Süddeutsche Zeitung

Schweiz:Der kranke Zauberberg

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In der heilenden Höhenluft von Davos fällt ein Sanatorium nach dem anderen ins finanzielle Siechtum.

Von Thomas Kirchner

Das Interview mit Dr. Rainer Disch ist kurz. Noch bevor er die erste Frage hört, sagt er: "Ich dementiere alles." Sein Gesicht ist weiß wie sein Hemd, der Kuli rotiert zwischen den Fingern, die Stimme zittert.

Nach drei Sätzen ist Schluss. "Ich mag nicht mehr reden, gehen Sie." 13 Jahre lang war der deutsche Dermatologe ärztlicher Leiter der Alexanderhausklinik zu Davos. Ende November hat die renommierte Höhenklinik Konkurs angemeldet.

Zwei Tage blieben den rund 100 Angestellten, die Patienten auszuquartieren und das weiße Gebäude mit dem Türmchen auf dem Dach zu räumen. Es liegt an der Promenade, der teuersten Straße des Schweizer Kurortes.

"Fassungslos auf der Straße"

Während seine Mitarbeiter nun arbeitslos sind, darf Dr. Disch in seiner Praxis noch behandeln. Aber jeden Moment könnte der Konkursverwalter kommen und ihn hinauswerfen. "Ich geh' dann mal", ruft Frau Ertl, seine blonde Sprechstundenhilfe, ins Zimmer hinein. "Du kommst doch wieder, ja?" fragt Disch.

Seine Wut richtet sich gegen den Eigentümer der Klinik, den Nürnberger Fritz Mayer, dessen Europäische Klinik-Treuhand und Management AG mit Beteiligungen an deutschen und schweizerischen Privatkliniken in Schwierigkeiten geraten ist. "Unethisch und menschenverachtend" sei das Vorgehen der Klinikleitung, schimpft der Davoser Ärzteverein, die Entlassenen stünden "fassungslos auf der Straße".

Die Auslastung des Hauses sei im vergangenen Jahr dramatisch gesunken, hält Andrea von Rechenberg, Mayers Rechtsvertreter, dagegen. "Wir fanden keinen Käufer, also blieb nur die schnelle Schließung, sonst wäre der Schaden noch größer geworden."

Die Alexanderhausklinik war nicht die einzige, die zum Verkauf stand. In Davos, bekannt für sein gesundes Klima, siechen die Sanatorien dahin. In den Fünfzigerjahren gab es 24, vor ein paar Wochen noch sechs. Dann schlossen die Höhenklinik Valbella, die dem deutschen Staat gehört, die Alexanderhausklinik, und im März macht die Thurgauer Schaffhauser Höhenklinik dicht.

Auf der Kippe steht auch die Alpine Kinderklinik. Sie hat zu wenig Patienten. Übrig bleiben die ebenfalls Deutschen gehörende Hochgebirgsklinik in Davos-Wolfgang sowie die Zürcher Höhenklinik. Sie hat keine Sorgen, weil der Kanton Zürich sie mit jährlich 17 Millionen Franken subventioniert.

Das plötzliche Kliniksterben hat die Davoser aufgerüttelt. 300 Arbeitsplätze sind weg, und das Image bröckelt, denn das Geschäft mit der Gesundheit war so etwas wie die raison d'être von Davos, der Grund für den Aufstieg des Bergdorfes zu einem der bekanntesten Kurorte der Welt.

Von Deutschen geprägt

Seit bald 140 Jahren werden Kranke dort hinauf geschickt, um in 1600 Metern Höhe feuchte Flecken auf der Lunge oder schuppige Stellen an den Beinen auszukurieren.

Die größte Gruppe bildeten stets die Deutschen, überhaupt ist das Landwassertal geprägt von deutschem Wesen und Wirken. Es war der badische Arzt Alexander Spengler, der Mitte des 19. Jahrhunderts die Heilwirkung des Davoser Klimas für die weit verbreitete Tuberkulose erkannte.

Sein 1882 gegründetes "Alexanderhaus", die erste "Volksheilstätte", stand an der Stelle der jetzt geschlossenen Klinik. Sein Landsmann Karl Turban, der Davoser "Tuberkulose-Tyrann", führte die Liegekur ein, verbunden mit der Überzeugung, dass der Arzt kraft seiner Autorität die Lebensführung der Patienten beherrschen müsse. Das Sprechzimmer solle "zum Beichtstuhle werden".

Thomas Mann machte diese todesnahe, so abstoßende wie faszinierende Welt mit seinem 1924 erschienenen "Zauberberg"-Roman berühmt. Das Sanatorium "Berghof", in dem sein Hamburger Held Hans Castorp nicht wie geplant drei Wochen, sondern sieben Jahre verbringt, ist in der Hand des despotischen deutschen Hofrats Behrens.

Mit dem Ende der beiden deutschen Krankenhäuser geht nun der letzte Bezug zu jener Zeit verloren. Nach dem Abbild der Valbella-Klinik, die talaufwärts gesehen links auf einer bewaldeten Anhöhe thront, hatte Thomas Mann das Äußere des "Berghofs" beschrieben: "ein lang gestrecktes Gebäude mit Kuppelturm, das vor lauter Balkonlogen von weitem löcherig und porös wirkte wie ein Schwamm".

Billiges Hotel statt teurer Klinik

An den Jugendstil-Palast erinnert nur das alte Foto in der Eingangshalle. Ein Umbau in den Fünfzigerjahren machte die Klinik zum Beton-Kasten mit dem Charme eines Kreiswehrersatzamts.

Von Fassade und Fensterrahmen blättert Farbe ab, und im Aufenthaltsraum glänzen rote Kacheln aus den Siebzigern neben gelb-bunten Stuhlbezügen aus den Achtzigern. "Ach, wenn es nur das Äußere wäre", klagt Chefarzt Konrad Hartung, der das Haus abwickelt, bevor es demnächst als Billig-Hotel wieder eröffnet. "Die medizinische Ausrüstung war veraltet. Aber woher das Geld nehmen?"

Statt Arztkittel trägt Hartung nun einen braunen Wollpulli. Er hat Glück gehabt, er ist 63, seine Abfindung reicht bis zur Rente. Seit 1978 leitete der hagere Thüringer die Höhenklinik Valbella. Sie wurde nie subventioniert, lebte von den Pflegesätzen.

Noch Mitte der Neunzigerjahre sei sie gut belegt gewesen, erzählt Hartung mit leiser Stimme. Dann kamen die Gesundheitsreformen und Sparrunden. Die Regeln für Rehabilitationskuren wurden strenger.

Der Eigenanteil stieg, die Patienten mussten mehr Urlaub opfern, und wenn überhaupt, schickten Landesversicherungsanstalten und Versorgungsämter Allergiker lieber an die Nordsee als in die teure Schweiz. "Medizinisch nicht nachvollziehbar", sagt Hartung. "Das Klima hier, die hausstaubmilbenfreie Luft, das ist nun einmal besonders gut für diese Patienten." 2003 blieb mehr als die Hälfte der 102 Betten leer.

Wie 1918

Es kamen fast nur noch Kriegsversehrte, Durchschnittsalter 80 - die gleiche Klientel wie 1918, als der "Hilfsbund für deutsche Kriegerfürsorge in der Schweiz" das Haus für 1,35 Millionen Franken erworben hatte. Kaiser Wilhelm gab 500.000 Mark dazu, schließlich litt fast jeder dritte im Felde erkrankte Soldat an Tuberkulose.

Nach dem Zweiten Weltkrieg verhinderte ein schlauer Schweizer Arzt, dass die Klinik an die Siegermächte fiel, und weil Tbc nun auch medikamentös geheilt werden konnte, spezialisierte sich Valbella, wie alle anderen Höhenkliniken, auf Haut- und Asthmakranke. Diese Geschichte hat nun ein Ende. Und Davos, die höchste Stadt Europas? Kränkelt ein wenig.

Verlor 42.000 von 2,1 Millionen Übernachtungen im vergangenen Geschäftsjahr, nach einem Minus von 100000 im Vorjahr. "Der Zauberberg ist vorbei", sagt Peter Risi, Präsident des Ärztevereins, "wir müssen uns neu orientieren." Risi leitet eine Arbeitsgruppe, die im Auftrag der Davoser Stadtverwaltung Strategien entwickelt. "Reha light" heißt das Rezept: ambulante Therapie, Fitness, Wellness, Schönheitschirurgie.

Durchs Sterben aufgewacht

"Das macht doch schon die ganze Welt", stöhnt der Hotelunternehmer Erich Schmid, der seine Mitbürger für ideenlos und selbstgefällig hält. Viel zu lange hätten sie sich zurückgelehnt, auch wegen der vielen Kongresse wie dem Weltwirtschaftsforum.

"Das Kliniksterben weckt sie hoffentlich auf", sagt er, klemmt seine langen blonden Haare hinter die Ohren und erklärt, wie man es richtig macht: Mit einem Partner hat er die Schatzalp, 300 Meter oberhalb Davos, gekauft, inklusive dem 1898 errichteten Sanatorium, das jetzt ein Hotel ist.

Der weiße Riegel mit den filigranen Holzbalkonen hat die Zeitläufe, sanft renoviert, fast original überstanden. "Der wahre Rest vom Zauberberg", schwärmt Schmid.

Direkt daneben will er einen hundert Meter hohen Turm für ein Hotel und Wohnungen setzen, entworfen von den Basler Architekten Herzog/de Meuron. Viele halten Schmid für verrückt, aber die höchste Hürde, die Volksabstimmung, hat er kürzlich übersprungen. Die Finanzierung, meint er, sei das kleinere Problem.

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SZ vom 22.12.2004
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