Schweiz:Die Schweiz erlebt, was noch niedrigere Zinsen mit der Wirtschaft anstellen

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Wie tief können die Zinsen noch ins Minus sinken? Da lohnt der Blick in die Schweiz. Dort ist man schon viel weiter - also niedriger.

Von Harald Freiberger und Charlotte Theile

Die Negativzinsen fressen sich in den Alltag der Deutschen. Vor wenigen Tagen kündigte die Postbank an, dass sie das Gratis-Girokonto für die meisten Kunden abschafft; sie begründete das mit den niedrigen Zinsen. Vor zwei Wochen wurde bekannt, dass mit der Raiffeisenbank Gmund die erste deutsche Filialbank den Strafzins an ihre Privatkunden weitergibt; wer mehr als 100 000 Euro bei ihr angelegt hat, bekommt davon im Jahr 0,4 Prozent abgezogen.

Viele Bundesbürger fragen sich, wohin das noch führt. Wird der Strafzins irgendwann auch auf ihr Erspartes fällig? Zahlen sie drauf, wenn sie Geld zur Bank bringen?

Bei der Antwort auf diese Fragen hilft möglicherweise ein Blick in die Schweiz. Dort sind die Zinsen schon länger und deutlich tiefer im Minus. Der Leitzins der Schweizer Nationalbank beträgt derzeit minus 0,75 Prozent, in der Eurozone sind es Null Prozent. Der Strafzins, den Banken zahlen müssen, wenn sie Geld kurzfristig bei der Nationalbank parken, liegt in der Schweiz bei minus 0,75 Prozent, in der Euro-Zone bei minus 0,4 Prozent.

Auf den ersten Blick hat das Schweizer Vorbild für Bundesbürger etwas Beruhigendes. Denn normale Sparer müssen dort bis heute bei ihrer Bank keinen Strafzins zahlen. Die Experten glauben auch nicht, dass es je so kommen wird. "Die Untergrenze liegt bei einem Anlagebetrag von 100 000 Franken (umgerechnet 92 000 Euro), darunter gelten Anleger als Kleinsparer", sagt Thomas Stucki, Anlagechef der St. Galler Kantonalbank, der früher für die Nationalbank arbeitete. Er kann sich nicht vorstellen, dass Banken je Kleinsparer mit Negativzinsen belasten. "Das Reputationsrisiko wäre zu groß", sagt er.

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Bisher gibt es in der Schweiz nur eine Bank, die auch bei kleineren Vermögen Strafzinsen berechnet: die Alternative Bank. Sie spielt aber nur eine marginale Rolle. Das heißt aber nicht, dass die Schweizer die Lage entspannt sehen. Im Gegenteil: Die kritischen Stimmen werden mit jedem Tag lauter. Sie warnen vor den fatalen Nebenwirkungen der Negativzinsen.

Janwillem Acket, Chefökonom der Schweizer Privatbank Julius Bär, wählt ein drastisches Bild. Während die meisten Fachleute die Negativzinsen mit einer "bitteren Pille" vergleichen, die der Patient eben schlucken müsse, um gesund zu werden, spricht Acket von einer "Chemotherapie". Zwar müsse die Schweiz nicht auf der Intensivstation gepflegt werden, doch das Prinzip dieser Behandlung, dass nicht nur die kranken, sondern auch viele gesunde Zellen getroffen würden, das treffe zu. "Die Nationalbank will ja weder die Pensionskassen noch die schweizerischen Anleger treffen, die Geld fürs Alter zurücklegen wollen," sagt Acket. Genau das passiere aber, seit die Nationalbank die Negativzinsen Anfang 2015 eingeführt habe. Eine Art Kollateralschaden also.

Das Beispiel Schweiz zeigt auch, dass es immer noch ein bisschen tiefer geht. "Ursprünglich dachte man, unter minus 0,5 Prozent könne der Zins nicht sinken", sagt Ex-Notenbanker Stucki. Das entspreche etwa den Kosten für Lagerung und Versicherung von Bargeld. Inzwischen aber glaube man, dass selbst minus 1,0 Prozent möglich sind.

Die Folgen sind vor allem für Großanleger spürbar, für Pensionskassen und Versicherungen. Die meisten Banken haben die Grenze, ab der sie Strafzinsen verlangen, auf ein bis zwei Millionen Euro gesenkt. Manche Unternehmen verfügen über eine Liquidität in dreistelliger Millionenhöhe. Man kann sich ausrechnen, was ein Strafzins von 0,75 Prozent für sie bedeutet.

Die Großanleger versuchen, Liquidität abzubauen und irgendwie noch Rendite zu erwirtschaften. Doch auch sichere Staatsanleihen wie jene der Schweiz oder der Bundesrepublik rentieren mittlerweile im Minus. "Es gibt zwei Mittel für Anleger, eine höhere Rendite mit Anleihen zu erzielen: über längere Laufzeiten und über schlechtere Qualitäten, also über Anleihen mit einem schlechteren Rating", sagt Stucki. Dies berge große Risiken für das gesamte Finanzsystem. "Man weiß nicht, wie schlechte Schuldner in zehn Jahren dastehen, bis dann werden wir bestimmt die nächste Rezession erlebt haben." Er ist sicher, dass Anleger, die Abstriche an die Qualität machen, davon eingeholt würden.

Für Chefvolkswirt Acket haben negative Zinsen ohnehin nicht den Effekt, den sich die Zentralbanker erhoffen: "Die Menschen konsumieren deshalb nicht mehr. Sie werden, im Gegenteil, nervös, weil sie Angst haben, dass ihre Altersvorsorge in Gefahr ist", glaubt er. Das führe zu noch mehr Spar-Bemühungen. Statt das Geld auszugeben, würden die Menschen krampfhaft nach Anlageformen suchen, die noch Rendite versprechen - und dabei zunehmend in "unseriöse Geschäftsmodelle hineinlaufen".

Ein gewaltiges Risiko

Die Folge? Überhitzte Märkte, etwa auf dem Zürcher Immobiliensektor. "Mit dem vielen Geld der Notenbanken wird im Moment eine Blase gefüllt, bei Aktien noch gemäßigt, sehr stark aber schon bei Immobilien", sagt auch Stucki. Und jeder neue Schock verschärfe das Problem noch, beobachtet Acket: "Die Schweiz sieht in dieser Welt immer mehr wie eine Idylle aus, in der noch alles in Ordnung ist." Das führe dazu, dass immer mehr Menschen ihr Vermögen in die Schweiz tragen - wo es einen erheblichen Aufwertungsdruck auf den Schweizer Franken entfaltet. Dem muss die Nationalbank entgegenwirken, zu immer höheren Kosten. Die Fremdwährungsreserven der Nationalbank werden durch die Interventionen auf dem Währungsmarkt immer weiter aufgebläht. Ein gewaltiges Risiko, das die Abhängigkeit der Schweiz gegenüber dem europäischen Ausland zementiert.

Das Grundproblem der Schweiz ist, dass Investoren sie in der Euro-Krise als sicheren Hafen sehen und in Franken investieren. Dadurch aber wird dieser immer stärker, was für die Export-abhängigen Unternehmen zu einem immer größeren Problem wird. Deshalb muss die Notenbank die Zinsen niedriger setzen als in der Euro-Zone: Sie ist abhängig von der Zinspolitik der Europäischen Zentralbank. "Wenn die EU der Hund ist, ist die Schweiz der Schwanz", sagt Acket. "Und der wedelt mit, wenn es nötig ist." Der Chefvolkswirt beobachtet die zunehmende Verunsicherung der Bürger, die Überschuldung in den wichtigen Volkswirtschaften und die Verzerrungen an den Märkten mit großer Sorge: "Die Situation erinnert mich an die 1930er Jahre. Eine ausgesprochen gefährliche Zeit."

© SZ vom 23.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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