Samstagsessay:Vergesst nicht die Wirtschaft

Helmut Kohl war ein Staatsmann, der immer politisch dachte. Die Regeln der Wirtschaft interessierten ihn ebenso wenig wie Ratschläge von Ökonomen. Das war ein schwerer Fehler.

Von Marc Beise

Helmut Kohl war ein großer Europäer, nicht nur im Wort, sondern eben auch in der Tat. Wo andere die Union nur in Vorträgen preisen und ansonsten nationalistisch oder kleinmütig agieren, spielte der Bundeskanzler Kohl die europäische Karte aus Überzeugung; der bevorstehende europäische Trauerakt, der erste seiner Art, ist ein würdiger Abschluss dieses Wirkens. Dazu ist viel gesagt und geschrieben worden in den vergangenen Tagen und auch zur zentralen historischen Leistung des Politikers, den Zipfel der Geschichte beherzt zu ergreifen und die deutsche Einheit wiederherzustellen. Dagegen verblassen seine Fehler und Mängel in der Innen- und in der Parteipolitik, die viele Zeitgenossen zu Recht erzürnt haben, selbst die Parteispendenaffäre wird zur Fußnote der Geschichte.

Worüber aber bisher sehr wenig gesprochen wurde, ist Kohls Wirtschaftspolitik. Das überrascht, denn eigentlich ist die Bedeutung der Ökonomie heute offensichtlich. Kein Politiker kann es sich noch leisten, wirtschaftliche Fragen zu ignorieren, Parteiprogrammatik und tägliche Debatte sind ökonomisch bestimmt. Auf Wirtschaft, das wissen wir nicht erst seit Bill Clintons berühmtem Ausspruch "The economy, stupid", kommt es an.

"Die Wirtschaft ist unser Schicksal", wusste schon der 1922 von Rechtsextremisten ermordete liberale deutsche Außenminister und Unternehmer Walther Rathenau. Er wandelte ein Wort von Napoleon ab, der bezeichnenderweise noch "Die Politik ist das Schicksal" formuliert hatte (zu Goethe, bei deren Begegnung in Erfurt 1808). Napoleon war altes Denken, Rathenau neues. Heute muss man, an Donald Trump gewendet, sogar formulieren: "Die Weltwirtschaft ist unser Schicksal."

Oder zeigt das Beispiel Kohl womöglich, dass das gar nicht stimmt? Dass die Politik führt, und der Wirtschaft nur eine dienende, eine nachgeordnete Rolle zukommt? Darüber nachzudenken, heißt zweierlei: sich angemessen von Helmut Kohl zu verabschieden und, wichtiger, Lehren für die Zukunft zu ziehen.

Fassungslosigkeit nach einem Besuch im Bonner Kanzleramt

Beginnen wir mit Ludwig Erhard. Keine Festrede der Kohl-Partei CDU ohne Referenz an ihren größten Wirtschaftspolitiker. Der 1977 gestorbene Wirtschaftsprofessor, Erfinder der D-Mark und Vater des Wirtschaftswunders verkörperte als Person ein Konzept, das Wissenschaftlern vor allem der Universität Freiburg vor und während des Zweiten Weltkriegs formuliert hatten und auf das sich noch heute so unterschiedliche Politiker wie Angela Merkel und Sahra Wagenknecht berufen: die Ordnungspolitik.

Ordnungspolitik, das heißt nicht: freie Marktwirtschaft "jeder gegen jeden". Aber auch nicht Planwirtschaft, gelenkt von Partei oder Regierung. Stattdessen geht es um ein möglichst freies Betätigungsfeld für die wirtschaftlichen Akteure: Unternehmen, Börsenteilnehmer, Menschen leben Markt und Wettbewerb - geordnet durch Prinzipien, die wie Leitplanken wirken. Ordnungspolitiker denken freiheitlich: Lasst die Akteure schalten und walten, außer sie treiben es zu bunt. Sie denken nicht staatssozialistisch à la "Wir bauen uns die Welt im Einzelnen nach unseren Vorstellungen".

Ein Ordnungspolitiker hat ein feines Gespür dafür, wo und wie er eingreift und wo nicht. Er weiß sich selbst um des freien Spiels der Kräfte zu mäßigen. Er hat Vertrauen in die Wirtschaft. Helmut Kohl dagegen wollte immer gestalten. Er war Politiker, Taktierer, Netzwerker durch und durch. Eigentlich, so das erschütternde Urteil von sehr profilierten Bonner Wirtschaftsredakteuren, die ihn einmal im Kanzleramt zu einem Meinungsaustausch über Wirtschaftsthemen besucht haben, hatte der Mann "nicht die Spur einer Ahnung" davon, wie Wirtschaft funktioniert, und es hat ihn auch nicht interessiert.

Samstagsessay: Illustration: Sead Mujic

Illustration: Sead Mujic

Der Kanzler hatte natürlich mit wirtschaftlichen Fragen zu tun, wie auch sonst, und auch in seiner Zeit wurden einschlägige Gesetze beschlossen. So dass sein Wegbegleiter im Guten wie im Bösen, Wolfgang Schäuble, in seinem Nachruf jetzt sagen kann: "Wir haben Reformen auf dem Arbeitsmarkt, in der Gesundheitspolitik und in der Rentenpolitik gemacht." Aber Kohl war eher Getriebener als Treibender, und wenn Schäuble sagt, es habe damals "keinen Reformstau gegeben", dann hat er diese Erkenntnis exklusiv.

Erst recht bei seinen beiden großen Entscheidungen hielt sich Kohl nicht mit wirtschaftlichen Überlegungen auf. In beiden Fällen bekam er guten und klugen Rat, aber er hat diesen wohl nicht wirklich bedacht, gewogen, hat sich nicht wenigstens gequält, bevor er ihn womöglich verworfen hätte. Es prallte alles mehr oder weniger an ihm ab.

Zunächst zur deutschen Einheit, die sich vollzog wie eine Sturzgeburt. Namhafte Ökonomen hatten im Winter 1989 ein längeres Nebeneinander beider Staaten empfohlen. Dass es dazu nicht kam, war nicht Kohls Fehler, die DDR-Bürger hatten, was jeder verstehen kann, einfach keine Geduld mehr ("Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh'n wir zu ihr!" skandierten sie auf den Straßen). Aber die Bedingungen hätte Kohl sehr wohl wirtschaftsverträglich gestalten können. Gegen den energischen Rat des Bundesbankpräsidenten legte er den Umtauschkurs auf eins zu eins zwischen der D-Mark und der Ostmark fest, was der wirtschaftlichen Situation im Osten nicht entsprach. "Blühende Landschaften" erwartete ohnehin niemand außer Kohl, der sogar versprach, für die Einheit keine Steuern zu erhöhen; das Versprechen musste er - natürlich - brechen.

Anstatt die Transformation der DDR-Wirtschaft im geschützten Raum langsam sich entwickeln zu lassen, anstatt die neuen Länder als Sonderwirtschaftszone attraktiv für internationale Investoren und Unternehmen zu gestalten, machte die einfallslose Übernahme des westdeutschen Sozialsystems und Arbeitsrechts die DDR-Betriebe platt und den Osten zur verlängerten Werkbank der westdeutschen Unternehmen.

Und dann die europäische Integration: Auch sie hat Kohl mit Härte und Entschlossenheit vorangebracht. Den Euro aber hat er gegen die mutmaßliche Stimmung in der Bevölkerung und gegen den Rat vieler Ökonomen durchgezogen. Hier muss mit einigen Legenden aufgeräumt werden. Der Euro war nie die Bedingung für die deutsche Einheit, und Kohl wusste das auch, wie er später klar benannte. Er war auch nicht die Bedingung einer weiteren europäischen Integration, aber, das ist wahr, er hat sie erleichtert. Frankreich hatte ein großes Interesse, aus der faktischen Umklammerung durch die starke D-Mark "als der deutschen Atombombe" zu entkommen.

Wirtschaftlich aber waren selbst die starken EU-Staaten noch nicht reif für eine Währungsunion, über die ja schon vor den dramatischen Ereignissen der Jahre 1989/90 verhandelt worden war und auch noch länger hätte verhandelt werden können. Nach aller ökonomischen Theorie hätte man erst die wirtschaftliche und finanzielle Angleichung weiter vorantreiben müssen und diesen Prozess dann mit dem Euro krönen können. Aber Kohl entschied sich für den anderen Weg: Erst den Euro, der Rest wird schon klappen. Der deutsche Kanzler wollte das durchziehen, und der Rest war ihm egal. Den Graben zwischen vor allem deutscher und französischer Wirtschaftspolitik ignorierte er einfach, es interessierte ihn schlicht nicht.

Das finale Wort zum Thema hat Kohl selbst geliefert mit dem grandiosen Satz: "Ich will nicht den Ludwig-Erhard-Preis gewinnen, sondern die nächsten Wahlen."

Wahlen in der Tat hat er gewonnen, wieder und wieder gegen allen intellektuellen Hochmut seiner Kritiker - während Ludwig Erhard, der Namensgeber des Preises, schon als Wirtschaftsminister sich in wichtigen Fragen von seinem Kanzler Adenauer demütigen lassen musste, und als Kurzzeit-Kanzler von 1963 bis 1966 als gescheitert gelten darf. Hatte Kohl also recht? Ist das die Alternative: Ludwig-Erhard-Preis oder Wahlen? Ordnungspolitiker oder Staatsmann? Wirtschaft oder Politik?

Drei Thesen

Politik

Machtmenschen wollen schnell und effektiv handeln

Ordnungspolitik

Das deutsche Wirtschaftsmodell setzt auf Prinzipien

Gute Politik

Nachhaltig erfolgreich ist, wer die Regeln der Ökonomie bei seinem politischen Handeln mitbedenkt

Die Antwort ist ein klares Nein.

Kohl hatte nicht recht, und Politik ohne Wirtschaft funktioniert nicht. Nicht auf längere Sicht. Und ausgerechnet die beiden Kohl'schen Großprojekte belegen das: Die Deutsche Einheit ist bis heute unglaublich teuer geworden, sie hat bis zu 1, 5 Billionen Euro öffentliches Geld verschlungen, den Ost-Ländern ihre wirtschaftliche Perspektive genommen und den Bürgern ihre Würde. Hätte Deutschland nicht seit einigen Jahren eine Sonderkonjunktur gegen fast den ganzen Rest der Welt, sähe die Lage dramatisch und die Bilanz des Einheitskanzlers ganz anders aus.

Die Nachfolger Schröder und Merkel mussten Kohls Erbe neu ordnen

Ebenso wenig ist es gelungen, den Euro krisensicher zu machen. Die Regeln des Stabilitätspakts, das Versprechen, dass jedes Land für seine Schulden selbst verantwortlich ist, die Angleichung der Lebensverhältnisse - alles gescheitert. Viele, auch der Autor dieser Zeilen, haben das damals anders erhofft und erwartet - warum irrten sie? Weil sie, wie Kohl, den politischen Wunsch über die wirtschaftliche Realität gestellt haben.

Das ist die Ambivalenz dieses großen Kanzlers: Die Einheit durchzuziehen und die europäische Integration voranzutreiben, war das eine. Wie das konkret ablief, das andere. Der Staatsmann Kohl hatte es in der Hand, sein Werk nachhaltig abzusichern - wenn er sich denn für Wirtschaft und Wirtschaftspolitik ernsthaft interessiert hätte. So aber lastete er der nachfolgenden Generation schwere Hypotheken auf, mit der sich nicht nur seine Nachfolger Gerhard Schröder ("Agenda 2010") und Angela Merkel (Euro-Rettungspolitik) rumschlagen mussten.

Der Euro-Gegner Joachim Starbatty, Wirtschaftsprofessor in Tübingen, hat einem jungen Europa-Enthusiasten vor Jahrzehnten in Tübingen einmal gesagt: Alles gut und schön mit Eurer Währungsunion, aber denkt immer daran, dass Wasser nicht bergauf fließen kann. Zwar ist Ökonomie keine Mathematik, man kann Dinge unterschiedlich sehen und als Ökonom unterschiedlichen Rat geben, aber es gibt Wahrscheinlichkeiten, mit denen Politiker sich verdammt noch mal beschäftigen müssen. Sie einfach zu ignorieren, die Methode Kohl also, rächt sich immer, irgendwann.

Ja, man kann Wahlen ohne Ludwig Erhard gewinnen. Man gewinnt sie manchmal vielleicht nur so. Aber die nächste oder die übernächste Wahl geht dann trotzdem verloren. Und die Bürger müssen es über viele Generationen ausbaden.

Deshalb ist der große Staatsmann Helmut Kohl, was sein wirtschaftspolitisches Vermächtnis angeht, kein Vorbild. Und das ist dann schon mehr als nur eine Fußnote im Geschichtsbuch der Deutschen.

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