Rentenversicherung:Wenn wir länger leben, müssen wir auch länger arbeiten

Rentenversicherung: Illustration: Dalila Keller.

Illustration: Dalila Keller.

(Foto: Dalila Keller)

Die Bundesregierung will das Rentensystem durch teure Eingriffe sichern. Doch statt solcher Versprechen hilft vor allem eines: eine höhere Lebensarbeitszeit.

Essay von Axel Börsch-Supan

Vertrauen und Solidität sind das Grundkapital unserer Rentenversicherung. In Zeiten des demografischen Wandels ist das eine große Herausforderung, denn die Welt, in der wir leben, verändert sich. Allein in dieser Legislaturperiode - gerade einmal vier Jahre lang - wird die Zahl der Rentenbezieher pro Beitragszahler um etwa zehn Prozent zunehmen. Hinzukommt, dass deren Rentenbezugszeit um etwa ein Jahr steigt. Das Kunststück, das die Rentenversicherung zu meistern hat, ist es, trotz einer sich stetig verändernden Welt Verlässlichkeit und damit Vertrauen zu schaffen.

Das ist nur zu schaffen mit Versprechen, die man auch halten kann. Im Koalitionsvertrag der neuen großen Koalition wird angekündigt, die Leistungen und Beiträge der gesetzlichen Rentenversicherung durch eine "doppelte Haltelinie" festzuschreiben. Konkret soll das Rentenniveau nicht unter 48 Prozent sinken und gleichzeitig der Beitragssatz nicht über 20 Prozent steigen. Dies soll zunächst einmal bis zum Jahr 2025 gelten.

Was gäbe es Schöneres, als sich in all den Unabwägbarkeiten unserer heutigen Zeit an solchen Haltelinien festhalten zu können? Schon den Verfassern des Koalitionsvertrages hat aber geschwant, dass das Versprechen, weder den heutigen Beitragssatz noch das heutige Rentenniveau anzutasten, angesichts des demografischen Wandels nicht lange zu halten sein wird. Daher sagt der Koalitionsvertrag recht lakonisch, dass die Deckung einer eventuellen Finanzierungslücke "bei Bedarf durch Steuermittel sicherzustellen" sei.

Das hört sich harmlos an. Schnell lehnt man sich zurück und freut sich voller Vertrauen darauf, dass die Rentenversicherung auf voraussehbare Zeit verlässlich die gleiche Rentenleistung bei gleicher Beitragslast liefern wird.

Die Renterversicherung wird 2025 schon illiquide sein

Doch dies täuscht. Der Bedarf an zusätzlichen Steuermitteln tritt leider schneller ein und wird schneller groß, als sich die Verfasser des entsprechenden Abschnitts im Koalitionsvertrag offensichtlich gedacht haben. Ausgehend von den Zahlen des Rentenversicherungsberichts wird bereits im Jahr 2023 die von derzeit 43 auf 48 Prozent anzuhebende Haltelinie für das Rentenniveau unterschritten, zwei Jahre später die auf 20 Prozent abzusenkende Haltelinie beim Beitragssatz überschritten werden.

Schon 2025 werden damit die Reserven der Rentenversicherung aufgebraucht und die Rentenversicherung also - technisch gesehen - illiquide sein. Um dennoch die Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung in der versprochenen Höhe zu finanzieren, müssen Steuermittel im Umfang von knapp elf Milliarden Euro (inflationsbereinigt) zusätzlich erhoben werden. Würde man das Versprechen der Koalition zu den beiden Haltelinien auch danach weiter einhalten wollen, stiege der Bedarf an Steuermitteln sehr schnell an. 2030 würden 45 Milliarden Euro erreicht, und bis 2035 würde die Summe auf über 80 Milliarden Euro pro Jahr anwachsen. Diese Zahlen beruhen auf den Vorausschätzungen des Bundesarbeitsministeriums.

Es sind riesige Zahlen. Die entsprechenden Steuermittel sicherzustellen, wie der Koalitionsvertrag trocken festlegt, ist leichter gesagt als getan, denn Steuermittel müssen erhoben werden, indem Bürger sie zu zahlen haben. Hier kommen Vertrauen und Solidität wieder ins Spiel: Das Versprechen der doppelten Haltelinie geht insofern ins Leere, als man zwar der jüngeren Generation einen stabilen Beitragssatz zur Rentenversicherung und der älteren Generation ein stabiles Rentenniveau verspricht, aber durch eine höhere Belastung mit Steuern an anderer Stelle dieses Versprechen gleich wieder bricht.

Anschaulich wird das am besten, wenn man sich vergegenwärtigt, wir hoch diese Belastung an anderer Stelle sein wird. Am geringsten wird die prozentuale Steuerbelastung sein, wenn man sie auf möglichst viele Bürger verteilt. Ein gutes Beispiel dafür wäre die Mehrwertsteuer.

Um die versprochene doppelte Haltelinie zu finanzieren, einschließlich der ohnehin steigenden Bundeszuschüsse, müsste die Mehrwertsteuer bereits im Jahr 2030 um etwa vier Prozentpunkte angehoben werden, bis zum Jahr 2035 noch einmal um weitere fast vier Prozentpunkte. Auf alle Güter und Dienstleistungen, die sich die Menschen, ob Alt oder Jung, kaufen wollen, käme also eine um 40 Prozent höhere Steuerlast. Die versprochene Sicherheit, die eine doppelte Haltelinie suggeriert, ist also nur Schein, weil den gleichen Bürgern - Beitragszahlern wie Rentenempfängern - an anderer Stelle das Geld wieder entzogen würde.

Ein glaubwürdiges Rentenpaket verlangt den Bürgern ab, sich der Demografie zu stellen

Dem Vertrauen in die Rentenversicherung und der Solidität ihrer Finanzierung wird durch solche Schimären ein Bärendienst erwiesen. In einer Welt des demografischen Wandels, in der die Zahl der Renteneintritte demnächst rapide steigen wird, muss sich auch die Rentenversicherung anpassen. Etwas anderes zu behaupten, ist schlicht unglaubwürdig.

Wenn mehr Menschen Renten ausgezahlt bekommen möchten, gleichzeitig aber weniger Beitragszahler vorhanden sind, kann man nicht Beitragssatz und Rentenniveau gleichermaßen festhalten. Das wäre so, als würde man in einer Welt, in der Fußgänger die Straße kreuzen und Hügel der Straße Kurven abverlangen, im Auto das Bremspedal und das Lenkrad fixieren. Eine dynamische Welt verlangt uns ab, zu reagieren, auf die Bremse zu treten oder Kurven zu fahren, auch wenn zumindest einige lieber schneller geradeaus fahren wollen. Genauso müssen sich Beitragssatz und Rentenniveau der Rentenversicherung eines alternden Landes, das Deutschland nun mal ist, dynamisch auf den demografischen Wandel einstellen können.

Das Versprechen der doppelten Haltelinie wird noch unglaubwürdiger, wenn man bedenkt, dass die Menschen von Generation zu Generation gesünder sind und länger leben. Die durchschnittliche Lebenserwartung erhöht sich seit langer Zeit alle zehn Jahre um etwa zweieinhalb Jahre. Heute Vierzigjährige werden also über zehn Jahre länger leben als bei derzeitiger Lebenserwartung.

Und ewig tobt der Rente-Streit

Rentenreformen gibt es, seit es ein Rentensystem gibt. Und ebenso regelmäßig wird darüber gestritten - über das System an sich und darüber, wie es an gesellschaftliche Veränderungen angepasst werden sollte. Derzeit stehen vor allem die geplanten "Haltelinien" unter Beschuss, die Union und SPD festzurren wollen: Dem Koalitionsvertrag nach sollen die Beiträge bis 2025 nicht über 20 Prozent steigen und das Rentenniveau nicht unter 48 Prozent sinken.

Die Regierung hält dieses Projekt für einen fairen Ausgleich zwischen Beitragszahlern und Rentnern. Kritiker, wie der Ökonom Axel Börsch-Supan, halten es dagegen für einen unbezahlbaren Irrweg. Denn blieben die Haltelinien auch nach 2025 bestehen, würde das in den nächsten Dekaden gigantische Kosten mit sich bringen. Eigentlich, das war das Ergebnis vorangegangener Rentenreformen, dürfte das Rentenniveau mittelfristig auf 43 Prozent sinken. Auf diese Weise sollte der demografischen Entwicklung Rechnung getragen werden.

Die FDP sieht sich durch die aktuellen Berechnungen der Rentenexperten in ihrer Meinung bestätigt. Für unbezahlbar und unverantwortlich hält Johannes Vogel, rentenpolitischer Sprecher der Liberalen im Bundestag, die geplanten Haltelinien. Das Bundessozialministerium betonte dagegen, seriöse Berechnungen seien noch nicht möglich, solange die Einzelheiten der Reform nicht feststünden. Sozialminister Hubertus Heil (SPD) verwies auf die geplante Rentenkommission, die bald eingesetzt werden soll und sich mit der Zukunft des Rentensystems nach 2025 befassen wird.

Kritik kam auch vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach sprach von "abstrusen Thesen und Berechnungen" und betonte, bei der Rente gehe es um politische Entscheidungen - nicht um ein mathematisches Problem.

Zehn Jahre mehr! Kann man dann, wie so oft gefordert, auch noch das Rentenalter unangetastet auf einem Wert belassen, den Bismarck vor weit über 100 Jahren festgelegt hat?

Auch hier können Vertrauen und Solidität nur erreicht werden, wenn man die zutiefst erfreulichen Realitäten eines längeren Lebens zur Kenntnis nimmt und das Rentenalter dem Lebensalter ein wenig anpasst. Das muss nicht eins zu eins sein. Es reicht schon, einigermaßen die Proportionen zwischen Lebensarbeitszeit und Rentenbezugszeit zu erhalten. Dazu gehören natürlich Ausnahmen für Erwerbsgeminderte, deren physisch oder psychisch anstrengender Beruf eine Weiterarbeit unzumutbar macht.

Nimmt man das alles zusammen, wird daraus ein glaubwürdiges Rentenpaket, das zwar den Bürgern abverlangt, sich auf die Realitäten des demografischen Wandels einzustellen, das dafür aber solide finanziert ist und, weil es keine Illusionen schürt, das Vertrauen in die Rentenversicherung erhält. Die doppelte Haltelinie, zumal in Kombination mit dem Versprechen, das Rentenalter nicht anzutasten, ist dazu ungeeignet.

Ein solches Paket müsste das Rentenalter wie geschildert milde anpassen und müsste den Beitragssatz und den steuerfinanzierten Bundeszuschuss im gleichen Maße anheben, wie die Anpassung der Renten an das Lohnwachstum verlangsamt wird. Alle sogenannten Stellschrauben müssen in Aktion gesetzt werden; nichts darf festgeschrieben werden.

Schafft das nicht Altersarmut? Nein, denn als Resultat eines solchen Pakets könnten die Rentenzahlbeträge auch langfristig um etwa zweieinhalb Prozent im Jahr steigen. Exorbitante Steuererhöhungen könnten vermieden werden. Auch die graduelle Erhöhung des Renteneintrittsalters wäre verkraftbar, denn die Rentenbezugszeit könnte in gut zehn Jahren um ein Jahr länger werden, wenn die Lebenserwartung in dieser Zeitspanne um drei Jahre steigt. Ein solches Paket lässt sich glaubwürdig versprechen - im Gegensatz zu einer doppelten Haltelinie. Und nur glaubwürdige Versprechen schaffen Vertrauen in unsere Rentenversicherung.

Professor Dr. Axel Börsch-Supan ist Direktor am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München.

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