Zeitweise sah es so aus, als könnte an der "Schwarzen Null" die große Koalition zerbrechen. Davon ist momentan nicht mehr die Rede, aber die Streitfrage ist weder verschwunden noch gelöst: Soll Deutschland so sparsam bleiben, wie Wolfgang Schäuble das einst verordnete, und weiter einen ausgeglichenen Haushalt anstreben? Oder soll man die Schuldenbremse aus Artikel 109 des Grundgesetzes wieder streichen, nur gut zehn Jahre nachdem sie eingeführt wurde?
Wie die Antwort ausfällt, hat weitreichende Folgen für Wirtschaft und Finanzen der Republik. Dabei geht es nicht darum, ob die Finanzpolitik linker oder rechter ausfällt, sondern darum, auf die veränderte ökonomische Realität in der Welt zu reagieren. Es gibt einen Strukturbruch, und der hat zwei Aspekte. Der erste ist wohlbekannt: Digitalisierung und Klimawandel stellen die bisherige Industriestruktur Deutschlands infrage. Der zweite Aspekt aber ist bisher kaum ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen.

Klima:Bund und Länder erzielen Durchbruch bei Klimapaket
Zum 1. Januar 2021 soll der CO₂-Preis von derzeit zehn auf 25 Euro steigen. Mit der Einigung in den Vermittlungsgesprächen ist auch der Weg frei für die Senkung der Mehrwertsteuer bei der Bahn.
Das Phänomen hat der frühere Chef der amerikanischen Notenbank Fed, Ben Bernanke, einmal eine globale "Sparschwemme" genannt: Weltweit wird viel mehr gespart, als sinnvoll angelegt werden kann. So etwas hat es in der jüngeren Geschichte noch nie gegeben. Das Ergebnis sind abenteuerliche Spekulationsgeschäfte, explodierende Immobilienpreise von New York bis München und negative Zinsen, nicht nur für Spareinlagen, sondern auch für andere als sicher geltende Anlagen wie Bundesanleihen. Deren Rendite lag am Dienstag bei minus 0,28 Prozent, was bedeutet: Wer dem Finanzminister tausend Euro leiht, der muss noch 2,80 Euro Strafzins obendrauf zahlen. Dafür kann man nicht nur die EZB verantwortlich machen, das hat tiefere Ursachen.
Kapital ist im Überfluss vorhanden, weil alternde Gesellschaften mehr sparen. Bestes Beispiel ist Deutschland mit seinen Haushaltsüberschüssen. Auch die Unterschiede in der Vermögensverteilung tragen zur Schwemme bei, Reiche sparen nun einmal mehr als Arme. Schließlich ist die Nachfrage nach Kapital in der digitalen Welt geringer. Apple, Amazon oder Facebook sind so mächtig wie einst Standard Oil oder General Motors, aber sie müssen keine kapitalintensiven Fabriken oder Förderanlagen bauen.
Die Welt sieht also anders aus als 2009, als die Schuldenbremse in die Verfassung kam. Deshalb stellt sich die Frage der Staatsschulden inzwischen anders. Geld liegt auf der Straße und könnte genutzt werden, damit Deutschland mit Investitionen den Strukturwandel meistert. Nicht um Konjunkturprogramme geht es, denn insgesamt hat Deutschland kein Konjunkturproblem. Die derzeitige Krise der Industrie ist vor allem eine Krise der Autoindustrie, und die leidet an den Strukturbrüchen.
Eine Zahl hat die SPD genannt, und die ist plausibel: Bund, Länder und Gemeinden sollen in den kommenden zehn Jahren 450 Milliarden Euro investieren, um die Infrastruktur zu modernisieren. Arbeitgeber und Gewerkschaften sehen das in seltener Einigkeit genauso. Richtig wären auch Steuersenkungen für Unternehmen. Denn in Deutschland fehlen nicht nur staatliche, sondern auch private Investitionen. Die kriselnde Autoindustrie ist dafür ein Beispiel.
Die Zukunftsrisiken sind derzeit so hoch wie schon lange nicht mehr
Doch dies alles ist kein Grund, die Schuldenbremse abzuschaffen. Dagegen sprechen zunächst rein pragmatische Gründe. Derzeit kann der deutsche Staat gar nicht alles Geld ausgeben, das er für Investitionen eingeplant hat. Entweder dauern die Genehmigungsverfahren zu lange oder es fehlen Facharbeiter oder es gibt andere Hindernisse. Solange dies so ist, muss man nicht das Grundgesetz ändern.
Wichtiger ist der grundsätzliche Einwand: Die derzeitige Kapitalschwemme könnte Politiker und Wähler leicht zu der Meinung verleiten, für Staatsschulden gäbe es keine Grenze mehr. Dem ist aber nicht so. Der Finanzminister muss auf neue Schulden derzeit zwar keine Zinsen entrichten, er muss sie aber irgendwann zurückzahlen. Deshalb besteht auch heute immer die Gefahr, dass die Staatsfinanzen überfordert werden. Die sozialpolitischen Beschlüsse der SPD (von denen ihres potenziellen Koalitionspartners Linkspartei ganz zu schweigen) lassen ahnen, wie das aussehen könnte.
Und das dritte Argument: Die Zukunftsrisiken sind derzeit so hoch wie schon lange nicht mehr. Niemand weiß, was Donald Trump in der Handelspolitik noch alles einfällt. Niemand kann berechnen, welche Kosten der Klimawandel noch verursachen wird. Daher sollte sich die Politik im Sinne gesunder Finanzen durch die Verfassung binden. Die Schuldenbremse ist dabei unverzichtbar. Richtig aber wäre es, sie flexibler zu machen, etwa dadurch, dass man die Neuverschuldung an den Bestand alter Schulden koppelt: Je geringer dieser ist, desto mehr neue Kredite sind erlaubt. Im Übrigen hindert niemand die Regierung daran, unnötige Ausgaben im Haushalt zu streichen, um Raum für neue Investitionen zu schaffen.