Schuldneratlas:Warum Deutschland im "Überschuldungsparadoxon" steckt

Coronavirus - Innenstadt in Lübbecke Leere Stühle und Tische eines Gastronomiebetriebs in der Fußgängerzone der Stadt Lü

Geschäfte dicht in den Innenstädten: So sah das in der Pandemie vielerorts aus.

(Foto: Imago)

Kultur, Tourismus, Gastronomie: Die vielen Mitarbeiter dieser Branchen sind stark von der Corona-Krise betroffen. Dennoch sinkt die Zahl der überschuldeten Menschen auf ein Rekordtief. Wie kann das sein?

Von Helena Ott

Selbst, wenn sie positiv ausfallen, kommen einem Studienergebnisse manchmal geradezu widersinnig vor. Auf den ersten Blick ist der Schuldneratlas 2021 definitiv so ein Fall. Nach fast zwei Jahren Corona-Krise kommt die Auskunftei Creditreform zu dem Ergebnis, dass in Deutschland so wenige Menschen überschuldet sind wie noch nie seit Beginn ihrer Aufzeichnungen vor 15 Jahren.

Im Vergleich zu 2020 waren zum Stichtag im Oktober 2021 etwa 700 000 Privatpersonen weniger zahlungsunfähig. Die Zahl der Überschuldeten sinke damit nun schon das dritte Jahr in Folge, scheinbar völlig unbeeindruckt vom pandemischen Wirtschaftseinbruch. Trotzdem bleiben es 6,16 Millionen Menschen in Deutschland, die derzeit ihre Rechnungen nicht zahlen und ihre Kredite nicht bedienen können.

Die Überschuldung ist ein zeitverzögerter Marker

Die Studienleiter warnen aber vor voreiligen Schlüssen: "Die positiven Zahlen sind in Anbetracht der lang anhaltenden Corona-Lage ein Überschuldungsparadoxon", sagt Patrik-Ludwig Hantzsch, Leiter der Wirtschaftsforschung bei Creditreform. Die Überschuldungsquote sei aber ein langfristiger Marker, der wirtschaftliche Krisen erst zeitverzögert abbilde.

Dennoch sei es mit staatlichen Hilfsmaßnahmen, wie Kurzarbeitergeld und Überbrückungshilfen für Selbständige, vorerst gelungen, Existenzen abzusichern. Zusätzlich habe die Verunsicherung der Verbraucher in der Pandemie diese dazu veranlasst, ihr Geld vorsichtiger auszugeben und weniger Kredite aufzunehmen.

Die geringere Überschuldung dürfe Wirtschaftsforscher Hantzsch zufolge aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch eineinhalb Jahre nach Ausbreitung der Pandemie vielen Haushalten Geld fehle. "Derzeit sind noch 32 Prozent oder rund 13,5 Millionen Haushalte von Einbußen beim Haushaltsnettoeinkommen betroffen." Als Gründe geben 40 Prozent der Befragten an, dass sie noch in Kurzarbeit sind; elf Prozent, dass sie ihren Job verloren haben. Das sind immerhin fünf Prozentpunkte weniger als noch im Oktober 2020.

Aber warum sind in einem reichen Land wie Deutschland überhaupt so viele Menschen - jeder siebte Verbraucher - überschuldet? Schon seit Jahren identifiziert Creditreform Arbeitslosigkeit und Schicksalsschläge wie Krankheit, Sucht oder Unfälle und eine unwirtschaftliche Haushaltsführung als Hauptursachen. Aber seit der Finanzkrise 2008 schließt ein Parameter in der Rangfolge immer weiter auf. Im Vergleich zu 2008 geben heute dreimal so viele Menschen an, ihren Lebensunterhalt wegen einem "längerfristigen Niedrigeinkommen" nicht ohne Schulden bestreiten zu können.

In den 13 Jahren seit der Finanzkrise sind der Niedriglohnsektor und prekäre Beschäftigungsverhältnisse wie bei Lieferdiensten, in der Gastronomie und Fleischindustrie immer weiter angewachsen. Im Zusammenspiel mit höheren Wohn- und Lebenshaltungskosten führt das dazu, dass viele Menschen keine Rücklagen aufbauen können, um dann wiederum temporäre Einkommenseinbußen, wie während der Corona-Krise, abzufedern.

Im Augenblick scheint sich diese gefährliche Konstellation zuzuspitzen, da Heizkosten sowie Preise für Treibstoff und Lebensmittel weiterhin steigen. Die Mieten in Metropolen sind mittlerweile so hoch, dass viele Menschen mit kleinem Einkommen die Hälfte davon nur für die Wohnung ausgeben. Für diejenigen, die an jedem Monatsende froh sind, wenn das Konto noch gedeckt ist, können schon 20 Euro höhere Ausgaben das Konto langfristig ins Minus ziehen.

Der ausgebaute Niedriglohnsektor zeigt exemplarisch, wie Krisen und darauffolgende politische Entscheidungen langfristig über die finanzielle Unabhängigkeit von Privatpersonen entscheiden. Der Schuldneratlas in diesem Jahr erinnert auch daran, dass die Altersarmut ebenfalls kein vorübergehendes Phänomen ist. Einzig in der Altersgruppe der 60- bis 69-Jährigen ist die Überschuldungsquote angestiegen, während für alle anderen fünf Altersgruppen ein leichter Rückgang gemessen wurde. Derzeit haben damit 769 000 Menschen in ihren Sechzigern so viele Schulden, dass sie diese langfristig nicht zurückzahlen können.

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