Scheitern in der Leistungsgesellschaft:Mal schön auf die Nase fliegen

Scheitern ist relativ, subjektiv - und gut. Höchste Zeit für die leistungsorientierten Deutschen, das zu erkennen. Dass sie panische Angst vor Niederlagen haben, ist jammerschade und gefährlich. Auch aus wirtschaftlicher Sicht.

Ein Essay von Elisabeth Dostert

In der "Show des Scheiterns" dürfen Menschen von ihren Niederlagen erzählen. Normale Menschen sprechen in dieser Vortragsreihe über gewöhnliche Niederlagen: Liebeskummer, Trennungen, Kündigungen, Unfälle, Firmenpleiten. Das ganz normale Leben. Thorsten Schwarz, Boris Jöns und Sebastian Orlac haben sich die Show ausgedacht. Sie finden: "Scheitern ist etwas Sympathisches."

Zumindest ist es normal. Kein Lebenslauf ist gerade. Es gibt Brüche, Versagen, Misserfolge, Erfolge - und Teilerfolge. Das Pendant wäre der Teilfehler, aber das Wort gibt es nicht. Schon die Sprache zeugt von der panischen Angst zu scheitern. Sie ist, das zeigen Studien, in Deutschland besonders ausgeprägt. Ein Teilerfolg klingt wenigstens ein bisschen nach Sieg, mag er auch noch so klein sein. Der Bruchteil eines Erfolges ist leichter zu vermitteln und zu ertragen als das Eingeständnis eines Fehlers oder Teilfehlers. Es gibt zentnerweise Literatur über die Bewältigung von Niederlagen - mit verkaufsfördernden Titeln. Wenn schon scheitern, dann soll es doch wenigstens eine Kunst sein.

Erst der Verlierer macht den Sieger zum Sieger

Das Urteil, was ein Erfolg ist und was nicht, ist meist schnell gefällt. Zu schnell. Was Erfolg ist, hängt auch vom gesellschaftlichen und sozialen Umfeld ab. Aber was genau ist überhaupt ein Erfolg? Wann ist jemand gescheitert? Das ist eine Frage des Blickwinkels und des Zeithorizonts. Es gibt Urteile über Jahrzehnte und es gibt Momentaufnahmen. Menschen verfolgen unterschiedliche Ziele. Das Ziel/der Erfolg des einen, lässt den anderen völlig kalt. Erfolge sind relativ. Erst die Verlierer machen Sieger zu Siegern. Aber wo ist deren Dank dafür, sich besser, schöner, reicher, klüger fühlen zu können? Die Lage ist meistens nicht eindeutig, das Urteil subjektiv.

Der Ehemann mag die Scheidung als Niederlage empfinden; die Ehefrau als Befreiung von einem Tyrannen. Argentinien, Vize-Fußballweltmeister 2014, fühlt sich als Verlierer. Tränen, Rücktritte, Schuldvorwürfe. Für Belgien war schon die Teilnahme an der WM in Brasilien ein Erfolg. Als Steuerzahler hat Uli Hoeneß aus Sicht der breiten Öffentlichkeit und des Münchner Landgerichts versagt, aber - aus momentaner Sicht - nicht als Wurstfabrikant und Fußball-Manager. Erfolge auf einem Feld, lassen sich nicht gegen Misserfolge aufrechnen, um zu einem Gesamturteil zu kommen. Ist Hoeneß nun ein Guter oder ein Schlechter? So einfach ist es nicht.

Drogerie-Discounter Anton Schlecker ist gescheitert, nach einem Jahrzehnte langen Aufstieg, in dem er es regelmäßig in die Liste der reichsten Deutschen schaffte. Ist die Größe des Vermögens, das Geld, überhaupt der beste Maßstab für Erfolg und Misserfolg? Auch bei der Schlecker-Pleite gab es Gewinner: Rossmann, Müller, DM. Aber keiner der Konkurrenten hat sich laut über die gewonnenen Marktanteile gefreut. Dafür gab es viel zu viele Menschen, die Schlecker-Frauen, die ohne eigenes Verschulden ihre Arbeit verloren.

Was ist mit Peter Löscher? Anfang Juli 2007 war er zum Vorstandsvorsitzenden von Siemens bestellt worden. Im Sommer 2013 war plötzlich Schluss. Persönlich mag Löscher den Rauswurf als Niederlage empfinden. Nicht einmal das ist gewiss, vielleicht fühlt er sich auch nur zu Unrecht hinausgeworfen, als Opfer eines Komplotts.

Ron Sommers Frau verordnete ihm ein "Down-to-earth-Programm"

So wie Ron Sommer, der Ex-Telekom-Chef wird nächste Woche 65 Jahre alt. Sein Abgang liegt schon zwölf Jahre zurück. Der Machtverlust sei schwer zu verkraften gewesen, sagt Sommer in einem Interview. Seine Frau habe ihm ein "Down-to-earth-Programm" verordnet. Er musste mit Billig-Airlines fliegen und U-Bahn fahren. Das ist zumindest indirekt das Eingeständnis, dass Sommer abgehoben hatte. Für nicht wenige Menschen wäre eine Urlaubsreise mit einem billigen Flieger schon ein Erfolg. Fehler sieht Sommer bis heute eher bei den anderen. Die Kritik an dem von ihm zu verantwortenden Einstieg in den US-Markt könne er bis heute nicht nachvollziehen, sagt er. Ein Sommer ohne Einsicht. Der Mann weiß immer noch alles besser, er geriert sich immer noch als Macher. Die Bilanz von Peter Löscher steht noch aus. Öffentlich hat er sich zu seinem Rauswurf bislang nicht geäußert. Finanziell war er zumindest verkraftbar - aus externer Sicht. Gut 17 Millionen Euro Abfindung zahlte der Siemens-Konzern seinem Ex, obwohl er doch die Ziele, das gängige Maß des Erfolgs, verfehlte. Vorläufiger Sieger ist Joe Kaeser. Und Klaus Kleinfeld, 2007 der Unterlegene, führt erfolgreich den US-amerikanischen Konzern Alcoa.

Es gibt eine kritische Masse für das Scheitern. Sie ist aber keine feste Größe, sondern variiert von Mensch zu Mensch. Sie hängt von der Größe des Denkmals ab, zu dem die Person gemacht wurde. Gesellschaftliche Ikonen, Beispiel Alice Schwarzer und wieder Uli Hoeneß, dürfen sich nicht den geringsten Fehler leisten. Je größer der Held oder die Heldin, je stärker die Heroisierung einmal war, umso krachender ist der Absturz, um so pauschaler das Urteil. Hop oder Top! Denkmäler stehen oder sie fallen. Dazwischen gibt es gar nichts. Wer verliert, kann sich der öffentlichen Häme sicher sein, brutaler denn je, denn in der Anonymität sozialer Netze lässt sich bequem über die Gefallenen herziehen. Es gibt Menschen, die reden sogar über ihr Scheitern, sie zelebrieren ihr Elend. Talkshows und Doku-Soaps leben davon, dass sich ein voyeuristisches Publikum am Schicksal von Narzissten weidet oder Menschen, die das Honorar brauchen, ein Buch geschrieben haben oder sich als Opfer fühlen. Die öffentlichen Beichten mögen dem ein oder anderen Zuschauer das Gefühl geben, zumindest ein bisschen, zumindest relativ gesehen zu den Siegern zu gehören.

Die aggressivste Form der Leistungsgesellschaft ist die Wirtschaft

Wir sind auf Siegen getrimmt, auf Leistung, von Kindesbeinen an. Vom Notendurchschnitt in der Grundschule hängt ab, welchen Lauf die sogenannte Schulkarriere nimmt. Manche Eltern tun allerdings so, als hänge ausschließlich davon auch das Lebensglück der Kinder ab. Belohnt, auch mit Geld, werden häufig nur die guten Noten, nicht die Anstrengung. Aus einem anderen Blickwinkel, belegt ein schlechtes Schulzeugnis auch das Versagen von Eltern, Lehrern und Bildungssystemen.

In einem auf Leistung getrimmten System empfinden die meisten Menschen eine Niederlage als Makel. Besonders schwer tun sich Manager mit Misserfolgen, weil die Wirtschaft eine der aggressivsten Formen der Leistungsgesellschaft ist. Wie anders erklärt sich der Versuch, den Niederlagen noch etwas Positives abzugewinnen. Think positive! Manager schwadronieren gerne darüber, dass sie aus Fehlern mehr gelernt haben als aus Erfolgen. Einer der größten Sprücheklopfer war Henry Ford: "Wenn alles gegen dich zu sein scheint, erinnere dich, dass ein Flugzeug nur gegen den Wind abhebt und nicht mit dem Wind." Oder: "Unsere Fehlschläge sind oft erfolgreicher als unsere Erfolge." Die Botschaft, dass aus Niederlagen Erfolge entstehen können, wenn man nur die richtigen Lehren zieht, erhöht den Erfolgsdruck noch. Schon Kinder werden mit Ratschlägen traktiert: Aus Fehlern wird man klug! Wenn Du hinfällst, steh wieder auf!

Eine Pleite macht krank

Scheitern ist Tabu. Es macht Angst. Schon Gründer, das zeigen Studien, grämt die Angst vor der Niederlage. Die Furcht vor den finanziellen und juristischen Folgen, der Kummer über die Enttäuschung der Familie, seien die größten Hindernisse, sich selbständig zu machen, heißt es im Gründerreport 2013 des Direktvertrieblers Amway. So richtig lässt die Furcht mit den Jahren auch nicht nach, erzählen selbst Patriarchen. Eine Pleite macht krank. "Die Insolvenz habe ich traumatisch und lebensbedrohend empfunden", schreibt Attila v. Unruh, Initiator des Gesprächskreises Anonyme Insolvenzler, auf dessen Homepage: "Sie hat sich auf alle Lebensbereiche ausgewirkt: Familie, Freundeskreis, Kollegen, Geschäftspartner. Meine Identität und mein Selbstwert waren in Frage gestellt, ich fühlte mich unglaublich allein mit meinen Sorgen und sah für eine Zeitlang für mich keine Perspektiven mehr." Die sah auch Adolf Merckle nicht, als er sich im Januar 2009 in der Nähe seines Heimatortes Blaubeuren vor einen Zug warf. Er, erfolgreicher Unternehmer, Gründer des Generika-Herstellers Ratiopharm, ein Milliardär, hatte sich 2008 mit Aktien verzockt. "Die durch die Finanzkrise verursachte wirtschaftliche Notlage seiner Firmen und die damit verbundenen Unsicherheiten der letzten Wochen sowie die Ohnmacht, nicht mehr handeln zu können, haben den leidenschaftlichen Familienunternehmer gebrochen, und er hat sein Leben beendet", teilte seine Familie damals mit. Der Suizid zeigt, welche extremen Formen die Scham über das Scheitern annehmen kann.

Offenheit verhindert, dass aus kleinen Fehlern große werden

"Gerade in individualistisch orientierten Gesellschaften stellt Scheitern eine Bedrohung des Selbstwertes dar", zitiert Zeit Online in einem 2013 erschienenen Beitrag den Hamburger Psychologen Olaf Morgenroth: "Je mehr Leistung zum Kriterium für die soziale Rolle und das Selbstbild wird, desto gravierender ist ein Versagen." Die Fehlertoleranz habe seit der Finanzkrise sogar noch abgenommen, meint die Kölner Psychiaterin und Psychotherapeutin Déirdre Mahkorn, im gleichen Beitrag.

Aus Niederlagen kann man lernen. Das stimmt, aber nur, wenn man richtig damit umgeht. Danach sieht es in Deutschland bislang nicht aus, trotz aller theoretischen Kenntnisse. Es fehlt eine Kultur, in der Fehler erlaubt sind. Das ist auch wirtschaftlich gesehen dumm. Kinder sind die Zukunft. Sie früh mit Noten abzustempeln, ist sträflich. Ein Land braucht Gründer, sie schaffen Arbeitsplätze. Es muss nicht nur eine zweite Chance geben, sondern eine dritte, eine vierte.

Der offene Umgang mit Fehlern verhindert, dass aus kleinen große werden. Aber in welchen Zirkeln wird schon objektiv über die Fehler der Woche gesprochen, ohne dass der vermeintliche Delinquent um seine Entlassung, Degradierung oder zumindest seinen Boni fürchten müsste? Aus Angst vor der Blamage lügen und tricksen Menschen, um ihre Fehler zu vertuschen oder auszubügeln. Das geht selten gut. Sie werden nur größer. Wie wäre die Finanzkrise verlaufen, wenn Banker frühzeitig Fehler hätten eingestehen dürfen? Um wie viel kleiner wäre der Schaden für die Großbank Société Générale gewesen, wenn Jérôme Kerviel seinen Kollegen und Vorgesetzten früher hätte offenbaren können, dass er sich verzockt hat.

Nur Mut! Nur Mut zum Misserfolg!

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