Schuldenkrise in Europa:Wir leben nicht über unsere Verhältnisse!

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In der Euro-Krise wird wieder einmal der ausufernde Sozialstaat für die hohen Staatsschulden Deutschlands verantwortlich gemacht. Doch drei Viertel der Schulden haben andere Ursachen - zum Beispiel die deutsche Einheit.

Gert G. Wagner

Man hätte es sich denken können. Auch die Euro-Krise wird zum Anlass genommen, um wieder einmal den angeblich ausufernden Sozialstaat als Wurzel allen Übels darzustellen. Mit besorgten Worten wird mit dem Hinweis auf Griechenland in allerlei Kommentaren behauptet, dass auch die Staatsverschuldung in Deutschland viel zu hoch sei.

Staatliche Sozialleistungen wie Hartz IV, Ausbildungsförderung, Hilfe zur Pflege für Pflegebedürftige oder Kindergeld sind immer wieder in der Debatte als Grund für die hohe Staatsverschuldung, dabei machen sie nur etwa ein Viertel der Schulden aus. (Foto: dpa)

Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, dass die Staatsausgaben in Deutschland keineswegs durch einen ausufernden Sozialstaat und staatliche Bürokratie in die heutige Höhe getrieben wurden. Vielmehr kostet die deutsche Einheit uns noch immer viel Geld, und aus der begründeten Furcht heraus, dass das Finanzsystem kollabieren könnte, wurden Verluste der Banken in großem Maßstab sozialisiert. Diese Art von Sozialismus hat mit Sozialstaat aber offenkundig wenig zu tun.

Gegenwärtig macht die gesamte Staatsverschuldung der Bundesrepublik einen Betrag aus, der etwa achtzig Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung entspricht. Das ist ein enormer Betrag. Aber es gilt auch: Solange wir die Zinsen für die Staatsschuld aufbringen können, und solange Vertrauen in unsere Zahlungsfähigkeit besteht, kann man mit solch einer Belastung leben.

Japan hat sogar eine Verschuldung von 200 Prozent - aber keine Probleme, Kredite zu bekommen, weil niemand an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Japans zweifelt. Bei Griechenland und anderen südeuropäischen Staaten sieht das anders aus; das kann aber kein Grund sein, bei uns Sozialleistungen zu kürzen.

Völlig außer Acht bleibt ein weiterer Aspekt: Würde die Staatsschuld drastisch reduziert, wüssten viele Anleger gar nicht, wohin mit ihrem Geld. Man sollte bedenken, wer von den Staatsschulden denn überhaupt profitiert: Das sind diejenigen in den nachwachsenden Generationen, deren Eltern ein Vermögen haben, Zinsen aus Staatsanleihen bekommen und dies alles an ihre Nachkommen vererben. Insofern werden bei Kürzungen nur die vermögenslosen Schichten der künftigen Generationen wirklich belastet.

Die Diskussion über Generationengerechtigkeit muss auch die vererbten Ungleichheiten in den Blick nehmen.

Billiger als gegenwärtig geht es nicht

Es ist nur schwer zu verstehen, wenn jetzt in Kommentaren zur "Staatsquote" auf die vermeintlich goldenen Zeiten des 19. Jahrhunderts verwiesen wird, als diese Quote nur etwa zehn Prozent der Wirtschaftsleistung ausmachte. Damals war weder eine so aufwendige Infrastruktur wie heute nötig, noch gab es so hohe Anforderungen an die Qualifikation der Arbeitskräfte, also an ein breit ausgebautes Schul- und Ausbildungssystem. Ein öffentliches Gesundheitssystem existierte ebenfalls nicht.

Und für die Alten musste auch schon früher die nachwachsende Generation sorgen - innerhalb der Familie. Heute ist dies in der Rentenversicherung organisiert, wodurch die Staatsquote erhöht wurde. Man kann gewiss darüber streiten, ob die staatliche "Produktion" von Infrastruktur, Schulen und Hochschulen sowie sozialer Sicherung heute optimal geregelt ist. Fest steht aber: Viel billiger als gegenwärtig ist das alles nicht zu haben. Die Kosten bei der privaten Krankenversicherung und bei vielen Privatisierungen - etwa der Altersvorsorge - zeigen dies ziemlich deutlich.

Aufschlussreich ist ein Blick auf die Entwicklung der Staatsverschuldung. Die Bundesrepublik ist mit etwa 20 Prozent des Sozialprodukts gestartet. Das Krisenmanagement nach der Lehman-Pleite hat die öffentliche Verschuldung um etwa 15 Prozentpunkte steigen lassen. Der vielgescholtene Ausbau des Sozialstaats in den siebziger und achtziger Jahren hat ungefähr dieselbe Größenordnung an Verschuldung gebracht hat: etwa 20 Prozentpunkte. Und durch die Wiedervereinigung kam eine Verschuldung in etwa derselben Größenordnung hinzu.

Seit Mitte der neunziger Jahre steigt auch der Anteil der staatlichen Sozialleistungen nicht mehr an. Keineswegs hat also ein ausufernder Sozialstaat die Staatsschulden explodieren lassen. Etwa drei Viertel unserer Schulden haben andere Ursachen.

Wenig beachtet, aber angesichts der Alterung der Bevölkerung umso wichtiger ist, dass die Erwerbsquote der 55- bis 64-Jährigen in Deutschland enorm gestiegen ist. Hier zeigen sich Erfolge einer zielgerichteten Rentenpolitik. Dadurch werden Sozialausgaben gespart und die Steuereinnahmen erhöht. In den Jahren 2000 bis 2010 ist die Erwerbsquote der Älteren von 43 Prozent auf 63 Prozent angestiegen - im EU-Durchschnitt nur von 41 Prozent auf 50 Prozent (in der "Euro-Zone" von 37 auf 49 Prozent).

Auch im internationalen Vergleich fallen die deutschen Staatsausgaben nicht als besonders hoch auf. Ihr Anteil am BIP entspricht 2010 mit 43,6 Prozent ungefähr dem aller EU-Staaten (44,1 Prozent); die Euro-Zone liegt mit 44,6 Prozent knapp darüber. Ein Staatsanteil wie im 19. Jahrhundert ist schiere Illusion. Das zeigt die Spannweite in Europa: Die Slowakei liegt mit immerhin 32,3 Prozent am unteren Ende, am anderen Ende rangiert Schweden mit 52,7 Prozent.

Nun werden viele sagen: Aber die "Schuldenbremse" verlangt doch, dass wir Ausgaben kürzen. Falsch: Sie verlangt, dass nicht zu viele Ausgaben mit Schulden finanziert werden. Wenn man mehr Steuern einnimmt, dann kann man mehr ausgeben - und trotzdem die Schuldenbremse einhalten.

Schuldenbremse aushebeln - ganz legal

Im Übrigen wird sich zeigen, wie effektiv die Schuldenbremse wirken wird. Es wird gewiss tausend Argumente geben, warum man sie wieder einmal nicht einhalten kann. Und viele dieser Gründe werden auch überzeugend sein. So hebelt etwa eine schlechte konjunkturelle Lage die Schuldenbremse aus, ganz gesetzeskonform.

Jeder internationale Vergleich zeigt: Es gibt hierzulande durchaus einen Spielraum für Steuererhöhungen, die die Wirtschaft nicht "abwürgen" würden. Zudem wird von den Steuerzahlern im oberen Einkommensbereich die jetzige Besteuerung keineswegs überwiegend als ungerecht empfunden. Schon das legt es nahe, über eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer nachzudenken. Und ebenso über eine ergiebigere Erbschaftsteuer. Und eine Vermögensteuer ist nicht grundsätzlich grundgesetzwidrig.

Höhere Steuereinnahmen liegen auf jeden Fall auch näher als höhere Sozialabgaben, da die Beiträge zu den Sozialversicherungen nach oben gedeckelt sind. Die Bezieher hoher Einkommen (und die Beamten) werden von höheren Beitragssätzen nicht getroffen. Dies widerspricht verteilungspolitischen Grundüberlegungen.

Es geht nicht um das Wirtschaftswachstum

Auch wenn die Erwerbsquoten der Älteren sicher weiter steigen werden, sind künftig wegen der Alterung der Gesellschaft höhere Ausgaben für Gesundheit und insbesondere Pflege nötig. Dadurch werden wohl die Sozialleistungen in Zukunft stärker als die Wirtschaftsleistung steigen. Die Menschen werden dann für andere Ausgaben weniger Geld in der Tasche haben. Dies übrigens völlig unabhängig davon, ob man die notwendigen Sozialleistungen durch Sozialversicherungen oder private Vorsorge finanziert.

Deswegen sollte bereits jetzt kräftig in die Infrastruktur investiert werden. In zehn Jahren wird dies schwerer fallen. Es ist also nicht abwegig, die Steuern zum Erhalt der Verkehrsinfrastruktur, der Schulen und der Universitäten zu erhöhen. Und zum Ausbau der vorschulischen Kinderbetreuung - um nur einige Felder zu nennen, wo der Staat keineswegs üppig ausgestattet ist. Das Ausmaß öffentlicher Investitionen in Deutschland ist im letzten Jahrzehnt auf ein Rekordtief gefallen. In den siebziger Jahren gab die öffentliche Hand - gemessen an der Wirtschaftsleistung - fast dreimal so viel für Investitionen aus wie heute.

Klar ist aber auch: Höhere Steuern und ein in etwa gleichbleibendes Niveau der sozialen Sicherung sind kein unausweichliches Szenario. Die Mehrheit der Wähler könnte zum Beispiel auch darauf setzen, dass durch niedrigere Abgaben ein derartig kräftiges Wirtschaftswachstum erzeugt wird, dass es am Ende vielleicht allen besser geht als heute.

Da es gerade bei Fragen der Besteuerung und der Sozialabgaben kein "richtig" oder "falsch" gibt, sondern es um Werturteile geht, kann nur der Souverän entscheiden, was gemacht werden soll. Dabei geht es nicht nur um Wirtschaftswachstum, sondern ebenso um das Ausmaß an Gerechtigkeit, Solidarität und Lebensqualität. Insofern ist es gut, wenn die Gestaltung von Steuern und Abgaben zu einem expliziten Wahlkampfthema wird.

Gert G. Wagner ist Vorstandsvorsitzender des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) .

© SZ vom 05.12.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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