Man kann die Sache so sehen wie Sylvia Coutinho, Brasilien-Chefin der Großbank UBS: "Die Digitalisierung ist für Frauen so etwas, wie es die Pille in den Sechzigerjahren war: Sie eröffnet alle möglichen Freiheiten." Das sagte die Top-Managerin kürzlich auf dem Global Summit of Women in Warschau, und wer wollte ihr widersprechen? Von daheim aus arbeiten, auf Dienstreisen per Skype mit den Kindern Hausaufgaben machen oder sich beim Abendessen von Ferne dazuschalten - was Coutinho aus ihrem Alltag erzählte, gehört tatsächlich zu den großen Vorteilen der technologischen Vernetzung, von denen berufstätige Mütter (und Väter) profitieren können.
Aber wie die Pille hat auch die Digitalisierung Nebenwirkungen, die speziell Frauen treffen. Und um das Bild weiter zu strapazieren: Wie bei der Pille gilt, neue Freiheiten ermöglichen neue Freuden, bringen aber auch neue Verantwortung und Risiken, die man kennen sollte. Es folgt deshalb, wenn man so will, ein Blick in den Beipackzettel.
Wer Karriere machen möchte, muss im Unternehmen präsent sein
Natürlich kann die Digitalisierung dabei helfen, die Arbeit mit der Familie oder einem Lebenstraum zu vereinbaren. Geschäfte lassen sich zum Beispiel leichter von der Berghütte oder dem Segelboot aus führen, und die Kollegen oder Mitarbeiter müssen das noch nicht einmal mitbekommen. Allerdings sollte sich niemand Illusionen hingeben: Wer Karriere machen möchte, muss sich auch ab und an dort aufhalten, wo Karriereentscheidungen fallen.
Frauen sind gerne besonders fleißig und zum Beispiel stolz auf die Fähigkeit, während der Telefonkonferenz den Geburtstagskuchen für die Tochter zu verzieren. Das hilft aber nichts, wenn sie in der Firma und der Branche unsichtbar bleiben oder werden. Je seltener man sich an den Orten des Geschehens blicken lässt, desto wichtiger wird das Kontakthalten und Netzwerken.
Viele Frauen führen das auf der Liste der verzichtbaren weil zeitfressenden Engagements noch vor dem Kuchenbacken. Vor lauter Stress merken sie dann viel zu spät, dass sie längst vom Radar verschwunden sind. Arbeitsbienen sind beliebt und werden dringend gebraucht - nur nicht unbedingt befördert.
Nun muss nicht jeder aufsteigen, aber statt das Multitasking zu perfektionieren, sollten sich umtriebige Arbeitnehmerinnen zuweilen nach ihren Zielen fragen. Denn statt unermüdlich für andere zu arbeiten und dann doch übersehen zu werden, wäre die Energie im eigenen Unternehmen womöglich besser aufgehoben. Frauen machen sich immer noch viel zu selten und deutlich seltener als Männer selbständig, und wenn, dann bleibt es häufig beim Eine-Frau-Betrieb.
Dabei ist Gründen in der digitalen Welt leichter geworden als früher, wo es auf Fabriken und Maschinen ankam. In der Plattform-Wirtschaft zählt die Idee mehr als das Kapital - zumindest am Anfang. Wenn das Unternehmen größer werden soll, gilt allerdings auch: Frauen gelangen sehr viel schwerer an Kredite oder Risikokapital als Männer. Ähnlich wie bei Beförderungen sind hier Stereotype am Werk, die Souveränität und Glaubwürdigkeit so definieren, wie überwiegend Männer sie ausstrahlen.
Die Technologie könnte dabei helfen, das auszugleichen. Schließlich müsste Software zum Beispiel bei der Kreditvergabe oder bei Bewerbungen eher in der Lage sein, Bonität, Leistungen und Qualifikationen zu analysieren als ein Mensch, der oft nach dem "Nasenfaktor" entscheidet. Theoretisch kann das Frauen zugute kommen. Schließlich sind viele hochqualifiziert und fallen dennoch durch das Raster.
Belegt ist: Frauen werden nach gegenwärtiger Leistung befördert, Männer nach Potenzial. Algorithmen können dabei helfen, ein einigermaßen objektives Bild zu zeichnen. Aber Achtung: Software wird von Menschen gemacht und Algorithmen schreiben die Vergangenheit fort, weil sie die Zukunft aus Erfahrung ableiten. Wer garantiert also, dass Softwaretools für das Aufspüren von Talenten die Kandidaten nicht mit dem klassischen Bild der (männlichen) Führungskraft abgleichen?
Eine Anekdote, aufgeschnappt von einem Podium auf dem Digitalkongress DLD Summer (der früher übrigens unter DLD Women firmierte), illustriert, wie sich das Geschlecht auf Software auswirken könnte: Vier junge Männer aus der Tech-Szene unterhalten sich über künstliche Intelligenz, in dem Fall malen sie sich einen softwaregestützten Assistenten aus, dem man seine Sorgen schildern kann. "Ich werde dem dann sagen können, meine Frau ist schwanger. Und der wird antworten, denke daran, dass du dir jetzt ein größeres Auto kaufen musst!", erläuterte einer der Panelisten. Unvorstellbar, dass einer Frau dies als erste Reaktion eingefallen wäre.
So etwas lässt sich nur verhindern, indem mehr Frauen die digitale Welt mitgestalten und entsprechende Software auf Stereotype überprüft wird. Aber danach sieht es derzeit nicht aus. Nicht nur sind die Zahlen der Informatikstudentinnen zum Teil sogar rückläufig. Sondern Studien zeigen, dass Absolventinnen der entscheidenden Fächer die Branche häufig nach kurzer Zeit verlassen, weil sie sich die männlich geprägte Kultur in der Tech-Wirtschaft nicht antun wollen.
Das fällt nur manchmal besonders auf, zum Beispiel nach der Gründerkonferenz Noah kürzlich in Berlin, auf der tagsüber vor allem Männer redeten, abends aber Frauen die Party bereichern durften; das Ganze wurde unter dem Hashtag #Escortgate heiß diskutiert.
In den Silicon Valleys dieser Welt ist diese Monokultur jedoch Alltag. Wenn Frauen im IT-Sektor arbeiten, dann oft in schlecht bezahlten Jobs. Nur acht Prozent der in der Branche beschäftigten Frauen seien gut bezahlte Ingenieurinnen. Das geht aus dem "Report on Gender Equality and Empowering Women in the Digital Age" des Ausschusses für Frauenrechte und Gleichstellung im Europaparlament hervor, eine ausführliche Faktensammlung zu all den Hürden, auf die speziell Frauen im Zuge der Digitalisierung treffen. "Ganz Europa redet von Digitalisierung. Der politische Gestaltungsanspruch der EU darf sich aber nicht auf technologische Fragen beschränken", sagt die Grüne Europaabgeordnete Terry Reintke, Berichterstatterin des Ausschusses.
Hinzu kommen Prognosen, dass durch die Digitalisierung und künstliche Intelligenz viele Berufsbilder komplett verloren gehen werden. Darunter sind etliche traditionelle Frauenjobs, zum Beispiel Verkäuferin, Rezeptionistin und Bankangestellte. Werden die vielfach entwickelten Szenarien wahr, in denen die Digitalisierung Reichtum für einige wenige bringt, während die Mittelschicht mit dem Abstieg ringt, wird das viele Frauen hart treffen.
Tech-Enthusiasten versprechen sich von der Digitalisierung viel für die Frauen an den Rändern der Weltwirtschaft, also jene in den armen und ärmsten Ländern. Ein Großteil von ihnen ist bislang noch vom Wirtschaftsprozess ausgeschlossen. Für sie ist das Smartphone "ein Werkzeug, das das Leben verändert und verbessert", wie es Claire Sibthorpe, Chefin der Vereinigung Connected Women, auf dem Global Summit formulierte, der unter dem Motto "Building an inclusive economy in the digital age" stand, es ging also um eine Wirtschaft, von der alle profitieren.
Frauen sind häufiger Opfer von Hasskommentaren als Männer
Bäuerinnen können sich über das Internet informieren wie nie zuvor, zum Beispiel darüber, wie das Wetter wird oder wo es welches Saatgut gibt. Händlerinnen können Online-Marktplätze aufbauen und ihre Geldgeschäfte über das Netz abwickeln. Das gelingt ihnen vermutlich leichter als im persönlichen Gespräch mit dem Banker, der womöglich erst den Ehemann sehen will. Connected Women macht sich dafür stark, dass alle Frauen Zugang zum Internet bekommen; 1,7 Milliarden Frauen weltweit hätten noch kein Mobiltelefon, so Sibthorpe. Das gender gap beim Zugang zu Technologie sei in armen Ländern und dort besonders auf dem Land gewaltig.
Haben die Frauen dann ein Telefon, ist die Freiheit allerdings nicht garantiert: So wie hierzulande Eltern ihre Kinder per Smartphone kontrollieren, eröffnet die Vernetzung Vätern, Ehemännern und Brüdern neue Möglichkeiten, Frauen zu überwachen. Wohin geht sie, wie viel Geld nimmt sie ein, an wen überweist sie, was liest sie? All das ist sehr leicht herauszufinden, wenn ein einziges Gerät zur Nabelschnur in die Welt wird.
In der Tat ist es ein gewaltiges Problem der Digitalisierung, dass Belästigung, Hetze und Drohungen gegen Frauen über soziale Netzwerke massiv zugenommen haben und sich, verglichen mit der physischen Welt, potenzieren. Frauen, besonders jüngere, sind weit häufiger Opfer von Hasskommentaren im Netz als Männer.
Und es geht schlimmer: Männer rächen sich an Ex-Freundinnen und posten Sex-Videos, Vergewaltigungen werden gefilmt und im Netz "geteilt". Dagegen können Frauen allein nichts unternehmen - außer womöglich aus den sozialen Netzwerken verschwinden. Aber auch dann bleiben sie Opfer, denn in der digitalen Welt bedeutet das Isolation. Netzkonzerne, Behörden und der Gesetzgeber müssen deshalb zusammenarbeiten, damit solche Taten und Straftaten verhindert, verfolgt und gegebenenfalls bestraft werden.
Ein weiteres Risiko der Digitalisierung für Frauen kommt sehr viel harmloser daher: Frauen neigen noch stärker als Männer dazu, sich perfektionieren zu wollen, was in der Welt der sozialen Netzwerke ohnehin Trend ist. Jeder möchte schön sein, cool wirken, sich und sein spannendes Leben präsentieren. Gesundheits- und Fitnessapps suggerieren, dass diese Art von Perfektion möglich ist, wenn man nur hart genug arbeitet. Danach zu streben, kann viele Stunden und viel Aufmerksamkeit konsumieren. Darüber lässt es sich leicht vergessen, dass man seine Kräfte auch sinnvoller einsetzen kann. Eben dafür, die digitale Welt mit ihren Freiheiten, von denen UBS-Managerin Sylvia Coutinho so schwärmt, zu gestalten.
Greift man ihr Bild von der Pille auf, ist das so: Mit dem revolutionären Verhütungsmittel kam die Verantwortung für die Familienplanung. Mit der digitalen Welt kommt die Verantwortung und Verpflichtung, diese auch so zu formen, dass die Menschheit davon profitiert. Wie bei der Familienplanung gilt das natürlich für Männer und Frauen gleichermaßen.