Selbständige in Deutschland:Die Kraft der guten Idee

In Deutschland beziehen immer mehr Selbständige Hartz IV. Und doch werden sich immer mehr Menschen selbständig machen müssen. Ihnen gebührt Respekt, sie könnten die Mutmacher von morgen sein.

Matthias Drobinski

Jeanette Wenzel wäre so ein Fall. Die Frau läuft durchs sächsische Zschopautal und sammelt Wildkräuter, dost sie ein und verschickt sie, und der kleine Sohn darf beim Etikettenkleben helfen. Das klingt nach Selbstbeschäftigung und nicht nach cleverer Geschäftsidee, es klingt nach Jobcenter-Kundschaft: Entschuldigen Sie, aber ich bräuchte so ne Aufstockung, Sie wissen schon. Nur: Jeanette Wenzels Geschichte ist keine Sozialgeschichte. Sie steht auf der Website der Mittelstands-Initiative "Mutmacher der Nation", und sie handelt davon, wie eine Jungunternehmerin sich durch alle Schwierigkeiten boxte ("Ich war mehr als einmal kurz vorm Aufgeben"), bis zum Erfolg. Es ist riskant, einer Idee zu trauen. Aber es kann sich lohnen.

Wenn nun die Bundesagentur für Arbeit sagt, dass die Anzahl der Selbständigen, die ihre Einkünfte mit Hartz IV aufstocken, innerhalb von drei Jahren um mehr als 50000 auf im Durchschnitt 125000 im Jahr gestiegen ist, dann lässt sich das sehr unterschiedlich interpretieren. Man kann sagen, dass die Zahl der schlechten Geschäftsideen zugenommen hat. Und die Zahl derer, die ihr Einkommen so weit herunterrechnen, dass sie zusätzlich Geld vom Staat erhalten. Vermutlich gibt es einige üble Betrüger, die Mercedes fahren, ihre Einkünfte aber derart frech an der Steuer vorbeischleusen, dass sie auch noch Hartz IV beantragen können. Vermutlich aber ist die Zahl derer größer, die mit ihren Einkünften ohnehin knapp oberhalb der Hartz-Sätze liegen und versuchen, an ein paar Euro zusätzlich heranzukommen.

Legal ist auch das nicht, es zeigt aber, wie man diese Zahl ebenfalls sehen kann: Sie öffnet den Blick auf die Zukunft der Arbeit, in der die Grauzone des Prekären immer größer wird. Die Zahl der Menschen nimmt zu, die mal einen Job haben, mal arbeitslos sind und mal selbständig. Zu ihnen gehören Schulabbrecher wie Studierte, Hausfrauen mit Katzenpension wie Journalisten mit Büro im Schlafzimmer; zu ihnen gehören auch Handwerker, die Kredite für ihre Maschinen abstottern müssen. Zunehmend werden Menschen die Risiken der Arbeit selber tragen müssen. Das ist nicht gut, weil reguläre Arbeitsplätze mit hoher sozialer Sicherheit ein hohes Gut sind und an ihre Stelle oft die Fremd- und Selbstausbeutung tritt. Aber es ist auch nicht einfach nur schlecht.

Denn sie haben oft das kreative Potential, das die Etablierten, die Angestellten nicht haben, sie finden Wege, die andere nicht sehen, tragen - oft genug notgedrungen - Risiken, die andere nicht tragen wollen. Die von Thilo Sarrazin gescholtenen türkischen Obst- und Gemüsehändler, die Falafelbrater und Änderungsschneider zum Beispiel künden vom Aufstiegswillen und der Risikobereitschaft vieler Zuwanderer. Dass viele der Selbständigen, die Geld von der Bundesanstalt beziehen, in Berlin leben, ist kein Zufall: Hier sind die Mieten und damit die Existenzgründungskosten niedrig, in der Millionenstadt gibt es - vermutet oder tatsächlich - genügend Kunden, und es gibt genügend Arbeitslose und Jobber, die den Sprung wagen. Manche tun es naiv und scheitern. Manchen aber geht es nach einer Anschubhilfe wie Jeanette Wenzel, der Wildkräuterfrau: Sie setzen sich durch mit ihrer Idee. Im sicherheitsseligen Deutschland passiert das zu selten.

So gesehen sollten die Arbeitsagenturen froh sein über jeden, der nicht einfach Hartz IV bezieht, sondern selbständig arbeitet. Sie sollten Missbrauch verhindern, indem sie die Förderung begrenzen: Wer über Jahre hinweg nur Verluste macht, betreibt ein Hobby, mehr nicht. Und sie sollten die Unterstützung von einer Beratung abhängig machen: Zu viele Neu-Selbständige verwechseln zum Beispiel ihren Umsatz mit Einkommen. Aber im Grundsatz gebührt den Menschen Respekt, die sich mit ihrem Geschäft durchs Leben schlagen: Sie könnten die Mutmacher von morgen sein.

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