Süddeutsche Zeitung

Samstagsessay:Zeit für Reformen

Die Wirtschaftsweisen sind als kritische Begleiter der Politik per Gesetz institutionalisiert. Doch ihre Arbeit trifft in Berlin seit Jahren auf Ignoranz. Das ist ein schlechtes Zeichen für den Zustand deutscher Wirtschaftspolitik.

Von Jan Willmroth

Noch ein Monat wird vergehen, ehe die Mitglieder des Sachverständigenrats für Wirtschaft in Berlin auftreten, vor der blauen Wand im Kanzleramt in die Kameras lächeln und der Bundeskanzlerin ihr Jahresgutachten überreichen. Es wird dies wieder ein dickes Buch sein, etwa ein Dutzend Kapitel, an die 500 Seiten, es wird wieder jede Menge ökonomische Analysen, Schlüsse und Empfehlungen und wissenschaftlich fundierte Kritik an der Arbeit der Bundesregierung enthalten. Der Auftritt der Kanzlerin zu diesem Termin wird wieder am meisten darüber verraten, welch überschaubaren Stellenwert die Arbeit der fünf Wirtschaftsweisen für die Politik inzwischen hat.

So wie im vergangenen Jahr: "Für eine zukunftsorientierte Wirtschaftspolitik", lautete da der Titel des Gutachtens, eine implizite Erinnerung daran, dass man gerade die wirtschaftlich guten Zeiten nutzen sollte, um Strukturreformen anzugehen. "Politisch ist das nicht ganz so einfach, wie das wissenschaftlich einleuchtend ist", sagte Merkel; ihr öffentlich vorgetragener Kommentar lautete übersetzt: Danke, liebe Wissenschaftler, für eure Mühe, aber eure Vorschläge gehen an der politischen Realität vorbei. Ablehnung, gepaart mit offenkundigem Desinteresse.

Die Experten sollten den Dialog suchen, statt nur einmal im Jahr ein dickes Buch zu schreiben

So geht das seit Jahren. Was die Kanzlerin als höfliches Abwinken zeigt, war bei einigen schon mal bis zur Fundamentalkritik gesteigerte Ablehnung: "Sie in ihrem Elfenbeinturm haben doch keine Ahnung vom wahren Leben da draußen", so brachte es der damalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) den Sachverständigen bei einem Treffen in seinem Ministerium im Frühjahr 2014 bei. Was sich die Wissenschaftler eigentlich anmäßen? Yasmin Fahimi, Diplom-Chemikerin und damals Generalsekretärin der SPD, befand gar, das Gutachten scheine ihr "in seiner ganzen Methodik nicht mehr auf der Höhe der Zeit zu sein", es werde wissenschaftlichen Anforderungen nicht gerecht und enthalte "viel zu wenige ökonomische Fakten". Schriftliche Versuche der Ratsmitglieder und anderer Ökonomen, das zu widerlegen, nahm kaum jemand zur Kenntnis.

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, wie er vollständig heißt, musste als Institution häufig darum kämpfen, ernst genommen zu werden, wohl aber noch nie so dauerhaft und deutlich wie dieser Tage. Gegründet 1963 auf Geheiß des damaligen Wirtschaftsministers Ludwig Erhard, soll der mit fünf Ökonomen besetzte Rat qua Gesetz "zur Erleichterung der Urteilsbildung bei allen wirtschaftspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie in der Öffentlichkeit" regelmäßig die Wirtschaftspolitik in Deutschland evaluieren. Das Jahresgutachten ist der wichtigste Teil dieser Aufgabe; Adressat der Arbeit des Rats ist nicht allein der Politikbetrieb, es ist die Allgemeinheit. Die unabhängigen Ökonomen werden für fünf Jahre berufen, je einer von ihnen aber auf Vorschlag der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, was, wie sich aktuell wieder zeigt, einen Teil der Probleme des Rats verursacht.

Wie wenig die Bürger Deutschlands als eigentliche Adressaten des Gutachtens von diesem mitbekommen, auch das wird um diesen 7. November wieder zu beobachten sein. In der öffentlichen Diskussion spielt es größtenteils nur dann kurz eine Rolle, wenn es erscheint. Steht die Übergabe an, liefern sich die Redaktionen in Berlin ein Wettrennen darum, wer als erster über das Werk berichtet. Ein bis zwei Tage danach folgen in der Regel noch Texte über die Inhalte des Gutachtens, die aber nur in seltenen Fällen über eine Zusammenfassung der Zusammenfassung hinausgehen.

Die Erregungsökonomie im digitalen Zeitalter ist für den Sachverständigenrat also eine Herausforderung. Öffentliche Aufmerksamkeit ist heute abhängig von der plakativen Darstellung politischer Forderungen und jenen gewiss, die schriller auftreten, woran fundierte Analysen der Wirtschaftspolitik allzu oft scheitern. Das Jahresgutachten, mit seinen ausufernden Untersuchungen zu fast allen Teilbereichen der deutschen Wirtschaft fällt der Dynamik des zeitgenössischen Nachrichtenstroms zum Opfer. Im Lichte der Ablehnung aus der Politik und der so kurz gewordenen öffentlichen Aufmerksamkeitsspanne ist die Arbeit eines guten Dutzend Ökonomen, die monatelang für den Rat an dem Gutachten werkeln, in großen Teilen zu vergebener Liebesmüh geworden.

Noch dazu steht es in Konkurrenz zu einer Vielzahl von Veröffentlichungen der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute, die eigens ihre Arbeit vermarkten. Daran gemessen versäumt es der Rat, seine Botschaften dauerhaft, systematisch und strategisch klug unterzubringen. Es genügt nicht, einmal im Jahr ein dickes Gutachten vorzulegen und sich dann darüber zu wundern, dass es kaum jemand liest. Den Ratsmitgliedern ist es auch selbst anzulasten, wenn ihre Stimme verhallt. Umgekehrt gilt: Wer sich, wie die Bundesregierung, für mehrere Millionen Euro im Jahr ein unabhängiges Beratergremium leistet, muss auch offen sein für Beratung und sollte nicht ständig dem Reiz erliegen, Gutachter zu bestellen, deren Ergebnisse den politischen Vorgaben entsprechen. Wer im Sinne Walter Euckens der Wissenschaft eine "ordnende Potenz" zuschreibt, wie es Erhard mit dem Sachverständigenratsgesetz tat, sollte sie in der Gestaltung der Wirtschaftspolitik auch ernst nehmen.

Nun produziert der Rat trotzdem Schlagzeilen, die aber von seiner inhaltlichen Arbeit ablenken: Vorige Woche nominierten die Gewerkschaften den ihnen gewogenen Ökonomen Achim Truger, Fachhochschulprofessor und einst jahrelang Referatsleiter am gewerkschaftsnahen Institut IMK, als Nachfolger für das Rats-Urgestein Peter Bofinger, der 2019 turnusgemäß ausscheidet. Ihr Vorschlagsrecht ist informell, abgelehnt wurde indes noch niemand. Wahrscheinlich wird Truger also im Frühjahr auf Bofinger folgen.

Außerhalb des politischen Spektrums, dem das SPD-Mitglied Truger entstammt, kam das nicht gut an. Zwei seiner potenziellen Kollegen sprachen ihm gleich die wissenschaftliche Kompetenz ab. Lars Feld, Chef des Walter-Eucken-Instituts in Freiburg und seit 2011 im Rat, tat das explizit. Seine Kollegin Isabel Schnabel von der Universität Bonn mahnte an, die wissenschaftliche Qualifikation müsse an oberster Stelle stehen, wenn es um Posten im Rat gehe, womit sie indirekt sagte: In diesem Fall reicht sie nicht aus. Auf Twitter, in Zeitungen und Blogs entspann sich eine destruktive Diskussion unter Fachleuten. Ein derart öffentlich ausgetragener Streit schadet dem ohnehin ramponierten Ansehen des Rats zusätzlich.

Allerdings ist damit eine wichtige Frage angesprochen: Muss ein politisch beratender Ökonom zuerst ein guter Wissenschaftler sein, sich also mit Veröffentlichungen in international anerkannten Fachpublikationen hervorgetan haben, was Truger offensichtlich nicht hat? Oder zählt viel eher das Talent, die Komplexität moderner Wirtschaftswissenschaft in verständliche Sprache zu übersetzen, unter Berücksichtigung der politischen Realität?

Um die wissenschaftliche Expertise eines Forschers zu beurteilen, ist das internationale Renommee seiner Papiere - erstens - noch immer die verlässlichste Messgröße. Ein Blick auf die 38 Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats im Bundeswirtschaftsministerium offenbart zweitens, welche Maßstäbe dort gelten: In der Mehrzahl sitzen da Ökonomen, die Universitätsprofessoren oder Institutschefs oder beides sind, die zuerst wissenschaftlich exzellent waren und dann Politikberater wurden. Für ein so streng institutionalisiertes Gremium wie den Sachverständigenrat muss das ebenso gelten. Die Gewerkschaften tun sich und dem Rat keinen Gefallen, wenn sie jemanden berufen, den die vier Spitzenforscher Christoph M. Schmidt, Volker Wieland sowie Schnabel und Feld kaum ernst nehmen können.

Das Gremium sollte endlich nach Berlin ziehen, wo die Entscheidungen fallen

Die Personalie zeigt, wie widersinnig es ist, wenn die Tarifpartner mitbestimmen dürfen, wer in den Rat berufen wird. Einerseits soll dieser unabhängig sein, auch das steht im Gesetz, keines der Mitglieder darf öffentliche Ämter bekleiden oder Verbände vertreten. Und doch beeinflussen die Arbeitgeber (Wieland) und Gewerkschaften (Bofinger/Truger) die Arbeit des Gremiums, indem sie Wissenschaftler von ihren Gnaden aussuchen. Das sollte aufhören und stattdessen das Verfahren standardisiert werden: Alle fünf Ökonomen wären dann auf Vorschlag der Bundesregierung zu berufen. Damit die Nominierung trotzdem möglichst neutral abläuft, braucht der wissenschaftliche Beirat im Wirtschaftsministerium ein Mitspracherecht.

Auch der Standort ist nicht mehr zeitgemäß. Seit jeher hat der Rat seine Geschäftsstelle im Statistischen Bundesamt in Wiesbaden. Vor fünfzig Jahren ergab das noch Sinn, als man Statistiken auf Papier auswerten musste und dazu direkt im Daten-Bergwerk saß, zugleich weit genug weg von der Regierung in Bonn. Wer heute mitreden will, muss es den Beratungsfirmen und Lobbyverbänden gleichtun: Höchste Zeit, dass der Rat nach Berlin umzieht und da aktiv ist, wo die Entscheidungsträger sitzen. Dort könnten die wissenschaftlichen Mitarbeiter des Rats auch aufhören, Konjunkturprognosen zu erstellen. Erstens ist deren Sinn grundsätzlich fraglich, zweitens die Genauigkeit bescheiden und drittens gibt es schon genug davon; die Arbeitszeit ließe sich sinnvoller einsetzen.

Mit dem Titel des Jahresgutachtens von 2016 gilt für die Wirtschaftsweisen: "Zeit für Reformen". Das Leitmotiv dafür sollte sein, dem Rat mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen und strukturelle Schwächen zu beseitigen. Für das Gremium gilt es, mehr den dauerhaften Dialog zu suchen, unterjährig öfter gemeinsame Stellungnahmen zu verfassen und sich nicht nur auf das dicke Buch im Herbst zu konzentrieren. Entscheidend ist dabei nicht direkter Einfluss, sondern die Rolle des Rats als "öffentlicher Herausforderer der Politik", wie der frühere Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer sie beschrieb. Die Große Koalition sollte froh sein über solche Herausforderer, die Wirtschaftspolitik im Lichte aktueller Forschung bewerten. Eine Regierung, die nicht den Mut und Respekt hat, sich offen und ehrlich mit wissenschaftlicher Kritik auseinanderzusetzen, ist keine gute Regierung.

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Quelle:
SZ vom 06.10.2018
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