Süddeutsche Zeitung

Samstagsessay:Die neue Sinnsuche

Erste Unternehmenschefs zweifeln am Shareholder-Value-Denken. Das ist gut so. Die Frage ist nur, ob die Kritik an dem seit drei Jahrzehnten geheiligten Prinzip auch wirklich ernst gemeint ist.

Von Karl-Heinz Büschemann

Die Wirtschaft hat ein neues Thema. Mal wieder. In kaum einem der Aufbruchsappelle von Unternehmenschefs fehlt neuerdings ein englischer Hoffnungs- und Aufbruchsbegriff, der mit Sinn oder Zweck zu übersetzen ist und Unternehmen die Aufgabe zuordnet, nicht nur Geld zu verdienen, sondern auch etwas für die Gesellschaft zu tun. Heute gehe es um mehr als um Profite: "Wir haben einen Purpose", ist das neue Mantra des Siemens-Vorstandsvorsitzenden Joe Kaeser. Porsche-Chef Oliver Blume hat erkannt: "Die Frage nach dem Purpose von Porsche gewinnt immer stärker an Bedeutung". Theodor Weimer von der Deutschen Börse geht noch weiter: Sein Unternehmen brauche sogar "einen noblen Purpose".

Kommt jetzt das Ende eines drei Jahrzehnte alten Glaubensbekenntnisses der Manager-Kaste, das für Unternehmen nur ein Ziel kannte: den maximalen Gewinn für die Aktionäre? Mit dem Shareholder Value-Prinzip müsse es ein Ende haben, sagen viele im Lager der Unternehmenschefs. Gerade machte eine Gruppe von 200 US-Firmenbossen auf sich aufmerksam, die eine Abkehr von dem Denken fordert, das den Aktionär in den Vordergrund stellt. Darunter sind Erzkapitalisten wie Jamie Dimon von der Investmentbank JP Morgan, Jeff Bezos von Amazon, Tim Cook von Apple, General Motors-Chefin Mary Barra. Es müsse heute auch um andere Interessen gehen, um die der Kunden, der Mitarbeiter, Lieferanten und um Städte und Gemeinden. "Wir verpflichten uns, für alle Werte zu schaffen, für die Zukunft unserer Unternehmen, unserer Gemeinden und unseres Landes", sagen die 200.

Ähnlich sieht das Saori Dubourg aus dem Vorstand des Chemiekonzerns BASF. Auch sie macht sich für den Gedanken stark, dass ein Unternehmen eine gesellschaftliche Aufgabe habe und deswegen sogar eine ganz neue Buchführung brauche. Ein Mitarbeiter sei nicht nur ein Kostenfaktor: "Die Bilanz muss den Wert des Menschen berücksichtigen", sagte Dubourg kürzlich der Süddeutschen Zeitung.

Das Shareholder-Value-Prinzip hat weltweit Wirtschaft und Unternehmen umgekrempelt

Es ist erstaunlich, mit welcher Rigorosität Top-Chefs in Amerika oder Europa scheinbar gegen ein Handlungsprinzip zu Felde ziehen, das als Grundgesetz des Managements verstanden wurde. "Die Kardinäle treten aus der Kirche aus", ätzte das Manager Magazin über den Abfall von einem jahrzehntelang gepflegten Dogma. Soll es plötzlich Aufgabe der Chefs sein, dass Jobs für alle entstehen, die Menschen gut bezahlt werden, die soziale Ungleichheit schwindet, die Schulen in Ordnung sind, die Umwelt geschont wird und die Innenstädte wieder schön werden?

In den Neunzigerjahren war das Shareholder-Value-Prinzip der Kompromisslosigkeit in Deutschland angekommen. Es hat weltweit die Wirtschaft und Unternehmen umgekrempelt. Seitdem schossen die Gewinne in die Höhe. Die Unternehmen wurden Rosskuren und Umstürzen unterworfen. Oft mit schwerwiegenden Folgen für die Arbeitsplätze, viele Menschen gerieten unter den Druck sinkender Löhne. Der Gewinnwahn ließ auch moralische Schranken fallen. Der Siemens-Konzern belebte seine Geschäfte mit Schmiergeld und brauchte Jahre, um sich von der Krise zu erholen. Volkswagen wollte offenbar Kosten sparen und fälschte Abgaswerte von Dieselmotoren. Die Deutsche Bank manövrierte sich mit ihrem Gewinn- und Größenwahn in eine historische Krise, die viele Arbeitsplätze kostete und die Bank aus der ersten Liga in der Welt warf.

Als die Finanzkrise vor zehn Jahren die Weltwirtschaft durchrüttelte, begann das Ansehen der Aktionärsökonomie massiv zu sinken. Zum Wutfaktor vieler Menschen wurde auch, dass die Manager in Amerika und Europa bei den Gehältern Dimensionen erreicht hatten, die selbst wohlmeinende Geister für obszön hielten. Das Shareholder-Value-Denken wurde für viele zum Synonym für fehlenden Anstand.

Aber sind die Manager zehn Jahre nach dem großen Crash wirklich so einsichtig geworden? Haben sie verstanden, dass sie mit ihrem Streben nach Profiten und Millionengehältern überzogen haben? Dafür spricht einiges. Allerdings spricht nur wenig dafür, dass sich die Praxis in den Chefetagen schon bald ändern wird. Der Verdacht, dass Berater und PR-Profis mal wieder in die Trickkiste greifen, und dass die neue Nachdenklichkeit wohl eher taktischer Natur ist, bleibt.

Wie anders ist es zu erklären, dass Dennis Muilenburg, der Chef von Boeing, der auch zu den 200 Initiatoren der neuen Anti-Share-Holder-Bewegung in Amerika gehört, mehr als ein Jahr gebraucht hat, bis er sich öffentlich dafür entschuldigte, dass Boeing mit dem Mittelstreckler 737 Max ein schlampig entwickeltes Flugzeug auslieferte, das 346 Passagieren das Leben kostete? Was tun ausgerechnet Apple oder Amazon für die Gesellschaft? Beide Erfolgsunternehmen gehören ebenfalls der neuen Bewegung an. Der Computerkonzern machte sich einen Sport daraus, eine Regierung gegen die andere auszuspielen, bis er nur noch lächerlich geringe Steuern zahlte. Der Großversender wird weltweit für die schlechte Bezahlung seiner Mitarbeiter angeprangert. Oder Joe Kaeser: Warum sucht er nach einem neuen gesellschaftlichen Sinn für sein unternehmerisches Handeln, wenn er selbst ganz im Sinne des Shareholder-Denkens den Münchner Traditionskonzern zerschlägt, um den Aktienkurs zu treiben? Worin mag der Sinn eines Unternehmens liegen, wenn es profitable und imageträchtige Sparten wie die Medizintechnik verkauft und der Konzern immer kleiner wird? Für den Siemens-Chef, der früher selbst mal Finanzvorstand war und mit dem Investmentbankerdenken bestens vertraut ist, gilt Größe dagegen vor allem als Risiko.

Mit Investmentbanker-Logik hat der langjährige Chef von Linde, Wolfgang Reitzle, den erfolgreichen Gas- und Anlagenbaukonzern mit dem US-Konkurrenten Praxair fusioniert. Der faktische Verkauf des Traditionsunternehmens nach Amerika hat zwar den Aktienkurs von Linde getrieben. In Zukunft werden die Entscheidungen aber in den USA getroffen. Was das für die deutschen Linde-Arbeitsplätze bringen soll, bleibt Reitzles Geheimnis. Der Stahl- und Maschinenbaukonzern Thyssenkrupp wird von aggressiven Fonds in immer neue Strategien gejagt. Mit dem früheren Vorstandschef Heinrich Hiesinger und dem Aufsichtsratsvorsitzenden Ulrich Lehner haben die ungeduldigen Aktionäre 2018 genau die Manager vom Hof gejagt, die sich der kurzfristigen Logik der Investmentbanker zu widersetzen suchten.

Es ist kaum zu erwarten, dass sich die Kultur in den Chefetagen so bald ändern wird. Aber wenigstens einige Chefs haben erkannt, dass sie etwas tun müssen, weil sich das gesellschaftliche Klima zunehmend gegen sie dreht. Die Menschen stehen erfolgreichen Unternehmen nicht mehr automatisch positiv gegenüber. Längst glauben die Bürger nicht mehr automatisch, dass für die Gesellschaft gut ist, was den Konzernen nützt. Die Digitalisierung der Welt und die sozialen Medien tragen dazu bei, dass Unternehmen bei scheinbaren Vergehen mit Shitstorms in Imagekrisen gestürzt werden können. In den USA liegen im Wahlkampf gegen Präsident Donald Trump die demokratischen Kandidaten Elizabeth Warren und Bernie Sanders mit politischen Vorstellungen vorne, die in den USA als sozialistisch gelten. Die beiden planen im Kampf gegen überbordenden Reichtum einiger weniger eine Vermögensteuer und höhere Besteuerung von Unternehmen. Zudem drohen sie mit schärferen Regulierungen für Konzerne. Das wollen die Bosse mit Sicherheit nicht, und sie bauen schon mal vor.

Der Wandel zum Breitbanddenken setzt eine neue Mentalität voraus

Die Verlockung des Weiterso ist aber groß. Auch in Zukunft gilt, dass Unternehmen Gewinne machen müssen, ohne die fallen nämlich keine Leistungen für die Gesellschaft ab. Zudem macht die Idee des Managens nach den Prinzipien des Shareholder-Value für die Unternehmenschefs das Leben bisher so wunderbar einfach. Sie haben klare Kriterien für Richtigkeit oder Falschheit ihres Handelns: Zahlen. Der Wandel zum Breitbanddenken setzt aber eine neue Mentalität voraus. Daher stellt sich die Frage, ob den Führungskräften von morgen in der Phase des Börsenwahns alles soziale Denken ausgetrieben worden ist. Wer die Unterschiede sieht zwischen den ebenso schneidigen wie uniform-belanglosen Chefs von heute und nachdenklichen Führungsfiguren, die es noch bis in die Neunzigerjahre gab, muss befürchten, dass dieser Übergang lange dauern wird.

Umso mehr müssen sich Unternehmenschefs damit abfinden, dass sie die Rezepte für eine nachhaltige Unternehmensführung nicht mehr in Lehrbüchern finden werden. Sie müssen ihren Buchhalterblick mit den Scheuklappen von den Zahlentabellen lösen, mit denen man heute ein Unternehmen steuern kann. Stattdessen müssen sie das Ganze im Auge behalten: Die Mitarbeiter, aber auch die Nachbarn oder Bürgermeister, die auf einen lokalen Arbeitgeber stolz sein sollen.

Es kommt auf den Einzelnen an, nicht auf hohle Prinzipien. Die Unternehmensstrategen müssen selbst entscheiden, ob sie lieber mit Orgelpfeifen als mit Kanonenrohren ihre Gewinne machen wollen, ob sie ihre Mitarbeiter fair behandeln oder ausquetschen, und ob es nicht sinnvoll wäre, in die Zukunft reichende Investitionen vorzunehmen, obwohl sie Risiken bieten und kurzfristig den Gewinn drücken. Und sie müssen sich fragen, wie sie es hinbekommen, für die anspruchsvollen Mitarbeiter von morgen ein attraktiver Arbeitgeber zu werden.

Der Balanceakt besteht darin, dass auch in Zukunft zuerst die Aktionäre gefragt sein werden, denn die sind die Eigentümer. Der Begriff des Shareholder-Value bekommt eine neue Bedeutung: Er muss reflektierter verwendet werden. Erfolgreiches Handeln in Chefetagen geht nicht ohne Gewissen, Moral und Verantwortungsbewusstsein der Entscheider. Es geht auch nicht ohne Rückgrat und die Bereitschaft, sich mit ungeduldigen Aktionären anzulegen. Das ist mühsamer, als den Aktionären schnelle Gewinne zu liefern. Manager haben es künftig schwerer. Das ist gut so und könnte dafür sorgen, dass sie sich wieder ein besseres Ansehen erarbeiten und vielleicht sogar eines Tages die Millionen wert sind, die sie heute schon verdienen.

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Quelle:
SZ vom 09.11.2019
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