Schwellenländer:Die Vergessenen der Krise

Lesezeit: 4 min

Die Ausbreitung des Virus trifft Schwellenländer besonders hart. Ihnen fehlt das Geld, um Bürger und Wirtschaft zu unterstützen. Sie brauchen nun rasch die Hilfe der reichen Nationen.

Von Christoph Gurk und Bernd Dörries, Buenos Aires/Kapstadt

Als Cleonice Gonçalves am 17. März starb, wurde vielen Menschen in Brasilien auf einen Schlag klar, wie groß die Katastrophe werden würde. 63 Jahre alt wurde Gonçalves, eine Frau aus einfachen Verhältnissen, die aber fünf Tage in der Woche in Leblon verbrachte, einem Nobelviertel in Rio de Janeiro. Gonçalves selbst hätte sich ein Leben dort nie leisten können, sie schlief nachts in einem kleinen Bedienstetenzimmer, tagsüber putzte sie Klos und machte die Betten der Patroa, ihrer Arbeitgeberin.

Gerade erst war diese aus dem Urlaub zurückgekommen, Italien, Karneval. Kaum wieder zu Hause, fühlte die ältere Dame sich krank. Sie ließ sich testen auf das neue Virus, das damals schon in Italien wütete, in Brasilien aber gerade erst ankam. Während sie auf das Ergebnis wartete, wollte die Patroa allerdings nicht auf die Haushälterin verzichten. Und als dann endlich die Gewissheit kam, war es zu spät: Das Testergebnis war positiv. Gonçalves war da aber bereits tot.

Die 63-jährige Haushälterin war nicht nur das erste Corona-Opfer in Rio, sondern auch die erste Tote, die nicht aus der reichen brasilianischen Oberschicht stammte. Auf einmal war klar: Sars-CoV-2 ist nicht nur ein Virus, das Reiche befällt. Im Gegenteil: Vor allem die Armen wird es treffen. Weil es in den engen Gassen der Favelas beste Bedingungen für seine Verbreitung findet. Oder weil die Quarantänemaßnahmen, die längst auch für Rio gelten, die Menschen noch tiefer in die Armut stürzen. Auch vor der Corona-Krise schwächelte die Wirtschaft in Brasilien schon, nun soll sie nicht nur stagnieren, sondern sogar schrumpfen. Und während man in Europa darüber diskutiert, ob man Ausgangsbeschränkungen wieder lockert, und wie man die Milliardenschweren Hilfsgelder verteilt, muss Brasilien nicht nur noch den großen Ausbruch befürchten, sondern auch die Krise danach.

Ob Afrika, Asien oder Lateinamerika: Überall bietet sich ein ähnlich dramatisches Bild

Ähnlich geht es vielen anderen Schwellenländern in Lateinamerika, Asien und Afrika. Weder auf die medizinische, noch die wirtschaftliche Krise sind sie ausreichend vorbereitet. Gesundheitssysteme sind unterfinanziert, viele Länder haben darum schon früh strenge Ausgangssperren eingeführt, Schulen, Geschäfte und Fabriken geschlossen. Das hat etwas Zeit gebracht, Millionen Menschen aber auch in existenzielle Nöte. So wurden in Südafrika zum Beispiel schon Mitte März umfangreiche Ausgangssperren verhängt. Bis auf wenige als "dringend notwendig" erachtete Berufstätige darf niemand mehr auf die Straße, der Verkauf von Alkohol und Zigaretten ist verboten, selbst das Rausbringen des Hundes. Der Effekt war sofort zu spüren, fünf Millionen Südafrikaner arbeiten ohne Arbeitsvertrag, viele von ihnen haben nun kein Einkommen mehr - und der Staat kein Geld, um ihnen zu helfen. Südafrika trifft die Krise zu einem bitteren Zeitpunkt, das Land war gerade dabei, sich von einem Jahrzehnt der Korruption und Plünderung unter dem ehemaligen Präsidenten Jacob Zuma zu erholen. Es gab Fortschritte, die Steuerverwaltung wurde effizienter, für angeschlagene Staatskonzerne wie South African Airways gab es Rettungspläne. Die nun wohl umsonst waren. Zur Sanierung der Fluglinie sei kein Geld da, sagte der Finanzminister Anfang der Woche, sie steuert wohl auf die Pleite zu. Was auch dem ganzen Staat drohen könnte, so massiv könnte der Abschwung sein und damit die Einnahmeausfälle.

Egal ob Afrika, Asien oder Lateinamerika: Überall bietet sich in den Schwellenländern ein ähnlich dramatisches Bild. Nicht einmal die Schätze, die unter den Böden und vor den Küsten vieler Staaten schlummern, können derzeit helfen. Die Rohstoffpreise sind seit Beginn der Krise teilweise dramatisch gefallen, allen voran der für Öl. Auf einmal klaffen riesige Löcher in den Staatshaushalten einiger Länder, in Afrika trifft es vor allem Nigeria und Angola, in Lateinamerika Ecuador und Venezuela, aber auch Mexiko und eben Brasilien. Dazu kommt, dass nicht nur immer weniger Geld hereinkommt - es fließt gleichzeitig auch immer mehr Kapital ab. Massenhaft ziehen die Investoren ihre Vermögen aus den Schwellenländern ab, 83 Milliarden sollen es allein im März gewesen sein, so viel Kapital wie noch nie in der Geschichte zuvor und weit mehr, als in den allerschlimmsten Zeiten der letzten globalen Krise von 2008.

Für die Schwellenländer ist dieser Geldschwund doppelt schlimm. Denn viele Anleger stecken ihr Kapital nun in den Dollar. Der Wert der US-Währung steigt darum, der mexikanische Peso, der russische Rubel oder der südafrikanische Rand dagegen verlieren im Vergleich an Wert. Ein Dollar kostet in Brasilien heute mehr als 5 Real, dabei war das bis vor wenigen Monaten für die meisten Menschen in dem Land kaum vorstellbar. Der Wertverlust der heimischen Währung gegenüber dem Dollar macht nicht nur Einkäufe im Ausland teurer, sondern lässt auch die realen Schulden immer größer werden. Denn vor allem die Länder Lateinamerikas haben einen Großteil ihrer Verbindlichkeiten in Dollar aufgenommen.

Die Entwicklungsorganisation Oxfam warnt, die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Corona-Pandemie könnten fast eine halbe Milliarde Menschen zusätzlich in Armut stürzen. António Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen, fordert darum weltweite Solidarität. Bisher ist die Reaktion der Reichen auf die Nöte der Entwicklungs- und Schwellenländer aber eher verhalten, zu beschäftigt ist man mit den eigenen Problemen.

Für die ärmsten der Armen hat der Internationale Währungsfonds einen Hilfstopf aufgesetzt. 500 Millionen Dollar, Kleingeld im Vergleich zu den 750 Milliarden, die alleine Deutschland für seine Wirtschaft locker gemacht hat. Die einfachste und schnellste Art zu helfen, da sind sich viele Experten einig, wäre ohnehin ein Schuldenerlass oder zumindest eine zinsfreie Aufschiebung weiterer Zahlungen. Entwicklungsminister Gerd Müller macht sich zum Beispiel für so ein Moratorium stark. Und auf Betreiben des IWF stunden die G20-Staaten immerhin den ärmsten 77 Nationen der Welt bis Jahresende anstehende Zinszahlungen und Tilgungsleistungen. Doch angesichts der dramatischen Folgen der Pandemie stellt sich die Frage, ob es nicht sehr viel mehr und sehr viel entschiedenere Hilfe bräuchte.

Einen Monat nach dem Tod der brasilianischen Haushälterin Cleonice Gonçalves in Rio ist die Zahl der Coronavirus- Infizierten in Brasilien auf über 35 000 gestiegen. Krankenhäuser sind überfüllt, auf Friedhöfen werden Hunderte Gräber ausgehoben und schon jetzt sind mehr als 2000 Menschen gestorben. Immer mehr der Opfer kommen dabei aus Favelas und Vorstädten. Die Seuche, daran besteht kein Zweifel mehr, hat längst die Armen erreicht.

© SZ vom 20.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: