Süddeutsche Zeitung

Schuldenkrise in Europa:Was die Euro-Rettung wirklich kostet

Wie viel muss Deutschland im Ernstfall für den Fortbestand der Gemeinschaftswährung zahlen? Der Ökonom Hans-Werner Sinn warnt, dass die Krise immer teurer werde. Seinen Berechnungen nach haftet Deutschland für die Rettung maroder Staaten mit bis zu 465 Milliarden Euro.

Catherine Hoffmann

Der Mann ist um starke Worte und schockierende Zahlen nicht verlegen. Die Schuldenmisere in Europa könnte Deutschland 465 Milliarden Euro kosten, fürchtet Hans-Werner Sinn, der Präsident des Wirtschaftsforschungsinstituts Ifo, wenn Griechenland, Irland, Portugal und Spanien (GIPS) pleite gehen würden. "Die Euro-Krise wird potenziell immer teurer", sagt der Ökonom, der im Sommer eine kontroverse Diskussion darüber losgetreten hat, wie hoch die Haftungssummen nun eigentlich sind, mit denen Deutschland und andere Retter in der Pflicht stehen.

Verzweifelt kämpfen die europäischen Regierungschefs gegen die Schuldenkrise und die Nervosität an den Finanzmärkten. Ihr wirksamstes Mittel sind nicht Gipfeltreffen, Telefonkonferenzen und Beschwichtigungen, ihr wirksamstes Mittel ist: Geld. Aus Krediten, Garantien und Bürgschaften haben die Staatslenker ein Sicherungsnetz geknüpft, damit Griechenland, Irland und Portugal - und demnächst vielleicht Spanien - nicht in den Schuldenabgrund stürzen.

Bislang wurde notleidenden Euro-Staaten mit 802 Milliarden Euro geholfen, rechnet Sinn nun vor. Diese Summe könnte demnächst auf 1670 Milliarden Euro anschwellen, wenn die Regierungen die Beschlüsse des Brüsseler Krisengipfels vom 21. Juli voll ausschöpfen und weitere Kredite vergeben. Für knapp ein Drittel der gesamten Haftungssumme steht Deutschland gerade, eben für jene 465 Milliarden Euro.

Die Rechnung, die Hans-Werner Sinn im neuen Ifo-Schnelldienst aufmacht, ist allerdings angreifbar. Unumstritten ist zweifellos, dass Euro-Staaten und Internationaler Währungsfonds (IWF) Griechenland im Mai 2010 Kredite im Umfang von 110 Milliarden Euro zusagten, es war das erste Rettungspaket für Athen. Damals wurde auch der "Rettungsschirm" für hochverschuldete Staaten aufgespannt, aus dem Griechenland, Irland und Portugal Geld bekamen.

Dieser Schirm wurde auf dem Brüsseler Gipfel noch vergrößert, um im Notfall auch Spanien schützen zu können. Er besteht aus dem Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) und der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF). Dieser Kreditfonds darf Darlehen bis zu 440 Milliarden Euro aushändigen, die Garantiesumme dafür beträgt allerdings 780 Milliarden Euro.

Maximale Rettungssumme von 1,2 Billionen Euro

So ist sichergestellt, dass der Fonds beste Bonität genießt und er sich zu günstigen Konditionen finanzieren kann. Die EU-Kommission steuert zusätzlich 60 Milliarden Euro bei, der IWF nochmals 250 Milliarden Euro. Alles zusammen ergibt eine maximale Rettungssumme von 1200 Milliarden Euro - ohne die heftig kritisierten Maßnahmen der Notenbanken.

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat bislang nicht nur im großen Stil griechische, italienische oder spanische Staatsanleihen gekauft. Sie habe, so lautet der Vorwurf von Ifo-Chef Sinn, auch noch auf verborgenen Kanälen griechischen, irischen, portugiesischen und spanischen Geschäftsbanken Geld zugeschoben. Dazu soll sie das elektronische Zahlungssystem "Target 2" genutzt haben, über das private Banken grenzüberschreitende Geldgeschäfte innerhalb des Euro-Raums abwickeln.

Die Target-Kredite an die GIPS-Länder summieren sich mittlerweile auf 327 Milliarden Euro. Die Target-Konten waren bis zur Finanzkrise ausgeglichen, doch dann wurden sie als eine Art billiger Überziehungskredit genutzt. So konnten finanzschwache Euro-Länder ihre Leistungsbilanzdefizite auf Pump bezahlen, obwohl sich private Banken aus Furcht vor Verlusten aus der Finanzierung zurückgezogen hatten.

Der ehemalige Bundesbankpräsident Helmut Schlesinger hat diese Praxis öffentlich angeprangert und vor wachsenden Kreditrisiken der Bundesbank gewarnt. In der Bilanz der Bundesbank, die sich Ende Juni auf 632 Milliarden Euro belief, entfielen allein 349 Milliarden Euro auf Nettoforderungen aus "Target 2".

Sollte ein GIPS-Staat pleitegehen, fallen diese Target-Kredite aus. Das trifft auch die Bundesbank, allerdings nicht direkt. Da sich die Target-Forderungen der Bundesbank an die EZB richten und Verluste der EZB unter den nationalen Zentralbanken aufgeteilt werden, haftet Deutschland laut Sinn mit 33 Prozent - so hoch ist der Anteil, den die Bundesbank an der EZB hält.

Doch etliche Experten melden Zweifel an Sinns Sicht der Dinge. So ist das Team von Willem Buiter, dem Chefvolkswirt der Citigroup, überzeugt, dass die Hauptursache der Target-Kredite in Problemen des Bankensystems in den GIPS-Staaten liegt - und nicht, wie Sinn meint, in den Leistungsbilanzdefiziten. Die Bundesbank selbst tut die Kredite als "statistischen Posten" ab. Charles Blankart von der Berliner Humboldt-Universität und Manfred Neumann, der Doktorvater des Bundesbank-Chefs Jens Weidmann, weisen dagegen auf die hohen Risiken durch die Target-Position hin.

Es spricht also einiges dafür, die EZB-Kredite als Haftungsrisiko zu betrachten. Dann schlagen sie in der deutschen Rettungssumme mit 109 Milliarden Euro zu Buche. Insgesamt entsteht damit für den deutschen Steuerzahler aus allen bislang eingegangenen Verpflichtungen ein Haftungsrisiko von bis zu 465 Milliarden Euro. Und dabei wurde eine mögliche Insolvenz Italiens noch nicht einmal unterstellt.

Angesichts dieser gewaltigen Summe überrascht es nicht, dass Anleger längst auch die Bonität Deutschlands kritisch hinterfragen. "Die Märkte beobachten die deutsche Beteiligung an den Rettungspaketen mit zunehmender Nervosität und verlangen immer höhere Versicherungsprämien für deutsche Staatspapiere", sagt Sinn. Im August ist die jährliche Prämie für die Versicherung zehnjähriger Bundesanleihen erstmals auf ein Prozent der Versicherungssumme gestiegen. Sinn überschlägt: "Dies entspricht einer vermuteten Konkurswahrscheinlichkeit Deutschlands von knapp zehn Prozent innerhalb von zehn Jahren."

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Quelle:
SZ vom 17.09.2011/aum
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