Süddeutsche Zeitung

Seattle:Wo Reichtum entsteht, wächst Armut

Seattle boomt, seit Konzerne wie Amazon und Starbucks sich in der Stadt niederließen. Hier zeigt sich, was ein plötzlicher Aufschwung mit Metropolen macht.

Reportage von Jürgen Schmieder, Seattle

Gut, dass es Linda's Tavern noch gibt. Das Bier in der Kneipe auf dem Capitol Hill von Seattle kostet vier, ein Sattmacher-Sandwich mit Speck neun Dollar, und an der Holzwand, auf dem Weg zum Klo, steht die bestsortierte Grunge-Jukebox der Welt. An diesem Abend im Juni läuft erst "Memory Lane" von Elliott Smith, dann "Midlife Crisis" von Faith No More und schließlich "He's a Whore" von Big Black. Ist das nicht toll hier? An der Bar sitzen Leute in Arbeiterhosen, Flanellhemden und Parkas, es gibt einen antiken Videospielautomaten und eine noch antikere Holzbar im Außenbereich, und nirgends wird darauf hingewiesen, dass Kurt Cobain hier zum letzten Mal lebend gesehen worden ist. Man weiß es, oder eben nicht. Um es mit Cobain zu sagen: Whatever. Nevermind.

Wer in diesen Tagen draußen vor der Tür von Linda's Tavern steht und die Skyline der Stadt betrachtet, der bemerkt zuerst einen neontürkis beleuchteten Kran neben dem Highway I-5. Dann zwei weitere mit hellgrüner Beleuchtung, einen in Zartrosa und ganz im Norden einen in Knallblau, der so aussieht, als würde er auf die Space Needle deuten, das Wahrzeichen von Seattle. Die Kräne, es sind mehr als 20, sehen so aus, als hätte ein Architekt jeden einzelnen genau dorthin platziert, wo er steht, damit es ein stimmiges Gesamtbild ergibt. Die Kräne gehören zu dieser Stadt wie die beiden Amazon Towers oder der 104 Jahre alte Smith Tower, lange Zeit das höchste Gebäude westlich des Mississippi. Auf der Fahrt zur Kneipe erzählte der Taxifahrer, dass sich die Kranführer morgens absprechen müssen, damit sich die Katzausleger nicht in die Quere kommen.

Der Blick fällt von den leuchtenden Kränen und den prächtigen Hochhäusern hinüber zur Straßenecke neben Linda's Tavern, wo ein älterer Mann im grünen Bundeswehrparka einen Schlafsack ausgebreitet hat und gerade seinen Hund mit Fleisch aus der Dose füttert. Auf der anderen Straßenseite liegen zwei Leute in einem Zelt, die Füße ragen heraus auf den Gehsteig. Daneben: noch ein Zelt, gerade unbelegt. Und noch eines. Diese Zelte, sie gehören zu Seattle wie die Kräne.

Die Stadt im Nordwesten der Vereinigten Staaten gedeiht prächtig, sie gehört seit Jahren zu den amerikanischen Metropolen mit dem größten Wirtschaftswachstum und der größten Zuwanderung an hochqualifizierten Menschen. Andererseits leben hier immer mehr Menschen auf der Straße oder im Auto - bei der letzten Zählung der Vereinigung All Home im Januar waren es 12 112. Wie passt das zusammen? Oder hat es gar miteinander zu tun? In "Memory Lane" singt Elliott Smith, sinngemäß übersetzt: "An diesem Ort endest du, wenn du das Rennen verlierst."

Es war auch früher nicht alles gut hier

Vor 50 Jahren war Seattle eine Arbeiterstadt, die Leute haben am Hafen, in den Wäldern oder in den Fabriken des Flugzeugherstellers Boeing geschuftet. Arbeiterhosen, Flanellhemden und Parkas waren hier nicht, wie es die Musikindustrie später gern vermarktete, die Uniform der Rebellen, sondern es war die praktische Kleidung von Menschen in einer Stadt, in der elfeinhalb Monate lang Herbst ist und zwei Wochen lang Spätherbst.

"Seattle war ein Nirwana, eine Stadt mit hoher Lebensqualität und ohne die urbanen Probleme der Industrie-Metropolen im Mittleren Westen oder an der Ostküste", sagt der Städteplaner David Bley. Er ist vor 46 Jahren nach Seattle gekommen, hat Bürgermeister und Unternehmen beraten, mittlerweile leitet er die Pacific-Northwest-Initiative der Bill & Melinda Gates Foundation, die gegen Armut von Familien im US-Bundesstaat Washington kämpft. Natürlich war auch damals nicht alles gut hier, es gab Massenentlassungen bei Boeing, hohe Arbeitslosigkeit, und in den Bars und Kneipen wurde Grunge-Musik gespielt, jener raue Sound, der durch Bands wie Nirvana, Pearl Jam und Soundgarden bald weltweit bekannt wurde - und wohl immer mit Seattle verbunden bleiben wird.

Doch dann gründete Bill Gates den Computerkonzern Microsoft, der sich in Redmond, auf der anderen Seite des Lake Washington, niederließ, Jeff Bezos startete den Alles-Lieferanten Amazon und Howard Schultz die Kaffeehauskette Starbucks. Konzerne wie Nordstrom, Costco und T-Mobile USA verlegten ihre Firmensitze nach Seattle. Das blieb nicht ohne Folgen. Während im Jahr 1980 etwa 490 000 Menschen in Seattle lebten, sind es heute mehr als 720 000 - rechnet man die Vororte hinzu, sogar fast vier Millionen. Die Stadt gilt nun nicht mehr als altmodisch, dreckig und melancholisch, sondern als modern, erfolgreich und lebenswert.

Der wirtschaftliche Aufschwung allerdings hat seinen Preis, weil es auch Menschen gibt, die nicht modern und erfolgreich sind und sich deshalb keine Wohnung mehr leisten können in dieser Stadt. Leute im Anzug (oder wenigstens im Designer-Kapuzenpulli) steigen nun auf dem Weg vom Büro zum Luxusrestaurant über Menschen in Parkas hinweg oder laufen Slalom um die Zelte. "Und was jeder weiß: Du bist nicht wie die", singt Elliott Smith: "Und sie treten dir gegen den Kopf."

Es gibt drei Kurven, die verdeutlichen, was in Seattle passiert ist, und die eine verblüffende Ähnlichkeit aufweisen: Alle drei steigen von 2007 bis 2011 kräftig an, danach gibt es eine Delle bis 2014, und dann steigen sie wieder steil nach oben. Die inflationsbereinigte Wirtschaftsleistung von Seattle ist in den vergangenen zehn Jahren von 14,9 auf 17,1 Milliarden Dollar gestiegen, die Kaltmiete für eine 40-Quadratmeter-Wohnung von knapp 800 auf mehr als 1400 Dollar - und die Zahl der Obdachlosen von 7900 auf mehr als 12 000.

"Jobs sind wie Gold, man sollte dieses Wachstum nicht als selbstverständlich hinnehmen", sagt Städteplaner Bley. Seattle sei vom Aufschwung überrascht worden, die Stadt habe nicht schnell genug und vor allem nicht würdevoll mitwachsen können. Es gibt zum Beispiel in der Mercer Street Hochhäuser, von denen aus man in weniger als zehn Minuten zu den Bürogebäuden von Amazon laufen kann. Der Taxifahrer nennt diese Häuser abfällig "Dorms": Studentenbuden. Es sind Häuser, die aussehen wie diese hippen Billighotels, die nun auch in deutschen Großstädten überall entstehen. In so einem grauen Kasten mit türkisem Eingang und gelben Fenstern, Adresse: 11 W Mercer St., sind derzeit ein paar Wohnungen zu haben. Ein 50-Quadratmeter-Zimmer kostet 1825 Dollar, die Zweizimmervariante (56 Quadratmeter) 2000 Dollar pro Monat. Wer sich das leisten kann? Whatever. Nevermind.

Seattle boomt, es gibt edle Restaurants wie zum Beispiel das Canlis mit Blick auf den Lake Union. Es bietet ausschließlich Vier-Gänge-Menüs für 125 Dollar, das billigste Bier (Kölsch Double Mountain) kostet zehn, das teuerste (Scaldis Prestige de Nuits aus Belgien, immerhin ein Dreiviertelliter) 136 Dollar. Eine Flasche Blanc de Blancs des französischen Champagnerhauses Salon aus dem Jahr 1983: 9000 Dollar. Es gibt in Seattle genügend Ingenieure, Programmierer und Manager, die sich das leisten können - nur: die Köche, Bedienungen, Putzleute und anderen Servicekräfte können sich das Leben in Seattle nicht mehr leisten. Der gesetzliche Mindestlohn liegt bei 15 Dollar pro Stunde, so hoch wie nirgends sonst in den Vereinigten Staaten. Bestenfalls ergibt das ein Gehalt von etwa 2700 Dollar im Monat, zur Erinnerung: Das 50-Quadratmeter-Zimmer kostet 1825 Dollar. "Das reicht nicht in dieser Stadt", sagt Bley.

Unternehmen sollen zu einer "Head Tax" verpflichtet werden

Auf der Suche nach einer Lösung hat die Stadt nun ein heftig umstrittenes Gesetz verabschiedet, das große Unternehmen von kommendem Jahr an zu einer sogenannten Head Tax, einer Abgabe von 275 Dollar je Angestellten verpflichtet. "Wir müssen dringend etwas gegen die Obdachlosigkeit tun", sagte Bürgermeisterin Jenny Durkan bei der Unterzeichnung des Gesetzes. Die Stadt hofft auf Einnahmen von 47 Millionen Dollar im Jahr, die sie vor allem in günstigen Wohnraum investieren möchte: "Wir müssen uns gemeinsam darum kümmern, dass Seattle eine bezahlbare Stadt bleibt", sagt die Bürgermeisterin.

Geplant ist die Errichtung von 1500 bezahlbaren Wohneinheiten in den kommenden fünf Jahren. Das reiche nicht, sagt die Stadträtin Kshama Sawant, benötigt würden 140 000 dieser Einheiten, öffentlicher und privater Sektor würden jedoch gemeinsam gerade mal 15 000 planen. Sie fordert deshalb eine Erhöhung der Abgabe für besonders profitable Firmen wie Amazon. Die Stadt, sagt sie, könnte sich auf diese Weise Einnahmen in Höhe von 150 Millionen Dollar pro Jahr sichern. "Jeff Bezos sagt, dass er so viel Geld habe, dass er nicht wisse, wohin damit. Diese Steuer kann er doch aus der Portokasse bezahlen."

Die mehr als 500 betroffenen Unternehmen wehren sich natürlich gegen diese Sondersteuer. Amazon, das in Seattle mehr als 45 000 Menschen beschäftigt und deshalb zusätzlich 12,4 Millionen Dollar pro Jahr an die Stadt zahlen müsste, hat schon mal die Muskeln spielen lassen: Der Konzern stoppte die Planungen für einen neuen Büroturm und droht, einen bereits im Bau befindlichen Wolkenkratzer nicht in Betrieb zu nehmen. Im November soll es ein Referendum gegen das Gesetz geben.

Es geht um mehr als 7000 Arbeitsplätze, und die Stadt muss sich entscheiden: Will sie die Arbeitgeber, die für diesen Aufschwung und letztlich auch fantastische Steuereinnahmen für die Stadt gesorgt haben, bei Laune halten - oder will sie jenen helfen, die von diesem Aufschwung nicht viel mitbekommen? Bürgermeisterin Durkan sagt: "Unsere Stadt muss unbedingt etwas für die tun, die zurückgelassen werden." Sie sagt aber auch: "Ich bin zutiefst besorgt über die Auswirkungen, die diese Entscheidung auf zahlreiche Arbeitsplätze in dieser Stadt haben wird."

Seattle ist nicht allein mit diesem Problem. Debatten über rasant steigende Lebenshaltungskosten gibt es auch in Portland, in San Francisco, in Los Angeles - und es gibt sie mittlerweile auch in deutschen Städten wie München, Frankfurt oder Stuttgart. Im kalifornischen Silicon Valley denken zahlreiche Stadtverwaltungen ebenfalls über die Einführung einer Sonderabgabe für Unternehmen nach, in Mountain View etwa, wo Google seinen Sitz hat, in Cupertino (Apple) und auch in San Francisco (Twitter, Uber, Salesforce). Das Problem nur, und das ist zugleich die entscheidende Frage in dieser Debatte: Wer braucht wen mehr?

Es ist kein Zufall, dass zum Beispiel der Elektroautohersteller Tesla seine "Gigafactory 1" im US-Bundesstaat Nevada errichtet hat, das Unternehmen bekommt dort Steuererleichterungen und Zuschüsse in Milliardenhöhe. In dieser Woche verkündete Firmengründer Elon Musk bei einem Gespräch mit Investoren, dass er weltweit mehr als zehn dieser Gigafactorys errichten möchte: zunächst eine in Shanghai, Ende dieses Jahres will er einen europäischen Standort bekannt geben. Es ist anzunehmen, dass in einigen Städten nun eifrig gerechnet wird. Musk gilt als Meister in der Kunst, Politiker für sich zu begeistern und dabei für seine Unternehmen möglichst viel herauszuschlagen.

Auch Amazon hat einen Wettbewerb um den Standort des zweiten Firmensitzes in den Vereinigten Staaten ausgerufen. Das Unternehmen möchte mehr als fünf Milliarden Dollar investieren und innerhalb von zehn Jahren mehr als 50 000 Arbeitsplätze schaffen. 20 Städte sind in der engeren Wahl, und sie alle winken mit Steuererleichterungen und Zuschüssen. Als favorisiert gelten derzeit nicht Metropolen wie Boston, Los Angeles oder New York, sondern kleinere Städte wie Raleigh in North Carolina mit 460 000 Einwohnern, Nashville (Tennessee, 700 000) und Pittsburgh (Pennsylvania, 300 000). "Arbeitsplätze sind wie Gold", wiederholt Gates-Foundation-Direktor Bley noch einmal: "Ich würde diesen Städten jedoch raten, sich damit zu beschäftigen, wie sie mit diesem Wachstum umgehen wollen."

Wohnungen für sozial Schwächere werden kaum gebaut

Eine Stadt, die dem wirtschaftlichen Aufschwung und der Zuwanderung mit Würde begegnen und ihr Alleinstellungsmerkmal - das ist in Seattle nun mal die bittersüße Melancholie von Leuten in Arbeiterhosen, Flanellhemden und Parkas - nicht verlieren möchte, eine solche Stadt muss bauen und bauen und bauen. Nur so lassen sich Nachfrage und Angebot in Einklang bringen, kann ein rasanter Anstieg der Mietpreise verhindert werden. Natürlich wird in Seattle gebaut, sogar sehr viel, wie an den Kränen unschwer zu erkennen ist. Vor zehn Jahren gab es in der Stadt 21 Gebäude, die höher als 400 Fuß (122 Meter) waren. Mittlerweile gibt es 37 Wolkenkratzer, in zwei Jahren sollen es 51 sein, neun weitere Bauten sind bereits genehmigt, und 17 Vorschläge liegen dem Stadtrat zur Genehmigung vor. Doch Wohnungen für sozial Schwächere sind, man ahnt es, kaum darunter. Noch.

Denn die Debatte wird sich nicht mehr stoppen lassen. Wen immer man fragt, die meisten Menschen in Seattle sehnen sich nicht nach der Vergangenheit, sie wollen keine Stadt, die dreckig und melancholisch ist, sondern eine, die modern, erfolgreich und lebenswert - aber eben auch erschwinglich bleibt. Es soll auch künftig einen Laden wie Linda's Tavern mit Bier für vier Dollar, Sattmacher-Sandwich mit Speck für neun Dollar und der bestsortierten Grunge-Jukebox der Welt geben. Whatever. Nevermind.

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Quelle:
SZ vom 09.06.2018/vit
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