Schottland:Ein Königreich, noch vereint

Das Mitglied Großbritanniens stimmte für den Verbleib in der EU - und verlangt nun eine Sonderrolle bei den Gesprächen über den Brexit.

Von Björn Finke

Zwei Zahlen erklären den Konflikt: 51,9 Prozent und 62,0 Prozent. 51,9 Prozent der Briten stimmten beim Referendum für den Austritt aus der EU. Doch in Schottland sprachen sich 62 Prozent der Wähler für den Verbleib aus. Darum fordert Nicola Sturgeon, die Chefin der Regionalregierung in Edinburgh, Mitsprache bei Londons Brexit-Verhandlungen. Die Chefin der SNP, der Partei der schottischen Nationalisten, will durchsetzen, dass Schottland nach dem Austritt zumindest Teil des gemeinsamen Binnenmarktes der EU bleiben kann. Anderenfalls droht sie mit einer weiteren Volksabstimmung über Schottlands Unabhängigkeit. Aber die konservative Premierministerin Theresa May möchte Schottland, Wales und Nordirland keine Sonderrechte gewähren, weil ansonsten ihre Verhandlungsposition gegenüber Brüssel geschwächt würde.

May steht also nicht nur vor schwierigen Gesprächen mit der EU, sondern auch mit den Regionen - oder Nationen, das ist der offizielle Begriff - des (noch) Vereinigten Königreichs. Der Brexit könnte zur Abspaltung Schottlands führen, ein hoher Preis für die Unabhängigkeit von Brüssel.

Edinburgh droht mit einem neuen Referendum über die Unabhängigkeit

Und Sturgeon verstärkt den Druck. Im Oktober veröffentlichte sie einen Gesetzesentwurf, der den Rahmen für ein neues Unabhängigkeitsreferendum setzt, ohne allerdings ein Datum zu nennen. Zur Begründung sagte die Politikerin, sie werde weiter für ein gutes Arrangement nach dem EU-Austritt kämpfen: "Aber wenn sich herausstellt, dass unsere Interessen nicht innerhalb des Vereinigten Königreichs geschützt werden können, muss uns die Option Unabhängigkeit offenstehen."

Außerdem rief die schottische Regierung den Obersten Gerichtshof in London an. Die Richter beraten ohnehin im Dezember über die Frage, ob May das britische Parlament um Erlaubnis bitten muss, bevor sie bei der EU den Austritt beantragt. May vertritt den Standpunkt, sie müsse die Abgeordneten nicht damit befassen; sie unterlag jedoch in erster Instanz.

Sturgeon will, dass die Berufungsinstanz, der Oberste Gerichtshof, in dem Verfahren gleichzeitig darüber urteilt, ob auch die Regionalparlamente dem Start des Scheidungsverfahrens zustimmen müssen. Sollte die Erlaubnis des britischen und der regionalen Parlamente nötig sein, wäre Mays Zeitplan gefährdet. Sie will Brüssel bis Ende März 2017 über den Austrittswunsch unterrichten.

May verspricht, dass Großbritannien nach dem Brexit die Einwanderung aus EU-Staaten kontrollieren kann und sich nicht mehr dem Europäischen Gerichtshof beugen muss. Das schließt eine Teilnahme am Binnenmarkt aus. Allerdings will London offenbar für wichtige Branchen wie die Finanz- und Autoindustrie Sonderregeln heraushandeln, dank derer Firmen und Banken weiterhin ohne bürokratische Hürden in der EU Geschäfte tätigen könnten. Michael Russell, Brexit-Minister der schottischen Regierung, sagte, es wäre "seltsam", wenn es Sonderregeln für den Binnenmarkt zugunsten von Banken gäbe, "nicht aber zugunsten von Schottland, das mit überwältigender Mehrheit für den Verbleib" gestimmt habe.

Sollten die Brexit-Vereinbarungen Edinburgh am Ende missfallen, ist trotzdem nicht ausgemacht, dass Sturgeon wirklich ein neues Unabhängigkeitsreferendum ansetzt. Bei der Volksabstimmung 2014 waren 55 Prozent der Bürger für den Verbleib im Königreich. Beobachter schätzen, dass Sturgeon und die Nationalisten-Partei SNP abwarten, bis Umfragen eine stabile Mehrheit für die Abspaltung zeigen. Denn eine weitere Niederlage hieße, dass das Thema Unabhängigkeit vom Tisch ist. Und bisher wollen die meisten Schotten Meinungsforschern zufolge Briten bleiben, trotz des Brexit. Doch die Stimmung könnte sich drehen, wenn die Konsequenzen des Austritts klarer werden. Das ist zumindest die Hoffnung der Nationalisten. Vielleicht ihre letzte.

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