierung geführt hatte. Der neue Pendlerzug soll im Regionalverkehr die positive Revolution wiederholen, die der superschnelle Frecciarossa 1000 auf den Hochgeschwindigkeitsstrecken ausgelöst hatte. Kommenden Dienstag stellen die Italiener Rock in Berlin auf der Verkehrstechnikmesse InnoTrans vor.

Das Hitachi-Werk ist mindestens für die kommenden sechs Jahre ausgebucht. Wenn das Kaufprogramm der EZB zum Jahresende ausläuft, wird es gut auf eigenen Füßen stehen. Das liegt auch daran, dass in Pistoia viel zusammenkam. Breda gehörte bis vor drei Jahren zum staatlichen Raumfahrt- und Rüstungskonzern Finmeccanica, der sich nie für die Herstellung von Zügen interessiert hat. "Die haben Breda wie ein Stiefkind behandelt", sagt Alvaro Alberti, ein Stadtrat des linken PD. Er war dabei, als die Sozialdemokraten im Rathaus und im Regierungsamt in Rom die Privatisierung vorangetrieben haben. Nun sitzen sie in der Opposition. In Pistoia regiert seit 2017 die Rechte unter dem postfaschistischen Bürgermeister Alessandro Tomasi, in der Hauptstadt eine populistische Koalition aus Europa-Gegnern unter Premier Giuseppe Conte. Nur das macht den Zugbauern bei Hitachi heute Sorge. "Wenn sich Italien aus der EU ausschließt, wird uns das sehr schaden", sagt Nannetti.

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Quelle:
SZ vom 14.09.2018
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