Das Bild stört. Ohne zu zögern packt Christine Lagarde den massiven Rahmen, der in ihrem Büro nahe den Champs-Élysées noch nicht aufgehängt ist, und trägt ihn beiseite. Es ist früher Morgen, die geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF) ist in Paris, ihr Kalender voll, unter den Terminen ist ein Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung. Im Büro, auf dem gläsernen Tischchen vor dem elegant-plüschigen Sofa, fällt ein Schälchen M&M's auf. Jener bunten Schokolinsen, die Lagarde bei schwierigen Verhandlungen in heiklen Momenten aus der Handtasche holt, um erhitzte Gemüter zu besänftigen. Die M&M's haben, da sind sich Unterhändler einig, in langen griechischen Nächten maßgeblich dazu beigetragen, die Stimmung aufzuhellen.
Es ist Lagardes erstes Interview in diesem Jahr. 2016 wird für sie persönlich als auch für den Währungsfonds ein entscheidendes sein. Ihre erste Amtszeit endet im Frühsommer, über die Verlängerung wird bald entschieden. Der Fonds selbst steht auch vor großen Entscheidungen, in der globalen Flüchtlingskrise etwa oder in Griechenland - und vor Reformen.
Nervosität ist der IWF-Chefin nicht anzumerken. Bevor Lagarde darauf zu sprechen kommt, ob die Mitglieder des IWF, immerhin 188 an der Zahl, in der Stimmung sind, der griechischen Regierung finanziell weiter zur Seite zu stehen, redet sie über die "Herausforderung", die sie für weit größer hält als die griechische: die globalen Flüchtlingsströme.
"Die Herausforderung ist viel größer als wir sehen und sehen wollen", sagt sie. Im Moment schaue jedes Land nur auf sein eigenes Terrain. "Aber es gibt viel mehr Probleme". Jede Regierung fokussiere sich darauf, wie sie mit den Flüchtlingen zurechtkomme, die vor eigenen Grenzen stünden. "Aber das ist nur ein kleiner Ausschnitt", warnte sie.
"Es wird zu wenig getan"
Verbunden mit dem nationalen Fokus sei mangelndes Engagement. "Es wird zu wenig getan", kritisiert Lagarde. "Jede Regierung und jede Organisation ist gefordert zu prüfen, was sie beitragen kann, um die Krise zu mildern". Gefordert sei ein gemeinsamer Ansatz. "Wir brauchen eine Kombination aus UN-Friedensmissionen, multilateralen Friedensverhandlungen, und begleitend dazu finanzielle und ökonomische Unterstützung". Der IWF werde "innerhalb seiner Möglichkeiten" mithelfen. Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos kommende Woche wird Lagarde eine Flüchtlingsstudie vorlegen. "Wir haben Ströme, Ursachen, Kosten und Nutzen der Migranten untersucht und welchen Einfluss sie auf die Volkswirtschaften haben", kündigt sie in Paris an. Lagarde persönlich geht davon aus, es sei "Zeit für eine weitere große UN-Initiative unter Generalsekretär Ban Ki Moon". Der UN-Generalsekretär sollte noch in seiner Amtszeit "eine weltweite Strategie" entwickeln lassen. "Wir können die Flüchtlingskrise nur zusammen lösen. Wir brauchen zuerst Frieden. Dann müssen wir die Lebensbedingungen verbessern, Wachstum fördern".
Die Französin geht davon aus, dass der Zustrom von Flüchtlingen nach Europa im Jahr 2016 weiter anhalten wird. Wenn die Friedensverhandlungen erfolgreich verliefen, könnte sich die Zahl aus den betreffenden Ländern Syrien, Afghanistan, Pakistan verringern. Sollte das nicht klappen, erwartet Lagarde, dass noch mehr Menschen kommen werden. Auch aus Afrika, wo sie gerade Kamerun und Nigeria besucht hat. Kamerun nehme Tausende Flüchtlinge auf, obwohl es ein armes Land sei mit einer Pro-Kopf-Wertschöpfung von 1500 Dollar. Ungleich wohlhabender sei Europa. "Hier bei uns reden wir über 45 000 Dollar Wertschöpfung pro Kopf". In Nigeria sei die Lage vergleichbar, in der gesamten Sahelzone würden die Menschen fliehen. Nicht alle wollten nach Europa. Aber alle seien auf der Flucht. "Solange die militärischen Konflikte und Krisen anhalten, werden mehr Menschen fliehen. Und wenn es keine ökonomische Perspektive gibt, werden aus ihnen Wirtschaftsflüchtlinge".
Eine Beteiligung des IWF am dritten Hilfsprogramm für Griechenland schließt Lagarde zum jetzigen Zeitpunkt aus. Auf die Frage, ob der Weltwährungsfonds wie von den Europäern gewünscht weitere Kredite zur Verfügung stellen wird, verweist sie auf klare Voraussetzungen. "Athen muss signifikante Wirtschaftsreformen durchziehen" - "Und, ganz klar, ist die Rentenreform der Trigger, um zu beweisen, dass sich die ökonomische Leistungsfähigkeit verbessert". Die Reformmaßnahmen müssen "wirklich ambitioniert sein", sagt Lagarde. Und die zweite Voraussetzung sei, "dass die Gesamtschulden Griechenlands nachhaltig sein müssen".
Die Schulden, sagt Lagarde, müssen "neu organisiert und neu strukturiert werden. Sie müssen tragfähig sein, dürfen die Wirtschaft nicht belasten". Bisher, so sagt sie, seien beide Voraussetzungen "nicht gegeben". - "Ja, Griechenland hat die Rentenreform begonnen, aber wir können das Ergebnis am Ende nicht vorhersehen. Wir schauen weiter hin, wir beobachten, wir machen unsere Anmerkungen." Der IWF sehe "einen politischen Prozess in Athen, aber wir wissen nicht, wie lange er dauert. Vielleicht bis ins zweite Vierteljahr 2016".
Griechenland:Athen schickt Plan für umstrittene Rentenreform nach Brüssel
Wie stark muss Griechenland die Renten kürzen? Tsipras macht den Gläubigern nun einen Vorschlag.
Falls die Voraussetzungen dann erfüllt würden, wie viel Geld plant der IWF dann ein? Lagarde lächelt. "Bisher haben wir nicht über den finanziellen Rahmen einer weiteren Beteiligung beschlossen." Vielleicht die 16 Milliarden, die aus den früheren Programmen übrig sind? Lagarde bleibt unbestimmt in ihrer Antwort. "Das sind die leftovers."
Am 21. Januar jedenfalls will sich Lagarde mit dem griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras in Davos treffen. Bereits an diesem Mittwoch war der Finanzminister aus Athen zu Besuch bei Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. Exakt an dem Tag weilte auch ein IWF-Chefunterhändler in der deutschen Hauptstadt.
Lehnt der IWF weiterhin eine Beteiligung ab, kommt auch Schäuble in Bedrängnis
Schäuble ist wegen des ausstehenden IWF-Engagements in einer heiklen Lage. Er hat zusammen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel versprochen, dass Berlin nur dann Athen weiter unterstützt, wenn auch der Währungsfonds dabei bleibt. Inzwischen haben die Euro-Länder wieder zweistellige Milliardenbeträge nach Athen überwiesen, und der IWF ist außen vor.
Beim Fonds in Washington gelten die Voraussetzungen intern als beinahe unerfüllbar. Athen müsste über mehrere Dekaden jährlich einen Primärüberschuss von 3,5 Prozent erwirtschaften, um den Schuldenberg ohne Schuldenschnitt nachhaltig zu machen - also von derzeit 200 Prozent auf ungefähr 120 Prozent der Wirtschaftsleistung zu senken. IWF-Volkswirte zweifeln daran, den Aufsichtsrat von dieser ungewöhnlichen Wachstumsrate überzeugen zu können. Ähnlich sieht es bei den Reformen aus, die laut IWF zusammen ungefähr sechs bis sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen müssten. Da die Regierung Tsipras darauf verzichtet, Reiche stärker zu besteuern und allgemeine Steuern schon hoch liegen, bleibt nur, die Ausgaben bei den Renten zu kürzen. Der griechische Staat überweist jährlich etwa zehn Prozent der Einnahmen an die Rentenkasse, um die Pensionsansprüche zu erfüllen. Bisher weigert sich die Regierung, diese Überweisung zu kürzen.
Auch das stört. Aber ändern kann das nur Athen.