Süddeutsche Zeitung

Samstagsessay:Stromschlag

Fortschritt hat schon ganze Industriezweige verschwinden lassen. Was so ein Wandel bedeutet, erleben gerade die Energieversorger.

Von Michael Bauchmüller

Es liegt in der Natur von Revolutionen, auch technischen, dass sie keinen Stein auf dem anderen lassen. Die Dampfmaschine machte nicht nur Muskelkraft obsolet, sie veränderte auch ganze Gesellschaften. Sie zentralisierte Produktion und erlaubte so die Massenfertigung, sie ließ Industrien erblühen und schuf neue Verteilungsprobleme und Massenarbeitslosigkeit. Der Ottomotor dezentralisierte die Fortbewegung und individualisierte den Verkehr, er ließ den Raum schrumpfen und die Horizonte wachsen. Das Telefon, der Computer, später das Internet - sie alle veränderten Gesellschaften, sie sprengten Informationsmonopole und schufen neue Möglichkeiten, aber auch ihre eigenen Abhängigkeiten und Probleme. Und jetzt ist die Energieversorgung dran.

Die Entflechtung von Produktionsmittel und Produkt, die erst die Mobilität veränderte und dann die Kommunikation, die derzeit mit 3-D-Druckern die dingliche Produktion von Fabrikhallen entkoppelt, sie ergreift nun die Erzeugung und Verwendung von Strom. Wie Menschen einst Ölquellen und Minen erschlossen, schaffen sie nun neue, erneuerbare Energiequellen. Sie werden neue Abnehmer suchen, die Strom speichern können, und dabei weitere Bereiche erfassen, die Mobilität ebenso wie die Versorgung mit Wärme. Wo eben noch Feuer, Dampf und Explosionen Turbinen und Motoren in Gang hielten, entsteht ein neues System dezentraler, intelligent vernetzter Energieversorgung, gespeist aus Sonne und Wind.

Alles nur Vision? In der Natur technologischer Revolutionen liegt auch, dass ihre Zeitgenossen die Folgen nie richtig abschätzen, dass sie mit dem Wandel mal irrationale Ängste, mal überzogene Hoffnungen verbinden. Nur die wenigsten erkennen den Beginn einer Umwälzung und noch wenigere ihr Ende. "Die Fachwelt ist sich einig", so berichtete Mitte der Achtziger ein Tagesschau-Reporter von der Berliner Funkausstellung, "dass mit diesem Videorekorder das Ende der Entwicklung erreicht ist!" Was sollte der Mann schon wissen von roten Knöpfchen auf der Fernbedienung, von Mediatheken und Netflix, von USB-Sticks und Festplattenrekordern? Wenn das Schicksal des Videorekorders eines beweist, dann das Tempo, in dem sich Undenkbares ausbreitet und einen nicht zu verachtenden Kapitalstock - in dem Fall Millionen häuslicher Aufzeichnungsapparate nebst einer Infrastruktur an Kassettenverleihern - einfach so zunichte macht. Und das alles nicht mit einem großen Knall, sondern still und leise.

In der Natur technologischer Revolutionen liegt, dass Folgen nie richtig abgeschätzt werden

Ähnliches vollzieht sich derzeit rund um die Elektrizität, mit allen Unwägbarkeiten und Folgewirkungen. Wieder steht ein ganzer Kapitalstock zur Disposition, diesmal in Form ganzer, konventioneller Kraftwerksparks. Wieder wandeln sich mit der Technologie ganze Systeme, wieder erfasst die Veränderung auch die Gesellschaft und ihren Umgang mit Energie. Fragen von Macht und Abhängigkeit stellen sich neu. Und wieder weiß keiner, wie und wo die Entwicklung enden wird.

Dass sie längst begonnen hat, steht außer Frage; und das weltweit. Knapp 330 Milliarden Dollar flossen nach Erhebungen von Bloomberg 2015 in den Ausbau erneuerbarer Energien - so viel wie nie. Sowohl Windkraft als auch Sonnenenergie verzeichneten 30 Prozent mehr neue Anlagen als im Vorjahr. Auch in Entwicklungsländern fließt nach Zahlen der Weltbank mittlerweile jeder zweite Dollar in erneuerbaren Strom, meist Solarenergie. Die wachsende Nachfrage lässt die Preise für Wind- und Solaranlagen fallen, und fallende Preise lassen die Nachfrage wachsen. So entsteht jene Dynamik, die Tempo und Ausmaß des Wandels so schwer vorhersehbar machen. Noch 2005 erwarteten Experten von Prognos und der Uni Köln hierzulande für 2020 einen Ökostrom-Anteil von 20 Prozent. Stattdessen könnten es, auch dank üppiger Förderung, doppelt so viel werden. Ein Drittel ist schon erreicht.

Die eine technologische Revolution ist nicht denkbar ohne die andere. Wenn Strom nicht mehr ein Produkt zentral gesteuerter Verbrennung ist, sondern abhängig wird von Wind und Wetter, dann ist ein stabiles System nicht denkbar ohne intelligente Vernetzung vieler kleiner Ökostrom-Quellen mit vielen mehr oder weniger großen Stromabnehmern. Nicht umsonst hat der Zukunftsforscher Jeremy Rifkin das Zusammentreffen von neuen Energiequellen und moderner Informationstechnologie zur Bedingung seiner "dritten industriellen Revolution" gemacht. "Bei großen wirtschaftlichen Umwälzungen", so schreibt Rifkin, "haben neue Kommunikationstechnologien stets mit neuen Energiesystemen zusammengefunden."

Dieses neue System stellt vieles auf den Kopf, was die "Verbraucher" im 20. Jahrhundert über Strom gelernt haben. Wer sich Solarzellen aufs Dach baut oder in einem Mehrfamilienhaus mit Blockheizkraftwerk lebt, der ist nicht mehr nur Abnehmer, sondern selbst auch "Versorger". Wer sich, ob aus Umweltbewusstsein oder Renditestreben, an einem Bürger-Windpark beteiligt, für den ändert sich die Bedeutung des Kilowatts. In dem Maße, in dem Energieversorgung damit demokratisiert wird, schrumpft die Abhängigkeit von klassischen Energieversorgern. Für ein Land wie Deutschland, in dem Stromkonzerne lange Zeit eine Macht für sich waren, bedeutet allein dies einen Umbruch.

Kohlekraftwerke stehen vor dem gleichen Schicksal wie einst die Dampfmaschine

Die Entwicklung wird beim klassischen Stromsektor nicht haltmachen. Weil Sonne und Wind keinen verlässlichen Strom liefern, sondern mal zu viel und mal zu wenig, rücken neben den Stromnetzen zunehmend Speicher in den Vordergrund. Das können Batteriespeicher sein, wie sie neuerdings Häuser mit Solardächern erobern. Energie lässt sich aber auch als Wärme speichern, mithilfe großer Tauchsieder etwa, die Wasser erhitzen. Auch Gas oder Wasserstoff lässt sich aus überschüssigem Strom erzeugen - Gas, das seinerseits dann wieder speicherbar ist.

Alle diese Speicher haben eines gemeinsam: Sie bauen die Brücke von der Steckdose in Bereiche, in denen bislang Erdgas und -öl regierten, zur Mobilität und Wärme. Überschüssiger Strom lässt sich auch in Millionen Batterien von Elektroautos speichern, schließlich stehen die ohnehin die meiste Zeit still - warum dann nicht auch als Dienstleister für Stabilität im Stromnetz? Windstrom wiederum lässt sich in Warmwasser für Heizungen und Industrie wandeln - und so helfen, den Verbrauch an Öl und Gas zu drosseln.

Seit 2015, dem Jahr der Klimakonferenz von Paris, trägt diese Entwicklung den sperrigen Namen "Dekarbonisierung". Der Abschied von Kohle, Öl und Gas ist nun erklärtes Ziel der Staatengemeinschaft. Wenn die elektrische Revolution noch eines Anstoßes bedurft hat - hier ist er. Vor allem für Deutschland, Heimat der Energiewende, wirft das eine heikle Frage auf: Will das einstige Land von Kohle und Stahl den Umbruch gestalten, oder will es sich vom Umbruch gestalten lassen?

Drei Thesen

Der Befund: Ökoenergien und Digitalisierung stellen den Strommarkt auf den Kopf

Die Chance: Jeder kann künftig Kraftwerk, und alles wird elektrisch

Das Risiko: Wenn Politik den Umbruch nicht gestaltet, wird der Strukturwandel wehtun

Die Antwort darauf duldet keinen Aufschub, denn der erste Konflikt ist schon da: bei der Kohle. Kohlekraftwerke lieferten einst jenen Strom, der Dampfmaschinen obsolet machte, nun stehen sie vor dem gleichen Schicksal wie einst die Dampfmaschine. Das liegt nicht allein an Dekarbonisierungsplänen. In einem System, das für die Einspeisung dezentraler erneuerbarer Energie optimiert ist, finden die Großkraftwerke auf Dauer schlicht keinen Platz mehr. Verschärft Europa seine Klimaziele und damit die Vorgaben für die Kraftwerke, dann verliert die Kohlekraft auch wirtschaftlich den Anschluss: Während Zertifikate für den Kohlendioxid-Ausstoß teurer werden, wird die erneuerbare Konkurrenz attraktiver. Schon jetzt ist sie an guten Standorten wettbewerbsfähig.

Es liegt in der Natur technologischer Revolutionen, dass es Sieger und Verlierer gibt. Auch die Betreiber von Pferdedroschken wehrten sich eine Zeitlang vergeblich gegen den Siegeszug des Automobils. Aufhalten konnten sie ihn nicht. Gerade weil zumindest diese Entwicklung so absehbar ist, braucht es eine geordnete, langfristige Abwicklung der deutschen Kohlekraft.

Deshalb auch wäre es geboten, möglichst rasch einen Fahrplan für das Ende alter Kraftwerke festzulegen, am besten im Konsens, flankiert von Strukturhilfen für die betroffenen Regionen. Dass sich Gewerkschaften und Beschäftigte gegen eine solche Abwicklung mit Händen und Füßen wehren, liegt nahe und findet in der Geschichte reichlich Beispiele - so, wie es leider auch für das Ergebnis genügend Anschauung gäbe: Der aufgeschobene Strukturwandel war stets der schmerzhaftere.

Auch die Autoindustrie, die seit Jahren das hohe Lied der Elektromobilität singt, um gleich in Strophe zwei die vielen Aber hinterherzuschieben, muss ihre Fähigkeit zum Wandel noch beweisen. Mit dem ersten wirklich konkurrenzfähigen Batteriespeicher wird für den Verbrennungsmotor der Überlebenskampf beginnen. Nichts spricht dafür, dass es ihm anders ergehen wird als einst dem Videorekorder. Zu groß sind die Vorteile des E-Mobils.

Ob und in welchem Tempo sich der Wandel vollzieht, liegt nicht in der Hand der Politik. An globalen Märkten kann sie ihn nicht einmal nennenswert verzögern. So nehmen die Dinge ihren Lauf. Eon, seit zwei Wochen nur noch ein Anbieter von Öko-Energie und neuen Vertriebsmodellen, schickt als erstes "Solar-Profis" ins Land, die möglichst schnell möglichst viele neue Sonnenstrom-Kunden gewinnen sollen. Der Essener Konkurrent und Kohlestromkonzern RWE, dessen Aktienkurs zuletzt binnen sieben Jahren um fast 90 Prozent gefallen war, gründet für das grüne Geschäft eine eigene Firma, lässt an Solarzellen forschen und lädt die Kundschaft zu "Zukunftswochen": Das soll sie dazu bringen, ihre Hauselektronik so zu vernetzen, dass sie sich vom Smartphone aus steuern lässt - der erste Schritt zur Verknüpfung von Strom- und Datenwelt.

Unruhe macht sich breit. Als die Beratungsfirma PwC kürzlich Energieversorger nach ihrer digitalen Zukunft fragte, da sah weit mehr als die Hälfte die konventionellen Versorger in ihrer Zukunft bedroht. Bis 2025, so vermutete ein Drittel der Unternehmen, werde jedes vierte vom Markt verschwunden sein. Andere werden entstehen, mit neuen Geschäftsmodellen, mit unfassbar neuen Ideen. Ja, unfassbar: Welche Ideen das sind, liegt noch weit außerhalb unserer Vorstellungskraft.

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Quelle:
SZ vom 16.01.2016
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