Wäre dieses Land ein Mensch, wäre es eine rüstige Dame, die demnächst einen runden Geburtstag feiert. 70 Jahre wird die Bundesrepublik in diesem Jahr alt, am 23. Mai 1949 ist das Grundgesetz verabschiedet und verkündet worden, am 24. Mai trat es in Kraft. Ein schönes Jubiläum. Es wird angestoßen, jemand hält eine Rede und das Land denkt zurück. Ganz sicher auch wehmütig. Denn Nostalgie steht nicht nur auf 70. Geburtstagen hoch im Kurs. Die ganze Welt berauscht sich gerade an diesem Gefühl: Das Wirtschaftsmagazin The Economist spricht von einer "Orgie der Reminiszenz" und zitiert die Wissenschaftlerin Sophia Gaston von der Henry-Jackson-Gesellschaft, die weltweit ein "allgegenwärtiges, bedrohliches Gefühl des Niedergangs" beobachtet. Und obwohl sich Deutschland als rüstige liberale Dame in ihrem 71. Lebensjahr einer tatsächlich guten Verfassung erfreut, ist auch dieses Land nicht immun gegen diesen "Ausbruch der Nostalgie", den man von den USA über China, Mexiko und Brasilien bis vor allem nach Großbritannien verfolgen kann. Die Frage, die die Jubilarin sich zum Ehrentag stellen muss, lautet also: Deutschland, wie hältst Du es mit der Nostalgie?
Will dieses Land nur die Sorgen der Menschen ernst nehmen - oder anfangen, sie auch nach ihren Hoffnungen zu fragen? An der Entscheidung, die das Land im Wettstreit zwischen Bewahren und Gestalten trifft, lässt sich ablesen, was man zum Geburtstag wünschen oder gar schenken sollte. Sie wird zum Gradmesser für die Zukunftsfähigkeit des Landes. Man könnte dies mit einem Wort des Schriftstellers Robert Musil als "Möglichkeitssinn" beschreiben. Um herauszufinden, wie viel Möglichkeitssinn gerade in diesem Land steckt, gibt es eine einfache Frage, die die meisten nur sehr schwer beantworten können. Sie lautet: Kann es (noch) besser werden?
Vorbild John F. Kennedy: Er wendete die Unsicherheit im Land in eine Gestaltungsidee
Eine Antwort darauf kann man im Münchner Westen suchen. In der Gemeinde Gräfelfing gibt eine kleine Straße, deren Namen so hohe symbolische Bedeutung hat, dass gleich die ganze Siedlung nach ihr benannt wurde. Gebaut wurde sie für Veteranen des Ersten Weltkriegs und bis 1945 war sie als Dankopfer-Siedlung bekannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg, kurz bevor das Grundgesetz in Kraft trat, zogen Flüchtlinge und Vertriebene hierher und bewohnten die Siedlung "Bessere Zukunft" - ein Name, der als Zeichen des Aufbruchs bewusst gewählt wurde. Heute handelt es sich um eine kleine Seitenstraße und man kommt nicht umhin, sich beim kurzen Spaziergang zu fragen, wie die öffentliche Reaktion wohl wäre, wenn im Jahr 2019 jemand auf die Idee kommen würde, eine Siedlung für Flüchtlinge und Vertriebene "Bessere Zukunft" zu nennen.
Napoleon wird der Ratschlag zugeschrieben, um eine Person zu verstehen, müsse man die Welt betrachten, wie sie war, als die jeweilige Person 20 Jahre alt war. In diesem Alter präge sich die eigene Haltung zur Welt - so sehr, dass sie nicht selten auch von Veränderungen in der Gegenwart nicht mehr angetastet werden kann. Bei der Jubilarin, die im Mai 70. Grundgesetz-Geburtstag feiert, landet man nach dieser Zählung in den 1960er-Jahren. Eine Zeit des Aufbruchs und des Wirtschaftswunders, des Glaubens an eine bessere Zukunft.
In Amerika trat ein junger Mann auf die Bühne und traf mit seinen Reden den Puls der Zeit. "Kein Mensch kann wohl vollständig begreifen", sagte er zum Beispiel im Jahr 1962 in Texas, "wie weit und wie schnell wir vorangekommen sind." Der Redner wendete diese Unsicherheit in eine Gestaltungsidee. Er kündigte an, sein Land wolle innerhalb des nächsten Jahrzehnts zum Mond fliegen. Der Redner hieß John F. Kennedy. Er hielt seine sogenannte Moon Speech keine sieben Jahre, bevor im Juli 1969 Neil Armstrong und Edwin Aldrin tatsächlich den Mond betraten. Das gelang den beiden mit der Unterstützung vieler tatkräftiger junger Menschen an der Bodenstation der Apollo-11-Mission. Deren Altersdurchschnitt betrug damals 28 Jahre - die meisten von ihnen waren also gerade mit der Schule fertig, als sie Kennedys berühmte Rede und die Idee einer besseren Zukunft hörten.
Eine Figur wie John F. Kennedy wird man auf dem Geburtstagsfest im Mai vergeblich suchen. Auch seinen Möglichkeitssinn wird man dort kaum finden. Denn die Welt hat sich verändert seit den 1960er-Jahren, sie ist noch unübersichtlicher und komplexer geworden - und lässt manchen die Aufbruch-Mentalität von damals absurd erscheinen. Man spricht von einer VUKA-Welt, in der wir hier heute leben. Das Akronym steht für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität und beschreibt das Gefühl der Überforderung, das viele Menschen erfasst und die Welt auf vielfältige Weise verändert hat. Eine erkennbare Konstante dabei: Die Rede von der besseren Zukunft für sich selber oder gar für die kommende Generation wird kaum mehr gehalten. Dass es der nächsten oder übernächsten Generation mal besser gehen wird, glauben nicht mehr alle. Der Möglichkeitssinn scheint verloren gegangen zu sein.
Bei der ersten Bundestagswahl in den 1960er-Jahren lag der Anteil derjenigen Wahlberechtigten, die über 70 Jahre alt waren, bei zehn Prozentpunkten. Bei der letzten Bundestagswahl im Jahr 2017 hatte sich diese Zahl verdoppelt. Der Anteil derjenigen, die mindestens so alt sind wie das Grundgesetz in diesem Jahr, war auf über zwanzig Prozent angestiegen. Bei den 60- bis 70-Jährigen stieg die Zahl von 24 Prozent (1961) auf 36 Prozent (2017). Das ist in erster Linie Beweis für einen begrüßenswerten Fortschritt: Die Menschen leben länger. Damit verbunden: Ein unglaublicher Schatz an Erfahrung und Kompetenz, den sich die Gesellschaft zunutze machen kann. Das ist toll - sorgt aber auch dafür, dass ein nicht unerheblicher Teil derjenigen, die sich noch aus eigener Erfahrung an Kennedy erinnern können, eher im Gestern schwelgen als eine Idee fürs Übermorgen zu entwickeln.
An der Stelle, wo sie früher Möglichkeitssinn hatten, spüren sie heute die wohlige Gewissheit, die Welt sei eine bessere gewesen, als noch mit einer anderen Währung bezahlt wurde, als man Telefone nicht tragen konnte und Nachrichten einzig auf Papier gelesen wurden. Sie fremdeln mit der Gegenwart - aber sie kommen nicht auf die Idee, dass es an ihnen liegen könnte.
Müsste man eine Sitzordnung für das Geburtstagsfest der Verfassungsjubilarin entwickeln, hätte man schnell die Tische besetzt, an denen die getragenen älteren Herren (ja, vor allem Herren) mit genau dieser wohligen Gewissheit Platz nehmen. Sie verschenken maximal ein vergilbtes Erinnerungsalbum und verspüren den dringenden Wunsch, noch mal über die Flüchtlingspolitik zu sprechen. Die Bewahrer und Mahner leiden nicht darunter, unterrepräsentiert zu sein in diesem Land - auch wenn sie dies entgegen der genannten Wahlanteile gerne behaupten. In Wahrheit ist es viel schwieriger, Platz in der Tischordnung zum Beispiel für diejenigen zu finden, die nicht nur von früher erzählen, sondern gestalten wollen. Das sind Menschen, die der Jubilarin zum Geburtstag einen Sprachkurs schenken würden oder neues technisches Gerät, mit dem sie sich befassen kann. Sie zeichnet der Möglichkeitssinn aus, das Übermorgen als Gestaltungsraum zu verstehen, den sie durch eigenes Zutun zum Besseren wenden wollen.
Wer sich auf diese Weise hoffnungsvoll zur Zukunft bekennt, macht sich verdächtig. Das kann sich eigentlich nur der Bundespräsident erlauben. In seiner Weihnachtsansprache sagte Frank-Walter Steinmeier: "Zukunft ist kein Schicksal." Das klingt schön, ist im Deutschland der Gegenwart aber eher Sonntags- als Mondrede.
Immer freitags heißt es: "Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut."
Was damals Raketentechnik war, wäre heute das Gestalten des Klimawandels. Man stelle sich das einmal vor: eine aktive Bundeskanzlerin würde vortreten und zukunftsmutig verkünden, die Herausforderung der Erderwärmung binnen zehn Jahren bewältigen zu wollen. Das wird heute für genauso unmöglich gehalten wie in den 1960er-Jahren die Reise zum Mond. Damals inspirierte John F. Kennedy junge Menschen dazu, sich genau das vorzustellen und dafür zu kämpfen. Die Schülerinnen und Schüler im Deutschland des Jahres 2019 werden von einer SPD-Umweltministerin inspiriert, die sich in einem Interview um die Antwort auf die Frage herumdrückt, ob sie nun gegen oder für ein Tempolimit sei. Sie werden inspiriert von einem CDU-Generalsekretär, der gegen das Engagement der 16-jährigen Greta Thunberg, die den Kohle-Kompromiss als faul kritisiert hatte, mit einem Affen-Emoji und den Worten "Arbeitsplätze, Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit" antwittert. Gäbe es ein Bild für den Verlust von Möglichkeitssinn, Paul Ziemiak wäre darauf sehr deutlich zu erkennen.
"Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut", rufen die Schülerinnen und Schüler seit einer Weile jeden Freitag auf den Demos, die von eben dieser Greta Thunberg begonnen wurden. Die Proteste der Jüngsten in diesem Land richten sich natürlich zunächst gegen die verkorkste Klimapolitik aller Merkel-Regierungen der vergangenen Jahre. Aber in den Protesten drückt sich auch ein Widerstand gegen die Zukunftsverweigerung und Gegenwartsleugnung dieser Gesellschaft aus. Es ist ein Aufbegehren für einen offenen Umgang mit dem Neuen, fürs Gestalten. Der Schulstreik ist ein klarer Protest gegen die Bewahrer und Mahner in diesem Land, die von ihrer eigenen Erinnerung leben und dabei vergessen, an der Antwort auf die Frage zu arbeiten: Was wollt Ihr eigentlich mal hinterlassen?
Wer 70 Jahre alt wird, stellt sich diese Frage vielleicht. Aber es wäre falsch, wenn das Land sich diese Frage stellen würde. Denn Deutschland sollte sich zum 70. Geburtstag seiner Verfassung nicht mit dem Ruhestand befassen, sondern eher mit dem Gestalten. Es gab auf deutschem Boden noch nie eine demokratische Verfassung, die länger und besser funktioniert hätte. Das ist ein Wert, aber auch ein Auftrag. Daran zu arbeiten, gilt für alle in diesem Land - egal, wie alt sie sind. Denn mit ihrer Vitalität und fortdauernden Existenz liefert diese Verfassung eine Antwort auf die Frage: Kann es noch besser werden?
Mit jedem Tag!