Samstagsessay:Wir suchen das Weite

Die Reiseindustrie machte Urlaub zum Produkt wie viele: Je billiger, desto besser. Das reicht nicht mehr: Sicherheit ist gefragt. Ein guter Moment, um Gewohnheiten zu ändern.

Von Michael Kuntz

Unter diesem Titel sind noch bis Ende September Reisebilder von Albrecht Dürer bis Olafur Elíasson im Berliner Kupferstichkabinett zu sehen: Wir suchen das Weite. Die verlockenden und kuriosen Exponate aus über fünf Jahrhunderten passen vielleicht nicht alle mehr so richtig zu diesem Sommer, der Titel der Ausstellung dafür umso mehr.

Wir suchen das Weite, es passt, weil wieder sehr viele Menschen verreisen, weltweit wohl mehr als eine Milliarde fahren ins Ausland. Wir suchen das Weite. Das passt aber auch, weil sehr viele 2016 nicht in Länder fahren, wo sie sich früher wohlgefühlt haben: die Türkei, Ägypten, Tunesien und auch Marokko. Wir suchen das Weite, was diese Ziele angeht, buchen lieber den Sommerurlaub in Spanien, Portugal, Italien oder Griechenland, jedenfalls in Ländern, die wir als sicher empfinden.

Na, wenn schon, könnte man sagen. Das kann im kommenden Jahr wieder ganz anders sein. Kann sein. Touristen meiden Orte, verdrängen aber auch schnell unangenehme Vorkommnisse, fahren wieder hin. Nach dem Anschlag auf eine deutsche Reisegruppe in Istanbul wollte dort niemand mehr hin. Drei Tage lang. Dann gab es schon wieder erste Anfragen, berichten Reiseveranstalter, selbst staunend.

Bei allen Extremen und aller Schnelllebigkeit erleben wir gerade vier Dinge, die neu sind für eine erfolgsverwöhnte Reiseindustrie, deren ökonomische Bedeutung global größer ist als die der Autoindustrie.

Erstens ist mit der Türkei - das nach Spanien und Italien drittwichtigste Reiseland der Deutschen - weitgehend ausgefallen, und nach den jüngsten politischen Unruhen wohl auf vorerst unabsehbare Zeit.

Auf eigene Faust in die Ferien zu fahren, liegt im Trend

Zweitens haben die Menschen ihre Gewohnheiten geändert. Sie buchen ihren Urlaub nicht mehr viele Monate im Voraus, sondern kurzfristig. Damit hätten sie früher das Geschäftsmodell der Reiseindustrie durcheinandergebracht. Denn die legten in Zeiten hoher Zinsen die Anzahlungen gewinnbringend an. Etwa die Hälfte der Urlaube wurde mindestens fünf Monate vorher gebucht - jahrelang war das eine sichere Sache für Veranstalter und Hoteliers, die ihre Frühbucher mit Rabatten belohnte. Ein System, das im kommenden Jahr nun zumindest auf dem Prüfstand steht, nachdem es 2016 erstmals nicht mehr funktionierte.

Drittens stellen die Menschen mehr Fragen, bevor sie buchen. Selbst Strandurlaub ist wegen der Verunsicherung durch den Terror erklärungsbedürftig geworden, ihn einfach per Mausklick am Computer zu bestellen, fällt schwerer als früher.

Und viertens entschließen sich mehr Menschen als bisher, auf die Dienste eines Reiseveranstalters ganz zu verzichten. Das ist wohl mehr als ein momentaner Eindruck, es ist ein repräsentativer Trend, wird von Konsumforschern festgestellt. Dass mehr Menschen auf organisierte Gruppenerlebnisse verzichten, ist im Übrigen auch an den derzeit sinkenden Umsätzen der Reiseindustrie abzulesen.

Offenbar entdecken einige der Pauschalreisenden in diesem Sommer gerade, dass Urlaub nicht immer die durchschnittlich nur noch 10,2 Tage dauernde Flugreise ans Mittelmeer sein muss. Ist das so schlimm? Eher nicht, denn die sommerlichen Massenbewegungen durch überfüllte Flughäfen und in großdimensionierte Hotelanlagen gefallen längst nicht jedem und sind häufig auch unter ökologischen Gesichtspunkten kritisch zu sehen. Bereits heute steuert die Mehrheit der Deutschen bei einer Urlaubsreise von mehr als fünf Tagen ihr Ziel auf eigene Faust an.

Samstagsessay

Illustration: Lisa Bucher

Sollte sich dieser Trend verstärken, würde das keineswegs das baldige Aus des organisierten Massentourismus bedeuten.

Denn treueste Käufer der jährlich in Deutschland um die 30 Millionen Pauschalreisen sind jene, die sich nicht unbedingt aussuchen können, wann sie Ferien machen. Viele Menschen müssen dabei einiges berücksichtigen: Werksferien und die Sommerferien der Kinder zwingen zur Teilnahme an der alljährlichen Völkerwanderung zu den Sonnenstränden des Mittelmeeres. Wenn dann noch eine Anlage mit All-Inklusive-Programm beim Essen, Trinken, der Kinderbetreuung und den Sportangeboten gebucht wurde, war aus dem ungewissen Abenteuer ein zumindest finanziell kalkulierbarer Urlaub geworden, mit der Aussicht auf ein Stück Ferienglück. Das galt einmal.

Die Folge: Eine Pauschalreise bestand bisher aus Flügen, Transfers und der Unterkunft. Die Reiseindustrie machte den Urlaub zu einem Produkt wie andere. Je billiger der Flug und das Hotel, desto besser. Dieses Erfolgsmodell funktioniert so nicht mehr. Der Preis allein ist nicht mehr entscheidend, auch wenn die vielen Vergleichsportale im Internet das immer noch suggerieren. Denn seit der Serie von terroristischen Anschlägen an verschiedenen touristischen Orten gewinnt nun ein Faktor an Gewicht, der bisher als selbstverständlich galt und nicht besonders erwähnenswert zu sein schien: die Sicherheit.

Sicherheit zu produzieren, geht das überhaupt? Nach dem Anschlag auf ein Strandhotel in Tunesien vor ziemlich genau einem Jahr wurden die Sicherheitskonzepte vielerorts verschärft. Doch es gibt Grenzen, denn natürlich passen für die wenigsten Urlauber bewaffnete Wächter am Strand oder Zugangskontrollen wie am Flughafen in ihre Vorstellung von fröhlichen Ferien. Zumal jeder weiß, dass diese Art von Schutz nie perfekt sein kann.

Letztlich vertraut man auf die Seltenheit fataler Ereignisse. Die Statistiker beteuern, dass auch heute noch das Gefährlichste an einer Pauschalreise die Autofahrt zum Flughafen ist.

Die Reiseveranstalter betreiben inzwischen Krisenzentren für die rasche Information ihrer Reisenden am Ort und bei Hilfe in Notfällen. Inzwischen wird offensiv damit geworben - in jedem Katalog und auf jeder Webseite. Die lange als spießig geltende Pauschalreise wird durch das Versprechen einer Rundum-Sorglos-Betreuung aufgefrischt.

Ansonsten zeigt jedes krisenhafte Ereignis, das auf einen Ort oder ein Land beschränkt ist, wie brutal Marktwirtschaft sein kann. Die Nachfrage bleibt, aber sie wird umgelenkt zu anderen Angeboten. Die Menschen reisen, aber eben zu anderen Zielen. Charterflieger werden umgeleitet. Kreuzfahrtschiffe ändern ihre Routen. Das ist bitter für die Bewohner von Staaten, in denen der Tourismus eine wichtige Einkommensquelle ist. Sie bezahlen einen hohen persönlichen Preis, selbst wenn sie eigentlich Dank verdient hätten für eine Entwicklung, die sie angestoßen haben. So war es in Tunesien, wo die Bewegung des arabischen Frühlings, also die Ablösung archaischer Potentaten durch demokratisch gewählte Volksvertreter, begonnen hatte. Wo viele noch in die Ferienregionen fuhren, als in der Hauptstadt demonstriert wurde. Und wo keiner mehr Ferien machen wollte, als sich die Anschläge im Land häuften. Ähnliche Abläufe sind derzeit in der Türkei zu beobachten.

Mit dem Terror kam die Angst. Zwar sucht der Tourist durchaus eine Art Schock, nicht von ungefähr droht ihm ja auch ein Kulturschock. Aber ein Urlaub soll unter beherrschbaren Bedingungen stattfinden. Der Kontrollverlust soll kontrollierbar bleiben. So wird dann in als sicher empfundene Länder gereist wie Spanien und Portugal, wo sich zumindest in jüngerer Zeit keine spektakulären Anschläge ereignet haben. Auch Griechenland ist wieder gefragt, die vielen Bootsflüchtlinge im vorigen Sommer auf manchen Inseln scheinen vergessen zu sein.

Drei Thesen

Die Angst: Die Verunsicherung durch Terror verändert den Massentourismus

Die Antwort: Das Gefühl von Sicherheit wird zum wichtigen Element einer Reise.

Die Aussichten: Menschen suchen weiter Urlaubsabenteuer, aber beherrschbare.

Wahrer Luxus kann es sein, an Ort und Stelle zu bleiben, und nur noch zu Fuß zu gehen

Oder man bleibt im Inland, wo an Nord- und Ostsee ziemlich alles ausgebucht ist. Urlaub in Deutschland ist gefragt, die Autoreise in eine Ferienwohnung. Zu Hause zu bleiben kommt eher nicht infrage, jedenfalls nicht für 77,1 Prozent der Bevölkerung, die überhaupt verreisen. Der Wunsch nach Abwechslung vom Alltag ist zu stark und auch der Drang in die Ferne ausgeprägt: Wir suchen das Weite.

Mehr Menschen als sonst suchen dieses unbestimmte Weite in diesem Jahr in der Nähe. Ohne Stress am Airport, unruhige Flüge, die Schlacht ums Büfett und andere Begleiterscheinungen des Mittelmeer-Tourismus in der Hochsaison. Der Flugpreis bleibt in der Reisekasse, zum Kupferstichkabinett in Berlin mit den Reisebildern von Albrecht Dürer bis Olafur Elíasson fährt der Linienbus.

Der Urlaub mit dem Klimakiller Flugzeug wird auch aus ökologischen Gründen kritisch betrachtet. "Müssen wir wirklich zum Hallenskifahren in den Wüstenstaat Dubai, zum Wochenend-Shopping nach New York, zur Rave-Nacht nach Reykjavik, zum Heliskiing nach Kanada oder zur Kreuzfahrt in die Karibik fliegen", fragt Frank Herrmann, der in seinem gerade veröffentlichten Buch "FAIReisen" das Fliegen die "Achillesferse des Tourismus" nennt. Die Diskussion über ethisch korrektes Reisen gibt es schon lange, doch interessierte sie bisher wenige. Das ändert sich gerade.

Es geht um die Umwelt, die Menschenrechte, die Arbeitsbedingungen, Prostitution. Was der globale Tourist eben so anrichtet, wenn er wie selbstverständlich durch die Welt flaniert. Die gegenwärtige Veränderung im Reiseverhalten beruht zwar zunächst auf der neuen Verunsicherung. Doch nicht wenige hinterfragen gerade jetzt auch ihre Gewohnheiten. Es ist ein Prozess der Rückbesinnung auf wesentliche Dinge, meist nicht an bestimmte Orte gebunden, erlebbar nicht nur in der Weite.

Das Weite kann auch in der Nähe liegen.

Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger hat das mal, schon lange vor der neuen Angst beim Reisen, so ausgedrückt: "Vereinzelt werden bereits Stimmen laut, die den Luxus preisen, der darin besteht, an Ort und Stelle zu bleiben, und nur noch zu Fuß zu gehen." Okay, das ist jetzt ziemlich radikal gedacht.

Aber eine gewisse Entschleunigung darf schon sein. Die führt zu intensiverem Erleben, statt durch fremde Länder zu hasten mit der To-do-Liste, wie im Büro. Unterwegs manchmal innehalten, den Wert handyfreier Zonen schätzen zu lernen. Das geht auf eigene Faust einfacher. Der Blick auf einzelne Menschen fällt leichter, wenn sie nicht Teil einer amorphen Masse sind. Das Verweilen an Orten, an denen es einem gefällt. Für all das muss man nicht unbedingt Tausende Kilometer im Flugzeug anreisen. Jedenfalls nicht immer.

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