Süddeutsche Zeitung

Freihandelsabkommen:Auf dem Weg in die Kontrollgesellschaft

TTIP- und Ceta-Kritiker fordern totale Information. Doch alles offenzulegen, ist ein Irrsinn.

Essay von Karl-Heinz Büschemann

Den Deutschen war es im Verhandlungssaal zu kalt. Diese Erkenntnis verdankt die Welt den Segnungen der Informationsgesellschaft. In den vergangenen beiden Wochen wurde in Washington in den Räumen der Weltbank vor einem internationalen Schiedsgericht die Klage des schwedischen Energiekonzerns Vattenfall gegen die Bundesrepublik Deutschland verhandelt. Ein wichtiges Thema: Es geht um Milliarden. Aber nebenbei ging es um mehr.

Die heftige Kritik an privaten Schiedsgerichten, die Streit zwischen Wirtschaftsunternehmen und Staaten schlichten sollen und die als Hort böser Machenschaften gelten, hatte dazu geführt, dass alle zehn Verhandlungstage dieses Washingtoner Schiedsverfahrens im Internet übertragen wurden. Am gestrigen Freitag war die Anhörung zu Ende. Es war eine Qual.

Graue Juristen und Ingenieure waren zu sehen, die um eine ovalen Konferenztisch saßen und sich monoton auf Fachchinesisch gegenseitig TÜV-Berichte und juristische Gutachten vorlasen. Eine Delikatesse für Fachleute. Der Normalbürger hatte mitbekommen, dass die deutschen Verhandlungsteilnehmer ordentliches Englisch sprechen und am ersten Tag darum baten, die Klimaanlage wärmer zu stellen. Ob das die Welt weiterbringt? Kaum.

Das öde anmutende Vattenfall-Gericht ist zum symbolischen Ort geworden. Es zeigt wie nahe Sinn und Unsinn von Offenheit beieinander liegen. Transparenz kann zur Vernebelung führen, Information entwickelt sich schnell in Verwirrung und was der Kontrolle dienen soll, führt leicht in ein Überwachsungsregime.

In Washington geht es nicht nur um die Milliarden, die der schwedische Energiekonzern von der Bundesregierung als Entschädigung dafür verlangt, dass er nach dem Fukushima-Unfall seine deutschen Atomkraftwerke frühzeitig stilllegen soll. Es geht auch um eine Zuwendung eines Expertengremiums zum Publikum.

Dass jedermann das Verfahren verfolgen kann, soll Kritiker der Handelsabkommen besänftigen: durch nie da gewesene Offenheit. Es wird nichts helfen, diese Idee wird scheitern. Die Forderung nach mehr Transparenz, nicht nur bei Schiedsverfahren, sondern in allen Bereichen des Lebens, sitzt einem verführerischen Trugbild auf. Transparenz ist eine Chimäre, sie fördert das Gute wie das Böse. Sie ist keineswegs nur ein Segen.

Transparenz gilt heute bereits als Fortschritt an sich

Dennoch macht sich eine breite politische Koalition in diesem Land für die neue Bewegung stark. Der grüne EU-Parlamentarier Reinhard Bütikofer fährt das ganz große Kaliber auf, wenn er erklärt, worum es den Anti-TTIP-Kreuzzüglern geht und was es unbedingt zu verhindern gilt: "Die Untergrabung demokratischer Verantwortung unserer Parlamente, die Intransparenz für die Bürger, die Stärkung der Konzerne zu Lasten des Mittelstandes und die Aufweichung von Verbraucherschutz und Umweltstandards".

Auch Unternehmer befürchten das Schlimmste im freien Handel. Die Vereinigung kleiner und mittlerer Unternehmen, die sich im Zeitalter der Globalisierung zu Recht vor der Konkurrenz großer internationaler Konzerne fürchtet, bemüht das scheinbar klare Argument, es müsse mehr Transparenz geben, um sie vor dem Untergang zu bewahren, und fordert "die Offenlegung aller Verhandlungsdokumente, um eine produktive gesellschaftliche Debatte führen zu können".

In der modernen Welt gilt Transparenz als Fortschritt und Errungenschaft an sich. Sie bietet so viel Gutes, was in der Geschichte unbekannt war: Sie gibt Einblick in die Tiefen der Politik, der Unternehmen, der Organisationen und Verbände, in die Gesellschaft. Transparenz ist das Lebenselixier der Demokratie und der offenen Gesellschaft.

Was keinen Einblick zulässt, ist verdächtig. Freimaurerlogen oder der Vatikan gelten schon deshalb als anrüchig, weil sie Außenstehenden den Einblick in ihr Innenleben verwehren, den andere Organisationen zulassen. Weil auch Diktaturen Transparenz nicht mögen, kann mangelnde Einsehbarkeit nur von Übel sein. Die Internetgesellschaft, die sekundenschnellen Zugang zu Myriaden von Informationen erlaubt, die das Privatleben nach außen kehrt wie nie zuvor, fördert den Glauben, dass Transparenz ein Gut an sich ist: unumstritten und ein Gebot der Moderne.

Soweit stimmt es: Ohne Transparenz lassen sich politische Prozesse nicht kontrollieren, werden Unternehmen zu menschenfeindlichen Machtapparaten, und ohne Transparenz funktioniert gibt es keine Freiheit. Transparenz kann aber auch das Ende der offenen Gesellschaft werden. Das macht sie gefährlich.

Ist die Überdosis auch in diesem Falle ein Gift? Man fühlt sich an das Paradoxon erinnert, mit dem sich Kartografen herumschlagen müssen. Die fragen sich berufsbedingt, wie die beste Landkarte gemacht werden kann. Schnell kommen sie zu dem Ergebnis, dass die Landkarte mit der größten Naturgetreue ein genaues Abbild der Welt sein müsste. Die perfekte Weltkarte würde die ganze Erde zudecken.

Es ist augenscheinlich, dass eine solche Karte sinnlos wäre. Schriftsteller und Philosophen von Jorge Luis Borges bis Michael Ende haben sich mit diesem Dilemma beschäftigt. Übertragen auf den realen politische Kosmos heißt das: Vollständige Transparenz der Welt ist die komplette Darstellung des Lebens aller acht Milliarden Menschen. Logisch, dass dieses Vorhaben nicht zu schaffen ist. Völlige Einsehbarkeit der Verhandlungen und Dokumente, die Kritikern der Handelsabkommen fordern, weil sie gefährliche Geheimdiplomatie zu Lasten der Menschen vermuten, ist die Folge einer gedanklichen Täuschung. Totale Einsicht in politische Vorgängen zu fordern, ist so sinnleer wie das Verlangen nach der perfekten Landkarte. Sie ist auch eine massive Anmaßung, ein autoritäres Begehr, Kontrolle über alles und alle zu bekommen und Einblick in jeden Vorgang. Das aber wäre das Ende der Freiheit und das Gegenteil von dem, was Transparenz schaffen soll.

Der Kampf um Transparenz bedroht den Kern der Demokratie

Die aufgeregte Debatte um die Handelsabkommen, die geführt wird, als ginge es nicht um internationalen Handel, sondern um atomare Abrüstung wie zu Zeiten des kalten Krieges, legt eine gesellschaftliche Krise frei. Sie deckt eine bedrohliche Vertrauenskrise auf. Ausgerechnet der Kampf um Transparenz, der einhergeht mit den beeindruckenden digitalen Möglichkeiten des Internets, bedroht den Kern der Demokratie: das Vertrauen.

"Die Transparenzgesellschaft weist eine strukturelle Nähe zur Kontrollgesellschaft auf", urteilt der in Deutschland lebende koreanische Philosoph und Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han. Transparenz schaffe nicht Vertrauen sagt der Professor. "In Wirklichkeit schafft sie das Vertrauen ab." Eine niederschmetternde Erkenntnis.

Das vermeintliche Allheilmittel ist die sichere Zufahrt auf den verstörenden Irrweg. Einer der vielen Amateurphilosophen, die das Internet bewohnen, hat dieses Dilemma auf seine Weise zum Thema gemacht: "Geheime Verträge sollten grundsätzlich verboten werden", meint er über Abkommen zwischen Staaten, als lebe die Welt heute noch im Zeitalter der Kabinettsdiplomatie eines Metternich. Es seien schließlich Verträge zwischen den Bürgern von Ländern. Wenn aber der Bürger nicht nachvollziehen könne, was drin stehe, so seine Folgerung, "sei die gesamte Demokratie ad absurdum geführt". Da irrt der Wutbürger.

Demokratie funktioniert anders. Sie braucht die Delegation von Aufgaben an Funktionsträger. Die aber können ohne Vertrauen nicht handeln. Sie müssen natürlich Kontrolle ertragen. Wo aber prinzipiell jedem in der Gesellschaft von vorneherein mit Misstrauen begegnet wird, ist menschliches Zusammenleben zu totalitärer Freudlosigkeit verurteilt.

Nur Klarheit und Offenheit politischer Vorgänge kann Menschen für die Demokratie gewinnen und Misstrauen über "die da oben" entgegenwirken. Doch die wohlfeile anmutende Forderung nach immer mehr Informationen über Verhandlungen oder Verträge, wie sie bei den Handelsabkommen aufkommt, führt zu einer Irrsinnsspirale, die sich selbst nährt: Je mehr Informationen es gibt, desto stärker wird der Ruf nach noch mehr Einblick.

Bislang ist die Skepsis gegenüber TTIP und Co geblieben

Im Falle der Handelsabkommens mit den USA oder Kanada sind Bundesregierung und EU-Kommission den Forderungen nach mehr Informationen für alle fast sklavisch entgegengekommen. Fachleute haben Zugang zu Daten, deren Menge sie kaum verarbeiten können. Laien sind damit schon lange überfordert. Aber trotz des gewaltigen Angebots: Die Skepsis gegenüber TTIP und Co ist geblieben. Obwohl die Transparenz unter dem Druck der Gegner immer größer wird, wachsen gleichzeitig Misstrauen und Zwist.

Nach einer regelrechten Transparenz-Initiative der EU für das amerikanische Handelsabkommen sprach die Anti-Kapitalismus-Initiative Attac sofort von einem "PR-Gag". Deutsche TTIP-Gegner haben es fertiggebracht, sich darüber zu beklagen, dass die veröffentlichen Verhandlungsdokumente auf Englisch in Juristensprache formuliert seien. Hätten die Kritiker die Papiere auf Deutsch verstanden?

Um dieses Dilemma zu meistern, um zwischen der komplexen Welt und den einzelnen Menschen, die sie verstehen wollen, zu vermitteln, gibt es Medien. Journalisten unterscheiden im Dschungel der Wirklichkeit zwischen Wichtigem und Unwichtigem und erleichtern den Konsumenten das Zurechtfinden im Komplexen. Es passieren täglich viel mehr Dinge auf der Welt als in der Zeitung stehen. Glücklicherweise. Doch auch die von den Medien gemachte Auswahl rechtfertigt offenbar den Vorwurf, Informationen würden unterschlagen, um bestimmten Interessen zu dienen. Dann ist von Lügenpresse die Rede. Es ist ein Kinderspiel, zu behaupten, die Medien hätten vorsätzlich wichtige Dinge verschwiegen. Das Gegenteil lässt sich kaum beweisen.

Die aufgeregte Diskussion über TTIP oder Schiedsgerichte öffnet noch immer die Chance zum gesellschaftlichen Diskurs über zentrale Fragen der Wirtschaftsordnung. Aber es kommt darauf an, Wichtiges und Unwichtiges zu unterscheiden. Die Klimaanlage in Washington steht stellvertretend für den Informationsmüll, der den Blick auf das Wesentliche verstellt.

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Quelle:
SZ vom 22.10.2016/hgn/vit
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