Samstagsessay:Gesund alt werden

Die Pflege steckt in der Krise, es fehlen Geld und Personal. Doch das wahre Problem liegt woanders: in einem Lebensstil, der viel zu viele Menschen pflegebedürftig macht. Das muss sich ändern.

Von Werner Fürstenberg

Wenn Politik und Medien sich mit der Pflege und dem Pflegenotstand beschäftigen, entsteht der Eindruck, als sei die Pflegebedürftigkeit für viele Menschen ein unabdingbares Schicksal. Es geht bei der politischen und gesellschaftlichen Diskussion fast ausschließlich um Finanzierungsprobleme, stetig steigende Kosten und den Personalnotstand. Gemäß dem Statistischen Bundesamt steigt die Zahl der Pflegebedürftigen bis zum Jahr 2030 um 32,5 Prozent, während die Zahl der Pflegekräfte um 10,8 Prozent zurückgeht.

Es ist jedoch vielmehr an der Zeit, ernsthaft darüber nachzudenken, welcher Maßnahmen es bedarf, um Pflegebedürftigkeit zu vermeiden - um gesund alt zu werden, ja sogar gesund zu sterben.

Die öffentliche Diskussion suggeriert, als sei die entscheidende Ursache für Pflegebedürftigkeit, dass wir im Durchschnitt immer älter werden. Der wahre Grund liegt bei vielen Menschen jedoch in ihrem ungesunden Lebensstil - und dies offensichtlich mit steigender Tendenz. Also warum nicht da ansetzen, wo das Problem entsteht? Etwa 80 Prozent unserer Gesundheit können wir durch unseren Lebensstil selbst beeinflussen. Das Altern ist also nicht das entscheidende Problem!

Auch Erzieher, Lehrer und Eltern sollten für die Prävention sensibilisiert werden

Das meiste Geld geben die Kranken- und Pflegekassen dafür aus, die Folgen des individuellen Lebensstils zu behandeln, also des eigenen gesundheitsschädigenden Verhaltens. Dazu gehören mangelnde Bewegung, Alkohol- und Tabakmissbrauch oder ungesunde Ernährung. Wer sich schlecht ernährt, leidet eher an Diabetes II und Fettleibigkeit, wird tendenziell häufiger krank und muss eher operiert werden, weil zum Beispiel künstliche Hüften oder Kniegelenke nötig sind.

Die Solidargemeinschaft zahlt viele Milliarden Euro pro Jahr, um die Auswirkungen ungesunder Lebensstile zu reparieren. Mangelnde Gesundheit trägt dazu bei, dass Menschen früher in Rente gehen müssen, eher arbeitslos sind und höhere Kranken- und Pflegekosten verursachen. Hinter den Lohnnebenkosten, deren Höhe ja immer wieder beklagt wird, weil sie die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen gefährden, stecken in Wirklichkeit also häufig Gesundheitsprobleme.

Nicht zu unterschätzen ist auch der Einfluss der psychischen und sozialen Gesundheit. Wenn man aktiv am Leben teilnimmt und über viele soziale Verbindungen verfügt, ist das ein wichtiger Garant, um langfristig psychisch und körperlich gesund zu sein.

Die Prävention spielt in der gesamten Pflegediskussion jedoch nahezu keine Rolle. Dabei könnte mit gezielter Prävention der Anteil derjenigen, die pflegebedürftig werden, deutlich reduziert werden. Nötig wären dazu neue Ansätze in der Gesundheits- und Bildungspolitik. Ziel müsste es sein, dass die Menschen gesünder und bewusster leben und mehr Eigenverantwortung für ihre Gesundheit übernehmen. Das Präventionsgesetz, das die große Koalition im Jahr 2016 verabschiedet hat, bietet hierzu keine angemessene, nachhaltige Lösung.

Samstagsessay: Illustration: Lisa Bucher

Illustration: Lisa Bucher

Wir brauchen stattdessen ein neues, präventives Gesundheitssystem, in dem sehr viel mehr Geld als bisher ausgegeben wird, damit die Menschen von vornherein gesund bleiben. In seinem Buch "Die Geschichte der Zukunft" beschreibt der Autor und Zukunftsforscher Erik Händeler die Aufgabe so: "Nicht von Gesetzen, die Geld anders verteilen, hängt die Bezahlbarkeit von Gesundheit in Zukunft ab. Sondern von Veränderungen im Lebensstil, einem präventiven Gesundheitsmarkt und einer neuen Arbeitskultur."

Was sollte dazu geschehen?

Eine wichtiger Schritt wäre, dass Ärzte besser ausgebildet werden. Neuere wissenschaftliche Erkenntnisse der Hirnforschung, Psychoneurobiologie und Epigenetik könnten ihnen dabei helfen, Menschen zu inspirieren und dabei zu unterstützen, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen, und sie dafür zu sensibilisieren, ihre natürlichen Selbstheilungskräfte zu mobilisieren. Um dies zu erreichen, sollten Ärzte auch für die Gesundheitsberatung und -erhaltung bezahlt werden.

Erzieher, Lehrer und Eltern sollten ebenfalls für die Prävention sensibilisiert und qualifiziert werden. Schon in der Kindeserziehung, im Kindergarten und in der Schule sollte die Gesundheitsförderung ein fester Bestandteil der Bildung sein. Dies hätte erheblichen Einfluss auf einen gesunden Lebensstil und damit die Gesundheit bis ins hohe Alter.

Zugleich sollte die Gesundheitspolitik grundlegend verändert werden - und zwar so, dass die Menschen die eigene Verantwortung für ihre Gesundheit nicht mehr allein an die Ärzte oder an den Staat delegieren. Derzeit ist unser Gesundheitssystem entlang der Pathogenese ausgerichtet, also entlang des Ziels, Krankheiten zu verstehen und zu bekämpfen. Nötig ist aber ein Gesundheitssystem, welches sich an der Salutogenese orientiert, einem Konzept, welches der israelisch-amerikanische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky entwickelt hat und sich damit beschäftigt, wie Gesundheit entsteht. Fordern und fördern wird dabei immer wichtiger, damit Menschen ihre Gesundheit erhalten und Krankheiten vermeiden - für eine gute Lebensqualität bis ins hohe Alter.

Auch der Arbeitsplatz ist ein ausgezeichneter Ort für Prävention. Seit zwei Jahrzehnten engagieren sich immer mehr Unternehmen im Bereich des Betrieblichen Gesundheitsmanagements. Sie tun dies natürlich in erster Linie nicht, um einer späteren Pflegebedürftigkeit entgegen zu wirken, sondern aus Eigeninteresse. Ihnen geht es darum, die Gesundheit und Leistungsfähigkeit ihrer Arbeitnehmer zu fördern, weil das Auswirkungen auf die Produktivität und die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens hat. Immer mehr Unternehmen sind darauf angewiesen, ihre Mitarbeiter auch über das Rentenalter hinaus fit zu halten, um sie weiterbeschäftigen zu können.

Drei Thesen

Das Problem:

Die Pärvention spielt in der Debatte nahezu keine Rolle.

Die Aufgabe:

Die Menschen müssen mehr Verantwortung übernehmen.

Die Lösung:

Wir brauchen ein vorsorgendes Gesundheitssystem, das Ärzte, Unternehmen und Beschäftige belohnt.

Auch hier bedarf es eines Paradigmenwechsels: Im Sinne eines Betrieblichen Gesundheits- und Leistungsmanagement (BGLM) müssen die Unternehmen ihre Strukturen und Arbeitsprozesse anpassen und verändern, um für ihre Mitarbeiter gesundheitsfördernde Arbeitsbedingungen zu schaffen. Dies geht nicht von heute auf morgen, sondern es handelt sich um einen langsamen und komplexen Lern- und Veränderungsprozess. Dieser betrifft die gesamte Organisation und jeden einzelnen Mitarbeiter und muss sich an realistischen Zielen orientieren. Viele Unternehmen können hier noch sehr viel tun, um durch kluge und nachhaltige Maßnahmen die Krankheit von Mitarbeitern und Fehlzeiten zu reduzieren. Das Ziel sollte sein, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in eigener Verantwortung für ihre Gesundheit und Leistungsfähigkeit sorgen können - etwa durch das Angebot einer externen Mitarbeiter- und Gesundheitsberatung.

Das Thema Pflegenotstand betrifft die Unternehmern aber auch direkt - und verursacht bei ihnen hohe Kosten. Denn immer mehr Arbeitnehmer sind in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt, weil sie neben ihrer Arbeit noch Angehörige pflegen müssen. Jeder siebte Beschäftigte hat diese Doppelbelastung zu tragen, denn zwei Drittel aller Pflegebedürftigen werden von Angehörigen betreut. Etwa die Hälfte der Beschäftigten arbeiten trotzdem regulär weiter, ein Viertel reduziert ihre Arbeitszeit und ein Viertel geben ganz oder vorübergehend ihre Berufstätigkeit auf.

Im Rahmen des Projekts Carers@Work haben Wissenschaftler unter anderem von den Universitäten Dortmund, Duisburg-Essen und Oxford vor sieben Jahren untersucht, welche Folgekosten einem Unternehmen dadurch entstehen, dass sich Beruf und Pflege nur schwer vereinbaren lassen. Diese Folgekosten beliefen sich pro Beschäftigten, der einen Angehörigen pflegt, auf 14 154,20 Euro pro Jahr. Diese Kosten entstehen, weil Beschäftigte, die auch noch Angehörige pflegen, häufiger krank oder abwesend sind, ihre Stundenzahl reduzieren oder so überlastet sind, dass sie zwar zur Arbeit kommen, aber nur wenig leisten können. Rechnet man die betrieblichen Kosten, die entstehen, weil Beschäftigte sich um pflege- oder hilfebedürftige Angehörige kümmern, auf die Volkswirtschaft hoch, kommt man auf 18,94 Milliarden Euro pro Jahr.

Einige Unternehmen überlegen schon, betriebliche Alterstagesstätten zu bauen

Deshalb sollten Unternehmen ihren Mitarbeitern nicht bloß Angebote machen, um für ihre eigene Gesundheit zu sorgen, sondern sie sollten auch im Bereich der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege unterstützen. Eine Möglichkeit wäre, mit Hilfe eines externen Dienstleisters eine Beratung anzubieten, die bei allen Fragen hilft, die auftauchen, wenn ein Angehöriger zum Pflegefall wird - und am Ende auch einen Platz in einem Pflegeheim vermittelt. Mittlerweile denken einige Unternehmen sogar schon darüber nach, nicht bloß betriebliche Kindertagesstätten, sondern auch betriebliche Altentagesstätten aufzubauen; was heute noch die Ausnahme ist, könnte bald schon gang und gäbe sein. Sinnvoll wäre, dass der Staat die Unternehmen, die im Bereich "Elder Care" Verantwortung übernehmen, bei den Steuern entlastet.

Die neue Initiative des Bundesministers für Gesundheit, Jens Spahn (CDU), 13 000 zusätzliche Stellen in der Pflege zu finanzieren, ist ein positives Signal, löst jedoch nicht das Problem der fehlenden Fachkräfte. Es werden sich in der kurzen Zeit nicht so viele Bewerber finden lassen. Eine Aufwertung von Pflegeberufen, zum Beispiel des Berufs des Altenpflegers, ist dringend geboten. Beschäftigte in diesem Bereich sollten nicht nur besser bezahlt werden, sondern auch eine andere Berufsbezeichnung erhalten, etwa Gesundheitsfachkraft oder Fachbetreuer Pflege.

Für die Misere kann der Bundesminister für Gesundheit nicht allein verantwortlich gemacht werden, es handelt sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Noch ist es nicht zu spät, den Schalter umzudrehen - aber die Zeit läuft.

Werner Fürstenberg, 66, ist Gründer des Fürstenberg Instituts. Das Unternehmen aus Hamburg berät mit seinen Experten rund 150 Konzerne und mittelständische Betriebe aus ganz Deutschland und deren Mitarbeiter bei Gesundheitsfragen, psychischer Belastung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Konflikten oder Führungsthemen.

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