Seerechtsverträge:Flagge zeigen

Lesezeit: 5 min

Gefahr für ein einzigartiges Ökosystem: Die Ölkatastrophe vor Mauritius Anfang August. (Foto: AFP)

Das Völkerrecht regelt die Verantwortung für den Schutz der Weltmeere. Schwere Ölkatastrophen lassen sich damit aber nicht verhindern.

Von Marcel Grzanna

Stefan Kirchner kann die Konsequenzen der Klimakrise aus seinem Bürofenster beobachten. Der Hesse lebt und arbeitet im finnischen Rovaniemi, nur fünf Kilometer südlich vom Polarkreis. Weniger Schneefall im Winter, Sommertage über 30 Grad - das hat es so drastisch nicht gegeben, als er vor sieben Jahren seinen Job im Arctic Centre der Universität von Lappland antrat, der nördlichsten Universität Europas.

Kirchner forscht seit Jahren zu den Auswirkungen der Umweltzerstörung auf das Leben der indigenen Völker in der Arktis. Die Klimakrise hat unmittelbar damit zu tun. Die Erderwärmung bringt das arktische Eis, das nur vermeintlich ewige, zum Schmelzen, und die Permafrostböden tauen auf. Die Zerstörung könnte noch beschleunigt werden, weil der erleichterte Zugang zu Rohstoffen in der Region, wie beispielsweise Öl, Begehrlichkeiten geweckt hat.

Die Risiken für die Umwelt sind immens, sollte dort nach Öl gebohrt werden. Es gibt keine Erfahrung mit Bohrungen in der Arktis. Es mangelt an Technologien, um im Ernstfall Wasser unter Eisschichten reinigen zu können. Entlastungsbohrungen könnten aufgrund der Abgeschiedenheit von arktischen Ölfeldern wohl kaum ausreichend schnell eingeleitet werden.

Kirchner ist von Haus aus Jurist. Seine Schwerpunkte sind internationales Seerecht, Umweltschutzrecht und Menschenrecht. Seit Jahren beschäftigt er sich mit der Frage, was die Staatengemeinschaft tun kann, um Ölkatastrophen zu verhindern, und wer die Verantwortung trägt, wenn es dennoch zu einem ökologischen Desaster kommt. "Es mag zynisch klingen, angesichts der zahlreichen Ölkatastrophen, die wir in diesem Jahr schon erlebt haben, aber die Prävention auf der Welt hat sich insgesamt verbessert", sagt Kirchner. Als gut möchte er die Situation dennoch nicht bezeichnen.

Auch das Polarmeer ist dieses Jahr bereits betroffen. Im Juni leckte auf russischem Festland ein Öltank der russischen Firma Nornickel. 21 000 Tonnen Diesel liefen unkontrolliert in angrenzende Flüsse und mündeten schließlich im Meer. Laut Schätzungen der Umweltorganisation Greenpeace ist diese Menge jedoch nicht einmal ein Zehntel dessen, was inzwischen jedes Jahr über russische Flüsse in arktische Gewässer fließen soll. Oft unbemerkt von der Öffentlichkeit. Quellen für diese Mengenangaben gibt es allerdings nicht.

Die Ölkatastrophe auf Deepwater Horizon soll BP 65 Milliarden US-Dollar gekostet haben

Die Firma Nornickel ist vom russischen Staat zu einer Strafe in Höhe von 2,1 Milliarden Dollar verdonnert worden. Damit sollen in den kommenden Jahren die Kosten für die Reinigung der Gewässer gedeckt werden. Ob das Geld ausreicht, ist ungewiss. Zum Vergleich: Den britischen Ölkonzern BP soll der Tiefseeunfall bei Bohrungen seiner Plattform Deepwater Horizon vor zehn Jahren vor der US-Südküste 65 Milliarden US-Dollar für Reinigungsarbeiten, Kompensations- und Strafzahlungen gekostet haben. Schadenersatzforderungen durch Anwohner in Russland, deren Lebensgrundlage jetzt zerstört worden ist, hält Kirchner für "wenig erfolgversprechend".

Anders sieht es im Fall des inzwischen im Meer versenkten japanischen Frachters MV Wakashio vor der Küste von Mauritius im Indischen Ozean aus. Die örtlichen Behörden zeigten wahrlich kein vorbildliches Krisenmanagement. Dennoch ist zunächst einmal der Flaggenstaat des Frachters in der Verantwortung.

Völkerrechtliches Kerndokument zur Nutzung, aber auch zum Schutz der Meere ist dabei das UN-Seerechtsübereinkommen (SRÜ), das seit 1994 in Kraft ist. Es regelt vor allem die Verantwortlichkeit der Staaten in der sogenannten ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ), die sich bis zu 200 Seemeilen vor den jeweiligen Landesküsten aufs Meer erstreckt. 165 Staaten und die Europäische Union haben es unterzeichnet und ratifiziert.

Das japanische Schiff kreuzte unter den Farben Panamas die Meere. Damit steht das Land in Mittelamerika in der Pflicht. Es wird nicht bereit sein, die Kosten selbst zu tragen, sondern seinerseits den Eigentümer in Regress nehmen. Bereits im September hatte die Betreiberfirma Mitsui OSK Lines mitgeteilt, 7,9 Millionen Euro zur Verfügung stellen zu wollen. Der Großteil davon ist vorgesehen für die Reinigung der Umwelt. Auch lokale Fischer und örtliche Tourismusbetreiber sollen entschädigt werden. Voraussetzung dafür ist, dass ein Flaggenstaat seine Hausaufgaben erledigt hat. Dazu gehört einerseits die technische Abnahme der Schiffe, die ein Land unter seinen Farben fahren lässt, aber vor allem eine lückenlose Dokumentation, die Ölkatastrophen verhindern soll.

Flaggenstaaten unterhalten Stellen, ähnlich dem Bundesamt für Seeschifffahrt, die Zertifikate ausstellen, dass gewisse Standards erfüllt werden, die durch völkerrechtliche Verträge vereinbart worden sind. Dazu zählt der Ölschadenversicherungsnachweis. Jedes Schiff muss vom Betreiber versichert sein, um sicherzugehen, dass anfallende Kosten tatsächlich über ihn beglichen werden können. Verpflichtend ist auch, dass die Baustruktur des Schiffes mit Doppelwänden versehen sein muss. Einwändige Frachter dürfen theoretisch nicht mehr bewegt werden.

Weitere Standards setzte im Jahr 2006 die International Maritime Organisation (IMO), eine völkerrechtlich agierende Arbeitsschutzorganisation, um die Arbeitsbedingungen auf See zu verbessern. Auch die International Transport Workers Federation (ITF) setzt sich für "null Toleranz" für die Versklavung in der Schiffsindustrie ein. Doch noch immer berichten die Organisationen von Besatzungen, die schlecht oder gar nicht bezahlt werden oder zu wenig zu essen und zu trinken bekommen. Es gibt sogar Fälle, in denen Besatzungen regelrecht versklavt und auf den Schiffen für ein Jahr oder länger eingesperrt wurden. Die Arbeiter stammen oft aus Süd- oder Südostasien.

Trotz globaler Standards bei der Ausbildung von Seeleuten und den Bemühungen für bessere Arbeitsbedingungen sehen sich viele Besatzungen weiterhin schlechten Rahmenbedingungen ausgesetzt. Forscher Kirchner sieht auch darin eine Mitschuld für Ölkatastrophen. "Menschliche Fehler spielen eine nicht unwesentliche Rolle. Daher ist es richtig und wichtig, dass in den letzten Jahren nicht nur technische, sondern auch personelle Faktoren bei der Regulierung der Schifffahrt verstärkt beachtet worden sind", sagt er.

Ein Problem mit völkerrechtlichen Vereinbarungen ist jedoch, dass sie vornehmlich durch die Mitarbeit der Staaten mit Substanz und Wirkung gefüllt werden. Dass das nicht immer funktioniert, zeigt das Beispiel USA, die das UN-Seerechtsübereinkommen 26 Jahre nach seinem Inkrafttreten immer noch nicht ratifiziert haben. Obwohl alle Staaten die Bedeutung der marinen Ökosysteme betonen, ist es der Staatengemeinschaft trotz des UN-Seerechtsübereinkommens bis heute auch nicht gelungen, eine Art Verkehrsleitsystem auf den Ozeanen einzurichten. Dieses könnte verhindern, dass Schiffe auf Grund laufen und zerbrechen, was im Fall der MV Wakashio die Katastrophe wohl abgewendet hätte.

In Europa oder Nordamerika setzt man deswegen auch auf zusätzliche regionale Vereinbarungen. Das setzt alle Flaggenstaaten zusätzlich unter Druck und spart vor allem auch Zeit. Ein Schiff, das beispielsweise in Hamburg technisch überprüft wurde und wenig später in Amsterdam einläuft, bekommt aus der Hansestadt grünes Licht, wenn es nichts zu beanstanden gab.

Umweltschutz? Das war lange nicht das Hauptmotiv für Seerechtsverträge

Andererseits tauschen die Staaten auch Informationen darüber aus, welche Schiffe technisch oder formell Mängel ausweisen. Flaggenstaaten, die international zu häufig negativ auffallen, drohen mögliche Sanktionen. Der Umweltschutz war 1982, als das UN-Seerechtsübereinkommen verhandelt wurde, nicht einmal der Hauptbeweggrund. Vornehmlich ging es damals noch um die Fischerei. Seine Anwendung auf ökologische Aspekte macht es daher nicht einfacher. Kirchner und seine Kollegin Deniz Alkanli stellten in ihrer Analyse "Staatenverantwortlichkeit und völkerrechtlicher Meeresumweltschutz: Deepwater Horizon" schon vor Jahren fest, dass beispielsweise Kuba laut Völkerrecht ein Anrecht auf Schadenersatz gegenüber den USA hat, weil die Amerikaner ihrer behördlichen Aufsichtsverantwortung nicht nachgekommen seien. Eine entsprechende Forderung der Kubaner hatte es öffentlich allerdings nie gegeben.

Um dem Polarmeer zusätzlichen Schutz zu gewähren, wurde 1996 der Arktische Rat gegründet, der aus Anrainerstaaten, aber auch Ländern wie Dänemark oder den USA besteht. Länder wie Deutschland und die Volksrepublik China befinden sich seit einer Weile im Beobachterstatus. Ölförderung gibt es bislang vor den Küsten Alaskas, Norwegens und Russlands, alles in den ausschließlichen Wirtschaftszonen der Staaten. Umweltschützer fürchten jedoch, dass auch der Rat nicht verhindern wird, dass künftig tiefer in der Polarregion gebohrt werden soll.

© SZ vom 08.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: