Beim Betreten der Schuldnerberatungsstelle der Diakonie in Berlin-Kreuzberg blickt man auf eine Reihe Schwarz-Weiß-Fotografien. Eine zeigt Martin D., der auf seinen Schultern eine Tochter und auf dem Arm seine zweite trägt. Er wurde arbeitslos, seine Frau verließ ihn, die Schulden wuchsen, er konnte sie nicht zurückzahlen. Daneben hängt das Bild einer Frau, alleinerziehende Erzieherin, bis sie von einem Autofahrer auf dem Fahrrad angefahren wurde. Sie lag mehrere Monate im Koma und kann ihren Beruf bis heute nicht mehr ausüben. Wer bei den Beratern Rat sucht, hat meist Schicksalsschläge hinter sich, die die finanzielle Basis erschüttert haben. Die Altersvorsorge ist dabei oft das Letzte, über das sie sich Gedanken machen.
Von Schicksalsschlägen ist zwar häufig in der Werbung der Finanzindustrie die Rede, wenn es darum geht, den Schaden von Unfällen oder Krankheiten abzufedern. Aber gerade Altersvorsorgeprodukte würden meist von uniformen Lebensläufen ausgehen, die es immer seltener gebe, sagt Dirk Ulbricht, Geschäftsführer des Instituts für Finanzdienstleistungen. Er kritisiert eine "mangelhafte Berücksichtigung der Wechselfälle des Lebens".
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Beratung ist nicht immer billig - weshalb ihn viele scheuen
Wer überstürzt handele, mache jedoch schnell Fehler, die ihm finanziell noch weiter schaden könnten. Zum Beispiel, wenn jemand seine Lebensversicherung übereilt kündige, statt sie beitragsfrei zu stellen oder sich mit dem Versicherer auf eine Modifizierung zu einigen und seinen Beitrag möglicherweise so zu senken, dass er die Police in eingeschränktem Maße fortführen kann. "Ruhig Blut", lautet der Ratschlag von Ulbricht, aber natürlich sei dies für Menschen gerade nach Schicksalsschlägen sehr schwierig.
Guter Rat in Altersvorsorgefragen ist rar, denn die Verkäufer von Versicherungen, Fonds und diverser anderer Produkte haben oft eher ihre eigenen Provisionen als das Wohl des Kunden im Blick. Das gilt auch in Krisensituationen. "Unabhängige Beratung" sei in solchen Fällen das A und O, sagt Axel Kleinlein, Chef beim Bund der Versicherten. Fündig würden Ratsuchende unter anderem bei Verbraucherzentralen oder unabhängigen Honorarberatern.
Allerdings kostet solcher Rat bisweilen etwas, weswegen ihn dann doch viele scheuen, gerade bei knapper Kasse. Auch Kleinlein, ein dezidierter Kritiker der kapitalbildenden Lebensversicherung, rät vom überstürzten Kündigen solcher Policen im Krisenfall ab. Mal könne die Kündigung, mal das Weiterführen die richtige Lösung sein, "das muss man ganz individuell sehen".
Viele Menschen brauchen sich über das Thema jedoch gar keine Gedanken machen: jene 40 Prozent der Haushalte mit über 40-Jährigen, die laut einer Studie des Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik überhaupt nicht privat für das Alter vorsorgen.
Aufpassen sollten all diejenigen, welche in einem größeren Ausmaß Vorsorge betreiben, also etwa die Hälfte der Haushalte. Ein steigendes Risiko sieht Ulbricht für Menschen, die ihre Altersvorsorge stark auf einer eigenen Immobilie aufbauen. "Das ist ein gehöriges Klumpenrisiko", sagt Ulbricht, was sich im Krisenfall rächen könne, beispielsweise wenn sich die Eigenheimbesitzer trennen. Unwahrscheinlich ist dies nicht, da jede dritte Ehe innerhalb von 25 Jahren in Deutschland geschieden wird. Wenn es dann zu einem Notverkauf kommt, sei der finanzielle Schaden meist groß. Ein Ehevertrag für Immobilienbesitzer hält Ulbricht deswegen für ein absolutes Muss, "aber häufig scheuen sich Partner ein solch sensibles Thema beizeiten zu regeln".
In der Krise sei es jedenfalls notwendig, frühzeitig das Gespräch mit der Bank zu suchen, welche die Immobilie finanziere. Früher hätten Banken ihre Kunden in solchen Situationen oft ausgenutzt, aber seit der anhaltenden Niedrigzinsphase gebe es geringere Anreize für die Geldhäuser die Kunden zu neuen, unvorteilhaften Kreditverträgen zu drängen.
Entscheidend sind auch die Sicherungssysteme
Zur Wahrheit gehört auch: Gegen Schicksalsschläge wie Krankheit, Unfälle, Trennung oder Arbeitslosigkeit können sich viele nicht absichern. "Solche Situationen sind "individuell oft nur schwer zu bewältigen", sagt Christoph Butterwegge, Armutsforscher an der Universität Köln. Er sieht eine Zweiteilung in der Gesellschaft zwischen denjenigen, denen das Einkommen für Vorsorge fehlt und anderen, die es seiner Meinung nach sogar übertreiben. Entscheidend sei für die meisten Menschen bei Schicksalsschlägen ohnehin, welche Leistungen sie aus den kollektiven Sicherungssystemen erhielten, die eben anders als große Teile der privaten Vorsorge nicht "ich-bezogen" seien.
Bisweilen sind Krisen jedoch vorhersehbar, beispielsweise wenn durch wechselnde Umstände wie steigende Mieten das eigene Budget kleiner wird. Mancher erkennt die Signale und reagiert frühzeitig, wie die Frau, die kürzlich die Schuldnerberatung in Berlin-Kreuzberg aufsuchte. "Die hatte ein ordentliches Einkommen, merkte aber, es wird langsam eng. Das ist eigentlich die Klientin, die man sich wünscht - die rechtzeitig kommt, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist", sagt Berater Christian Herberg.