SAP:Sein zweiter Traum

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Bill McDermott hat durch den Unfall ein Auge verloren, gebremst hat ihn das nicht. (Foto: Roslan Rahman/AFP)

Vor einem halben Jahr ist Bill McDermott, der Chef von SAP, fast verblutet. Gebremst hat ihn das nicht. Nun hat er sich zurückgekämpft - und präsentiert am Freitag die Konzernbilanz.

Von Max Hägler

Geschont haben ihn seine Leute nicht, trotz seiner Verletzung, die immer noch zu erahnen ist, hinter der dunklen Brille. Hier gibt es Fehler und da, das geht so nicht weiter, wir brauchen mehr Ideen! Die knapp 20 SAP-Programmierer, die gekommen sind in diesen kuriosen Raum, in dem Speere an der Wand hängen und eine Tartanbahn am Boden aufgezeichnet ist, fordern ihren Chef Bill McDermott. Eine Stunde hört er zu, macht kurze Einwürfe - "Thanks for telling me", "I appreciate this very much!" -, stellt Rückfragen, verspricht Abhilfe. Aber vor allem sagt McDermott immer wieder: Wir müssen noch besser, noch schneller sein, um noch größer zu werden. Um Microsoft und Apple und Google Paroli zu bieten. Und lächelt dann, so ein George-Clooney-Lächeln, bei dem man nicht weiß, wie ernst oder wie antrainiert es ist. Nun, am Ende, er ist schon auf dem Weg zur Tür, hält er noch mal inne, dreht sich um und sagt: "I love you, guys!"

Ich liebe euch, Leute. Wann hört man so etwas in einer deutschen Firma?

Aber SAP ist eben nicht mehr nur deutsch. Es ist, neben BMW, Daimler und Siemens, eine der ganz wenigen Firmen, bei denen die Nerds im Silicon Valley sagen: Ah, yeah, a huge company! Dessen sind sich hier alle bewusst. Global mit starken deutschen Wurzeln, sagen sie von sich selbst, das klingt geschäftig, aber es stimmt, auch wegen dieses Amerikaners aus New York City an der Spitze, den sie hier alle nur Bill nennen. Wobei es ein Wunder ist, dass er immer noch hier steht. Oder wieder. Denn vor ziemlich genau einem halben Jahr ist Bill McDermott fast verblutet.

Ein bisschen leiser sei er geworden, sagt er. Und nachsichtiger

Es ist das erste Juli-Wochenende. Sein Vater feiert in den USA seinen 76. Geburtstag. Der Vater, der ihm beibrachte, dass man sich wehren muss im Leben, der als Elektriker in Kabelschächten herumkrabbelte, damit die Menschen Strom haben. Nachts geht Bill McDermott die Treppe nach unten, mit einem Wasserglas in der Hand, rutscht aus - und fällt. "Ich landete mit dem Gesicht in den Scherben." Ein fingerlanger Splitter dringt in sein linkes Auge, er verliert das Bewusstsein. Mit Blaulicht kommt er ins Krankenhaus, per Hubschrauber ins nächste. Die Ärzte schaffen es, das Auge zu retten. Vorerst. Der erste Anruf nach der Intensivstation gilt seinem Mentor und Aufsichtsratschef Hasso Plattner: "Ich arbeite jetzt wieder!" Und allen, so glaubt er damals, dürfte klar gewesen sein: Bill is back! Doch das ist ein Irrtum. Die Ärzte kämpfen wochenlang um das Auge. Bis es zu einer Infektion kommt, der Kampf verloren ist. Die Manager-Kollegen in Walldorf schmieden währenddessen schon einen Plan B: Für eine Zeit ohne Bill an der Spitze.

Es ist ein Drama um einen der wichtigsten Manager im weltweiten IT-Zirkus. Ein Drama, das anfangs allerdings kaum jemand mitbekommt. Der Chef gibt Lebenszeichen von sich, schreibt viele E-Mails, nimmt an Telefonkonferenzen teil. Die Fassade steht. Das geht auch am Krankenbett. Hernach wird er sagen: Bemerkenswert, wie viel ein CEO erledigen kann, wenn er nicht ständig herumfliegen muss. Erst im September, als die Gerüchte hochkochen, wie er sich verletzt haben könnte, äußert er sich öffentlich. Kurz darauf darf er das erste Mal wieder nach Deutschland fliegen. Mit sehr dunkler Brille.

Für seine Leute in der Zentrale scheint das jetzt kein Thema mehr. Sie haken nicht nach. Bill is back - und o. k. Nüchterne deutsche IT-Leute eben. Oder höfliche.

Nachmittags nach dem Meeting auf der Tartanbahn trifft man den 54-Jährigen in seinem Büro. Nichts Spektakuläres. Ein paar Fotos von echten Stadien hängen an der Wand, etwa die Arena der TSG 1899 Hoffenheim. Seine Firma ist Sponsor - und auch am Erfolg beteiligt: Die Echtzeitdatenbanken erlauben es Trainern, Strategien, Stärken und Schwächen live zu analysieren. Siegen, das ist jedem Unternehmenslenker wichtig, McDermott ganz besonders: "Winner's Dream" heißt seine Autobiografie. Trotz des Unfalls hat sich da nicht so viel geändert. Auch wenn eine andere Seite dazugekommen sei: Ein bisschen leiser sei er geworden, sagt er. Die Hände hat er vor sich auf den Tisch gelegt, wie ein Schulbub wirkt er in diesem Moment; zugewandt war er schon immer, aber wenn man ihn früher traf, trat er ein wenig, ja, cooler auf. Und nachsichtiger sei er geworden. Viele Leute - Mitarbeiter, aber auch Fremde - hätten ihm geschrieben nach seinem Unfall. "Ich lese ihre Geschichten und sehe nun: Sie alle hatten herausfordernde Momente."

Bill McDermott ist in einer behütenden Familie groß geworden, und doch hatte er schon vor dem Treppensturz schwierige Momente. Mit sechs hat er seinen Bruder aus dem brennenden Elternhaus gezogen. Ein paar Jahre später stach er Angelo, der ihn an der Bushaltestelle verprügeln wollte, mit einem Stift in die Backe. Der Unfall letztes Jahr aber war anders. Er ist jetzt Vorstandschef. "Ich bin den Menschen nähergekommen, weil die sahen, dass auch ein erfolgreicher CEO verletzlich ist. Menschlich ist. Schwächen hat." Das Gute an diesem Schicksalsschlag, diesem neuen Kapitel sei, sagt er: Es zwingt dich, über das Leben nachzudenken. Darüber nachzudenken: Wofür lebe ich?

Und?

"Ja, ich will hier sein. Das ist mein klarer zweiter Traum." Gemeinsam wachsen, so sieht er das. Wobei es "nicht nur" ein Aufopfern sei. "Ich gewinne auch selbst." Hier bei SAP könne er zu "einer starken, erfüllten Persönlichkeit" werden. Seine Botschaft, die er wohl auch an sein Team transportieren will: Jeder kann immer dazulernen, besser werden.

McDermott ist einer, der beim Thema Führung öffentlich rät: Emotionen zeigen! Er selbst exerziert das brutalstmöglich. Man kann also sagen: Er setzt das Clooney-Lächeln ein, ganz gezielt, zumindest weiß er um die Wirkung. So wie er jetzt diesen schweren Unfall und seine Lehren daraus bewusst nutzt, um die Story von Bill, dem Sieger zu festigen, die seine Mutter Kathleen mitbegründet habe: "Du hast das Potenzial alles zu tun, woran du glaubst!", hatte sie ihn gelehrt. Schon bei seinem ersten Job, als Zeitungsjunge, sei er sich der Macht der Emotion bewusst gewesen, dieser Verbindung zwischen seinen Verdiensten und der Zufriedenheit der Kunden, erzählt er. Damals führte er Vertriebsgespräche bei einer Limo. Sein Ansatz als Chef ist derselbe gelieben: eine angenehme Atmosphäre verbreiten und dabei das Ziel nicht vergessen - auch wenn manche bei SAP lästern, das sei so "überemotional" und manchmal geradezu "kitschig".

Einer von den sehr kritischen deutschen Arbeitnehmervertretern erzählte unlängst: "Dem Bill hätte ich meine Großmutter verkauft beim ersten Aufeinandertreffen." Nach einigen Jahren des Zweifelns - wie amerikanisch werden wir? - sei er nun einigermaßen im Reinen mit McDermott. "Der ist halt, wie er ist, hat seine eigene Art. Er hat uns nie belogen."

Bei Veranstaltungen mit Investoren und Journalisten ruft McDermott gern: Wir werden gewinnen! Und strahlt dann wie ein Honigkuchenpferd. Yeah und so. Oder wie es in seinem Buch tatsächlich steht: "Bam!" Er liebt die Show, sagt er selbst. Wobei er gelernt hat: In Deutschland sollte das "Führen über Emotionen" einhergehen mit sehr viel Inhalt.

Der Inhalt bei SAP war bislang wichtig, aber fad. Komplexe Systeme, die das nun mal Notwendige in Firmen verwalten. Am Anfang war die Idee, die Lohnabrechnung nicht mehr per Lochkarte in den Großcomputer einzugeben, sondern per Bildschirmeingabe. Eine Revolution damals, 1972. Heute bestimmt SAP mit, wie die Globalisierung läuft, weil ihre Systeme bei sehr vielen Geschäften auf der Welt dazwischengeschaltet sind: Jeder zweite Euro und Dollar, der in der Welt verdient wird, durchläuft SAP-Software.

Die Firma braucht diesen Menschenversteher - und er braucht sie

Einer der Gründer des Konzerns ist inzwischen fordernder Aufsichtsratschef: Hasso Plattner, 70 Jahre alt und entscheidend für die SAP, weil er die technischen Visionen mitentwickelt. Etwa diese Echtzeitrechnerei in extrem großen Datenmengen, die sie jetzt in den Sportstadien benutzen oder bei der Tumorforschung.

Die Firma wiederum braucht den Menschenversteher McDermott, der so gern in pathetischen Sätzen spricht - um endlich nicht mehr verstaubt zu sein und die Visionen zu verkaufen. Und er braucht die SAP, so verstaubt sie manchmal noch daherkommt, weil sie ihm eine Bühne bietet. Man könnte nun sagen: Was für ein Schauspieler! Aber auch ein Dieter Zetsche zieht seine Choreografie durch.

Die Frage ist: Wie reagiert ein Chef, wenn er die Komfortzone verlässt? McDermott hat sich wieder aufgerappelt, und die ersten Zahlen zeigen: Das Jahr seiner Krise war ein gutes für die Firma, plus 18 Prozent beim Umsatz (21 Milliarden Euro) und dabei ein recht stabiler Gewinn (4,3 Milliarden vor Zinsen und Steuern). Die Details wird er an diesem Freitag erklären, bei der Präsentation der Bilanz 2015.

Das ist das erste Zwischenfazit seines zweiten Traums. Aber wovon träumt er noch? Da war doch immer mal wieder ein Raunen darüber, dass es ihn vielleicht in die Politik zieht? Geredet darüber hat er bislang nie. Aber es stimmt wohl: "Ich bin in den vergangenen Jahren immer wieder mit anderen CEOs zusammengesessen, und sie wollten, dass ich kandidiere in der US-Politik, als Gouverneur, als Präsident." Denen sei es ebenso egal "wie mir, ob ich das für die Demokraten oder die Republikaner mache". McDermott ist jetzt ganz ruhig und lächelt ein bisschen sein George-Clooney-Lächeln. Unter Wert verkauft sich dieser Mann jedenfalls nicht.

Was war das Ergebnis?

Natürlich habe er darüber nachgedacht, sagt er. "Ausgeschlossen ist es nicht." Aber er sei ja immer noch am Beginn seiner Story. Noch sei das zu früh. Mit 62 vielleicht. "Jetzt bin ich erst einmal CEO, das liegt mir. Ich spüre wirklich, dass ich auf der Welt bin, um das zu tun." Bam!

© SZ vom 21.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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