Süddeutsche Zeitung

Samstagsessay:Was heißt hier gerecht?

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Der Wahlkampf in diesem Jahr ist mehr denn je auch eine Auseinandersetzung um Begriffe. Egal ob Vermögen oder Rentenanspruch: Besonders wenn es um die Frage geht, wem was zusteht, spielt oft Irreführung eine Rolle.

Von Nikolaus Piper

Über nichts wird in diesem Wahlkampf so viel geredet wie über soziale Gerechtigkeit. "Zeit für mehr Gerechtigkeit" verspricht der SPD-Kandidat Martin Schulz. Soziale Gerechtigkeit ohne Innovation könne es nicht geben, sagt die Kanzlerin. Und die Linke fordert nicht weniger als eine "Gerechtigkeitswende". Es muss schon sehr ungerecht zugehen in diesem Deutschland, einem Land nebenbei, das als das erfolgreichste der EU bewundert und beneidet wird.

Merkwürdig ist, dass keiner der Wahlkämpfer sagt, was er eigentlich unter gerecht und ungerecht versteht. Oder was der Unterschied ist zwischen "Gerechtigkeit" und "Sozialer Gerechtigkeit". Kann etwas sozial ungerecht sein, wenn es gleichzeitig gerecht ist? Das aber wäre die Voraussetzung, dafür, dass das Adjektiv "sozial" vor "gerecht" überhaupt Sinn enthält.

Der liberale Ökonom Friedrich von Hayek misstraute dem allen: "Sozial" sei "ein Beiwort geworden, das jeden Begriff, mit dem man es verbindet, seiner klaren Bedeutung beraubt und zu einem unbeschränkt dehnbaren Kautschukwort macht, dessen Implikationen immer fortgedeutet werden können".

Zumindest an den "fortgedeuteten Implikationen" ist etwas dran. Zum Beispiel die gebührenfreien Kitas, wie sie Martin Schulz fordert. Klingt zunächst irgendwie sozial gerecht. Man sollte jedoch die Implikationen kennen. Hauptnutznießer der Maßnahme wären nicht die Bedürftigen, Alleinerziehende zum Beispiel mit geringem Einkommen, denn die zahlen heute schon ermäßigte oder gar keine Gebühren. Profitieren würden Eltern mit höherem Einkommen, für die die Sozialleistung angenehm ist, die sie aber nicht brauchen. Neue Kita-Plätze müssten geschaffen werden mit Geld der Kommunen, das dann für Anderes fehlt.

Oder die Studiengebühren. Nach heftigen Protesten von Studenten wurden die Gebühren in den meisten Bundesländern wieder abgeschafft. Aber war dies wirklich "ein Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit", wie das Wissenschaftsministerium Nordrhein-Westfalens erklärte? Wer studiert, erwirbt die Chance, ein überdurchschnittliches Lebenseinkommen zu verdienen. Warum ist ein bescheidener Eigenbeitrag des Begünstigten dazu ungerecht, selbst wenn dessen Eltern nicht so viel verdienen? Nun dürfen Langzeitstudenten Studienplätze belegen, während in den unterfinanzierten Universitäten junge Wissenschaftler mit schlecht bezahlten Teilzeitjobs über die Runden kommen müssen.

Soziale Gerechtigkeit war ursprünglich ein konservatives Konzept

So geht es weiter: Die Ostrenten werden an die Westrenten angepasst. Über den Preis dafür redet man nur sehr leise. Bisher waren, mit Rücksicht auf den Arbeitsmarkt, Ostlöhne bei den Rentenansprüchen besser gestellt als Westlöhne. Diese Regelung entfällt. Das bedeutet: Heutige Rentner werden besser gestellt, künftige Rentner schlechter. Das Reden über Gerechtigkeit führt hier in die Irre.

Soziale Gerechtigkeit gilt heute als ein urlinker Begriff. Das stimmt aber nicht, ganz im Gegenteil. Soweit feststellbar, waren es die konservativen italienischen Theologen Luigi Taparelli (1793-1862) und Antonio Rosmini (1797-1855), die um 1848 zum ersten Mal von iustitia socialis sprachen. Sie wollten den Kampf zwischen Kapitalisten und Liberalen einerseits und Arbeitern und Sozialisten andererseits überwinden durch den Rückgriff auf die Gerechtigkeitslehre von Thomas von Aquin. Taparelli und Rosmini passten die Lehre des großen Scholastikers an die Verhältnisse der frühen Industrialisierung an. Ihr Ziel war es, die Gesellschaft dadurch zu bewahren und zusammenzuhalten, dass jeder das bekam, was ihm zustand. Und das war durchaus konservativ gemeint. Die iustitia socialis fand 1931 den Weg in die Sozialenzyklika Quadragesima anno von Papst Pius XI. "Die soziale Gerechtigkeit und die soziale Liebe" sollten "die wirtschaftliche Macht in strenge und weise Zucht nehmen", heißt es darin.

Dagegen tat sich die traditionelle Arbeiterbewegung zunächst schwer mit dem Begriff. Zwar forderte das Gothaer Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, der Vorgängerin der SPD, 1875 die "gerechte Verteilung des Arbeitsertrages", doch das weckte den Ärger von Karl Marx, der die Forderung als "veralteten Phrasenkram" verdammte. Was gerecht ist, hänge immer von den Produktionsverhältnissen ab, lehrte er. Konsequenterweise ist weder im Erfurter Programm der SPD von 1891 noch im Heidelberger Programm von 1925 von Gerechtigkeit die Rede. Erst das Godesberger Programm von 1959 änderte das. "Freiheit und Gerechtigkeit bedingen einander", heißt einer der Godesberger Schlüsselsätze. In einem Punkt hatte Marx aber nicht ganz unrecht. Was sozial gerecht bedeutet, was also wem zusteht, muss eine Gesellschaft immer wieder neu herausfinden. Wenn man sich dies nicht eingesteht, wird der Begriff zur Forderung nach immer höheren Sozialleistungen banalisiert. Das hat mit einer Eigentümlichkeit der Politik zu tun, die der legendäre Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, Otto Schlecht, einmal die "Faszination des Unmittelbaren" nannte. Es ist die Neigung der Öffentlichkeit, bei allen Problemen Ad-hoc-Maßnahmen des Staates zu verlangen, und die Bereitschaft der Politiker, diesem Verlangen nachzugeben.

Nirgendwo zeigt sich dieser Mechanismus so schön wie bei der Rente. Die Rentenversicherung ist ihrem Wesen nach ein Vertrag zwischen drei Generationen, wobei die jeweils aktive mittlere Generation sowohl die künftigen Rentenzahler als auch die heutigen Rentenempfänger zu versorgen hat. Als "sozial gerecht" gilt aber nur, was den heutigen Rentnern zugute kommt, meist zu Lasten der aktiven Generation. Die Mütterrente ist ein Beispiel, die Rente mit 63 ein anderes.

Aufschlussreich ist der Blick in den Leitantrag des Parteivorstands der Linken für den Wahlparteitag: Die Rente mit 67 wird abgeschafft, jeder darf wieder mit 65 in den Ruhestand gehen, das Rentenniveau wird von heute 46 auf wieder 53 Prozent des Durchschnittsverdienstes erhöht, 122 Euro mehr für jeden "Standardrentner". Außerdem gibt es eine "solidarische Mindestrente" von 1050 Euro. Die Linke schlägt auch vor, wie diese Wohltaten finanziert werden sollen: Durch Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze. Wer 10 000 Euro brutto im Monat verdient, soll auch für 10 000 Euro Beiträge leisten (bisher sind es im Westen 6350 Euro). Und dann steht da der etwas verschwiemelte Satz: "Die Höhe der Rentenansprüche über dem Doppelten des Durchschnittes soll abgeflacht werden". Auf deutsch: Je mehr jemand verdient, desto weniger bekommt er im Verhältnis für seine Beiträge.

Ist das nun sozial gerecht? Ein Standardrentner wird sich vielleicht über die 122 Euro freuen und sagen: ja. Erfährt er dann, dass seine Tochter, sollte sie zum Beispiel bei BMW als Ingenieurin Karriere machen, immer höhere Beiträge zahlen muss und immer weniger dafür bekommt, fällt sein Urteil vermutlich anders aus.

"Soziale Gerechtigkeit" ist eben kein sinnvoller Begriff. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), glaubt sogar, dass das Reden über Gerechtigkeit die Gesellschaft weiter spalte, weil es dabei meist um Geschenke für die eigene Wählerklientel gehe. Deutschland habe nun wirklich nicht das Problem eines zu kleinen Sozialstaats, schrieb Fratzscher in der Zeit.

Dagegen sollte man über Ungleichheit reden. Tatsächlich haben sich die Unterschiede zwischen Arm und Reich deutlich erhöht, zumindest bis 2005. Aber auch da sollte man genau hinsehen. Die Ungleichheit ist nicht das Ergebnis eines ausgedünnten Sozialstaats, sondern des technischen Wandels. Die Informationstechnik hat viele gut bezahlte Jobs vernichtet, die nur eine geringe Qualifikation erforderten. Sie werden nicht wiederkommen. Die Entwicklung kann nur durch mehr und bessere Bildung umgedreht werden.

Das zentrale Ziel für Deutschland müsste Chancengleichheit sein

Das Ziel ist nicht soziale Gerechtigkeit, sondern Chancengleichheit. Es geht darum, möglichst allen Menschen die gleichen Startchancen zu geben. Natürlich wird dies nie ganz erreicht werden. Es gibt unterschiedliche Talente, und wer in einer bildungsnahen Familie aufgewachsen ist, mit viel Büchern und Musik, der hat einen Vorsprung, den ihm niemand mehr nehmen kann. Aber dem Ziel könnte man sehr viel näher kommen als heute.

Oder die Sache mit dem Vermögen. Immer wieder sorgen Studien für Aufsehen, nach denen die Vermögen in Deutschland so ungleich verteilt sind wie in kaum einem anderen Industrieland. Niemand sagt aber, warum das so ist: Der wichtigste Teil der Altersvorsorge für deutsche Arbeitnehmer sind Rentenansprüche. Die aber werden in der Statistik nicht als Vermögen gerechnet. Berücksichtigt man diesen Effekt, wird die Vermögensverteilung in Deutschland relativ normal. Trotzdem wäre es gut, hätten die nicht-reichen Deutschen mehr Vermögen. Nur: Warum schlägt keiner der Wahlkämpfer eine großzügige Förderung der Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand vor? Durch die Vermögensteuer für Reiche hat noch kein Geringverdiener einen Euro mehr Vermögen.

Georg Cremer, Generalsekretär des Caritasverbandes, glaubt nicht, dass die Frage, ob es in Deutschland "gerecht" zugeht, zu beantworten ist. Dazu sei der Begriff zu vielschichtig. Man könne sich lediglich dem Ideal bei einzelnen "Gerechtigkeiten" nähern. "Die größten Gerechtigkeitsdefizite sehe ich bei der Befähigungsgerechtigkeit. Wir tun zu wenig, damit Menschen aus prekären Milieus ihre Potenziale entfalten können." Ein krasses Gerechtigkeitsdefizit bestehe darin, dass Menschen, die lebenslang im Niedriglohnbereich arbeiten, im Alter nicht besser gestellt sind, als hätten sie nie gearbeitet. Dies sei aber nur durch eine spezielle Grundsicherung zu erreichen und nicht durch ein höheres Rentenniveau für alle.

Wenn man sich einmal dazu durchringt, auf den Begriff "soziale Gerechtigkeit" zu verzichten, stehen viele Alternativen zur Verfügung. Wie wäre es zum Beispiel mit der "gerechten Sozialordnung"? Die steht im Godesberger Programm und verbindet auf sehr altmodische Weise das Ziel der Gerechtigkeit mit dem einer konsistenten Ordnung, so wie es der Tradition der Sozialen Marktwirtschaft entspricht.

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Quelle:
SZ vom 15.04.2017
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