Süddeutsche Zeitung

Serie: Finanzfrauen:Eine andere Sicht auf Armut

Lesezeit: 4 min

Die Ökonomin Esther Duflo stellt mit ihrer Forschung die weltweite Entwicklungshilfe in Frage.

Von Pia Ratzesberger

Wer arm ist, der handelt besonnen. Der geht zur Impfung, wenn sie ihm der Staat bezahlt, der kauft sich mehr Reis, wenn er plötzlich mehr Geld zum Einkauf besitzt und der hängt ein Netz gegen die Malariamücken auf, wenn er es geschenkt bekommt. Ja, all das wäre vernünftig. Aber welcher Mensch schafft es schon, egal ob reich oder arm, die ganze Zeit vernünftig zu sein? Esther Duflo, Ökonomin am Massachusetts Institute of Technology (MIT), kennt die Antwort: niemand. Die 42 Jahre alte Französin hat mit ihrer Forschung all das, was die klassische Entwicklungshilfe lange nicht hinterfragte, in Frage gestellt. Sie hat die gängigen Vorurteile über die Armen dieser Welt widerlegt. Das Time Magazin zählte Duflo deshalb zu den einflussreichsten Personen der Welt und der Economist erklärte sie schon vor Jahren zu den vielversprechendsten Ökonomen der Gegenwart. Duflos wichtigste Aussage: Wer unter existenzieller Not leidet, trifft seine alltäglichen Entscheidungen genauso wie alle anderen. Menschen handeln irrational, egal welcher Einkommensklasse sie angehören.

Diese Erkenntnis mag auf den ersten Blick profan klingen, doch tatsächlich wurde sie von der Entwicklungshilfe über lange Zeit hinweg ignoriert. Programme wurden entwickelt, scheiterten, wurden abgeändert und neu aufgelegt - ohne ihre konkrete Wirkung je zu untersuchen. Duflo und ihr Partner Abhijit Banerjee, der ebenfalls am MIT tätig ist, machen das anders. Sie gehen den großen Fragen im Kleinen auf den Grund, reisen von Land zu Land und erforschen das Phänomen Armut mit sogenannten randomisierten Kontrollstudien. Eine Methode, die normalerweise vor allem in der Medizin zum Einsatz kommt. Die Teilnehmer eines Experiments werden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, anhand von Kontrollgruppen wird überprüft, welche Hilfsmaßnahmen wirken und welche nicht.

Denn dass Geld allein reicht, um die Armut zu verbannen, sei es noch so viel, glaubt Esther Duflo nicht. Und das, obwohl sie einmal für Jeffrey Sachs arbeitete, den Ökonomen, der sich ebenfalls dem Kampf gegen die Armut verschrieben hat und der genau das fordert: mehr Geld für die Entwicklungshilfe. Doch was bringt es, in den Ausbau von Unterricht zu investieren, wenn letzterer am Ende qualitativ schlecht ist, fragt Duflo. Wenn die Lehrer während des Unterrichts nicht im Klassenzimmer sind oder der Stoff nicht ans Lernniveau angepasst wird? Was hilft es, viel Geld in das öffentliche Gesundheitssystem zu stecken, wenn die Bevölkerung weiter zu privaten, ungeschulten Ärzten geht, die zwar viel versprechen, aber nichts halten?

Duflo setzt deshalb vor allem auf gesteigerte Effizienz statt auf gesteigerte Ausgaben. Aber auch wenn Jeffrey Sachs und sie nicht in all ihren Ansichten übereinkommen - die Zeit bei ihm hat Duflo geprägt. Denn erst währenddessen entdeckte die Wissenschaftlerin die Entwicklungsökonomie so richtig für sich: "Ich habe ursprünglich Geschichte studiert und Wirtschaft gehasst. Aber dann wurde mir bewusst, dass Ökonomie das Potenzial hat, etwas in der Welt zu verändern", sagte sie einmal in einem Interview mit der SZ. Vielleicht rührt es auch an dieser anfänglichen Skepsis, dass Duflo sich die Welt nicht allein mit ökonomischen Modellen erklärt.

In ihrem bekanntesten Buch "Poor Economics" beschreiben Duflo und Banerjee zum Beispiel, wie sie mit einer Hilfsorganisation in der indischen Stadt Udaipur die Impfrate verbessern wollen. Sie erforschen, wann sich Menschen für eine Impfung in den eingerichteten Stationen entscheiden und geben in manchen Camps eine Zeit lang pro Impfung zwei Pfund Dal aus, getrocknete Linsen. Ein gezielt gesetzter Anreiz, ein "Nudge", der schnell Wirkung zeigt. Die Impfquote steigt in diesen Camps plötzlich um fast 40 Prozent an. Von vielen wird Duflo für genau solche Experimente gefeiert, von anderen dagegen kritisiert: Sei es nicht unverantwortlich, Menschen solchen Versuchsszenarien auszusetzen? Nicht allen zwei Pfund Dal zu geben, wenn es doch möglich wäre?

Duflo hält von dieser Kritik nicht viel. Wer den Armen helfen will, muss nun einmal wissen, wie sie sich wann, warum, für was entscheiden. Viel zu viel Geld werde "aus einer Laune heraus, mit einem stilisierten Bild der Armen im Kopf" ausgegeben, sagt die Französin. Diesem stereotypen Bild konnte auch sie sich früher einmal nicht entziehen. In "Poor Economics" wird erzählt, wie sie als Kind in einem Comic über Mutter Teresa zum ersten Mal von der Stadt Kalkutta erfuhr, von der Enge, dass jeder dort nur einen Quadratmeter zum Leben habe. Als sie später als Studentin in Kalkutta durch die Straßen lief, war sie erstaunt: "Wo ist all das Elend?", Kalkutta sei gar kein großer Slum wie erwartet. Sondern eine ganz Stadt, in der die Leute in Geschäften einkaufen und ihrer Arbeit nachgehen. Gar nicht so viel anders als Paris, fand Duflo dies damals.

In der französischen Hauptstadt ist die Ökonomin aufgewachsen, in der "gehobenen Mittelklasse", sagte sie einmal. Wie ein Töchterchen aus wohlhabendem Pariser Hause wirkt sie allerdings nicht. Bei ihrem Auftritt bei den Ted Talks, einer Vortragsreihe im Internet, trägt sie Jeans, einen unauffälligen Blazer, darunter ein rotes Shirt. "Ich bin klein und habe einen starken Akzent", entschuldigt sie sich gleich zu Beginn bei ihrem Publikum, bevor sie überhaupt mit der Präsentation beginnt. Hunderttausende haben sich den Vortrag später im Netz angesehen, das Transkript ist in dutzenden Sprachen verfügbar.

Wer die Berufe ihrer Eltern kennt, ahnt, dass die beiden Duflo auf ihrem Lebensweg stark beeinflusst haben - und in der Wahl ihrer wissenschaftlichen Methodik. Ihre Mutter ist Ärztin, immer wieder war sie in Hilfsprojekten in El Salvador und Ruanda unterwegs, ihr Vater ist Mathematikprofessor. Duflo vereint in ihrer Forschung in gewisser Weise heute beide Wissenschaften. Gemeinsam mit Abhijit Banerjee und dem Ökonom Sendhil Mullainathan hat sie vor mehr als zehn Jahren das "Poverty Action Lab" gegründet, das ebenfalls am MIT angesiedelt ist. Ein großes Netzwerk aus internationalen Wissenschaftlern, die alle insbesondere mit Hilfe von Kontrollstudien versuchen, Armut besser zu verstehen - und zu erklären, was getan werden muss, um sie erfolgreich zu bekämpfen. Denn Geld alleine, das wird nicht reichen. Darin ist sich Esther Duflo schon lange sicher.

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Quelle:
SZ vom 16.05.2015
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