Dieses Mal ist es anders. So werden Finanzblasen verharmlost und wegerklärt. Die Börsenkurse steigen ins Surreale, aber die überlieferten Maßstäbe gelten nicht mehr. Die Dotcom-Blase Ende der Neunzigerjahre rechtfertigte man damit, dass das Internet die Gesetze der Ökonomie außer Kraft gesetzt hätte. Bis die Blase platzte und es plötzlich alle gewusst hatten. Schuld waren die naiven Anleger mit ihrer Herdenmentalität, die ihr Geld zum Beispiel in Pets.com steckten, einen Onlinehändler für Hundefutter, den die Börse mit hundert Millionen Dollar bewertete.
Der US-Investor Bernard Baruch beschrieb die Zeit vor dem Börsencrash von 1929 so: "Taxifahrer erzählen dir, welche Aktien du kaufen sollst und meine Köchin hat ein Aktienkonto." Joe Kennedy stieg damals wenige Wochen vor dem Knall aus, nachdem ihm ein Schuhputzer Aktientipps gegeben hatte. Damit rettete er das Vermögen des Kennedy-Clans.
Die Finanzkrise 2008 wurde nicht von Schuhputzern verursacht, die naiv Wertpapiere kauften. Sondern von der Finanzelite, die sich freilich so ignorant verhielt wie Kleinanleger. Die Profis ließen sich - willig oder dumm - von Magiern der Wall Street Hypotheken von geringer Bonität andrehen, die diese umverpackt und neu gemischt und damit in scheinbar erstklassige Anlagen verzaubert hatten: Mogelpapiere, die als Subprime-Anleihen in die Geschichte eingegangen sind. Ihretwegen schrammte das weltweite Finanzgefüge am Systemkollaps vorbei. Auch die Banker hatten sich von Gier und vom Herdeninstinkt treiben lassen.
Bereits im Jahre 1999 hat Japans Zentralbank eine Nullzinspolitik eingeführt
Dieses Mal jedoch ist es wirklich anders. Die nächste Blase, die platzt, wird nicht von einer ignoranten Herde verursacht worden sein, die sich blenden ließ. Dieses Mal steuern uns die Währungshüter auf den Kollaps zu, deren Aufgabe es wäre, das Finanzsystem zu schützen: die Notenbanken, allen voran die Bank of Japan. Sie nimmt stolz für sich in Anspruch, Pionierin des "Quantitative and Qualitative Easings" zu sein, wie sie ihre ultralockere Geldpolitik nennt. Diese Strategie wurde - allerdings in bescheideneren Dimensionen - von vielen Zentralbanken übernommen.
Die japanische Zentralbank hat ihre Nullzinspolitik bereits im April 1999 eingeführt. Sie wollte die nach dem Platzen der japanischen Immobilien- und Börsenblase 1990 stagnierende Wirtschaft ankurbeln. Zudem herrschte in Japan eine milde Deflation. Die vor 1990 überrissenen Preise bewegten sich sachte auf ein normaleres Maß zurück. Die Nullzinsen erlaubten es Japan damals, seine maroden Banken zu sanieren. Danach wuchs seine Wirtschaft wieder etwas, allerdings nur sehr moderat. Doch die Notenbank versäumte es, das Zinsniveau zu normalisieren. Offiziell wollte sie das schwächliche Wachstum nicht gefährden. In Wirklichkeit finanzierte sie ein wachsendes Staatsdefizit. In einigen Jahren seither nahm die japanische Regierung mehr als die Hälfte ihres gesamten Budgets als Staatsanleihen auf.
Als im Herbst 2008 die Subprime-Blase platzte und die Bank Lehman Brothers unterging, fehlte der japanischen Zentralbank deshalb das wichtigste Instrument, mit dem sie die Finanzkrise hätte abfedern können: die Zinssenkung. Die Zinsen waren schon nahe null. Der einzige Hebel, der ihr blieb, war der Hebel an der Druckerpresse. Sie pumpte frisch gedruckte Yen in die Wirtschaft und fing den Lehman-Schock etwas auf. Die Grundprobleme der japanischen Wirtschaft jedoch blieben einmal mehr unangetastet - die starren Strukturen und Verflechtungen zwischen Politik und Wirtschaft.
Als Shinzo Abe 2012 Premier wurde, versprach er radikale Neuerungen. "Abenomics" sollte tief greifende Strukturreformen und Infrastrukturinvestitionen umfassen und mit einer massiven Lockerung der Geldpolitik finanziert werden. Abe berief dazu Haruhiko Kuroda an die Spitze der Notenbank. Kurz nach seinem Einstand verhöhnte Kuroda die Nullzinspolitik seines Vorgängers als zu zahm. Seine Bank of Japan begann, für jährlich umgerechnet 700 Milliarden Euro japanische Staatsanleihen zu kaufen. Inzwischen hält sie fast die Hälfte von Japans Staatsschulden, die auf zehn Billionen Euro angewachsen sind. Das sind 250 Prozent der Jahresleistung der japanischen Wirtschaft. Kein anderer Staat leistete sich je eine solche Schuldenblase, selbst Griechenland während seiner akuten Krise nicht.
Die Notenbank hat den Markt für japanische Staatsanleihen ausgetrocknet. Damit gibt es auch keine unabhängige Risikobewertung der Anleihen mehr, deren Sicherheit weiterhin erstklassig sein soll. Und das ist nicht alles: Über Fonds kauft die Zentralbank auch Aktien und Firmen-Obligationen. Mit ihrem Portfolio von 27 Trillionen Yen, 22 Billionen Euro, ist sie nach dem staatlichen Pensionsfonds Japans zweitgrößter Aktionär - und verzerrt somit auch den Aktienmarkt.
Kuroda rechtfertigte diesen Wahnwitz mit einer angeblichen Deflationserwartung der Japaner. Die Verbraucher würden Einkäufe aufschieben, die Unternehmer Investitionen, weil sie mit nachlassenden Preisen rechneten, behauptete er. Man müsse eine Inflation von zwei Prozent erzeugen, das breche die Deflationserwartung. Die Japaner würden kaufen und investieren und damit ziehe die ganze Wirtschaft an. Kuroda schien ein wirtschaftliches Perpetuum mobile erfunden zu haben.
Sein Inflationsziel hat er auch nach sechs Jahren nicht erreicht. Die jungen Japaner hegen ohnehin keine Deflationserwartung, viele haben gar kein Geld für mehr Konsum. Und die Alten fürchten die Zukunft. Sie haben ein Berufsleben lang gespart, um ihre dürftige Staatsrente mit den Zinsen vom Sparheft aufzubessern. Aber ihr Sparguthaben wirft seit zwanzig Jahren keine Erträge mehr ab. Das bremst ihre Bereitschaft zum Konsum. Derweil investieren Firmen eher im Ausland, zumal Abe keine radikalen Reformen durchgesetzt hat, er begnügt sich mit Absichtserklärungen und kosmetischen Veränderungen.
Vor seiner Berufung zur Bank of Japan hatte Kuroda einst erklärt, mit Geldpolitik saniere man keine Wirtschaft. Seit sechs Jahren jedoch versucht er genau das. Dabei wollte er Abe ursprünglich nur Zeit geben, damit Japans Wirtschaft, aufgeputscht mit Liquidität, die nötigen Strukturoperationen leichter überstehe. Abe hat dieses Therapiefenster nie genutzt.
Japans Wirtschaft hat sich in den vergangenen Jahren von den Nachwehen der Lehman-Krise sowie der Tsunami- und Nuklearkatastrophe 2011 erholt; sie wächst mäßig, vor allem dank des Tourismus, der sich vervierfacht hat. Japans Arbeitnehmer dagegen merken davon wenig, ihre Löhne stagnieren. Konsum- oder Investitionskredite erhalten sie auch keine, Japans Geschäftsbanken gewähren Privaten nur Hypotheken. Die Regierung dagegen ist längst süchtig nach dem Doping des billigen Geldes. Sie verschuldet Japan stetig mehr, an eine finanzpolitische Nachhaltigkeit denkt sie nicht.
Die Regierung in Tokio kennt das Risiko und meint aber, die Vorteile überwögen
Die Apologeten der ultralockeren Geldpolitik beschwichtigen, es bestehe keine Gefahr einer Schuldenkrise. Anders als Private oder Unternehmen könnten Staaten endlos umschulden, sie verlagern ihre Verpflichtungen auf die nächsten Generationen. Doch Staatsbankrotte sind häufiger, als man denkt. 1971 hoben die USA den Goldstandard auf, um eine Zahlungsunfähigkeit zu vermeiden. 1997 musste der Internationale Währungsfonds Thailand und Südkorea retten, 1998 war Russland insolvent, 2008 Island und 2010 Griechenland. Argentinien sogar zweimal: 2002 und 2014. Allen diesen Ländern ist gemein, dass sie im Ausland verschuldet waren. Der japanische Staat dagegen hat seine Schulden zu 88 Prozent in Japan. Sein größter Gläubiger ist die Bank of Japan. Auch andere japanische Gläubiger würden ihren eigenen Staat nicht in die Insolvenz zwingen, heißt es. Und mit den Nullzinsen ist der Schuldendienst heute billiger, als er es für die bescheidenen Staatsschulden 1999 war. Doch eine Zinssteigerung würde das rasch ändern. Und ein Zahlungsverzug, sollte es so weit kommen, würde Japan härter treffen als andere Länder, da sich eine Insolvenz wie fallende Dominosteine durch die japanischen Institutionen fortsetzen würde.
Natürlich kennt man diese Risiken in Tokio, aber man meint, die Vorteile überwögen. Japans Regierungen versprechen seit zwanzig Jahren, den Staatshaushalt auszugleichen. Aber sie schieben das stets vor sich her. In Wirklichkeit hat diese schrumpfende, alternde Nation keine Chance mehr, sich ohne Schuldenschnitt, Inflation oder Massenimmigration aus ihrer Schuldenfalle zu lösen. Es stimmt auch nicht, dass die Vorteile überwiegen. Die Gratiskredite erlauben es dem Staat, völlig undiszipliniert Geld auszugeben - für Brücken nach nirgendwo, unnötige Provinzflughäfen und Olympische Spiele. Außerdem hält Billiggeld Zombie-Firmen am Leben, die im Wettbewerb untergehen müssten, um Innovationen Platz zu machen. Und die Kleinsparer werden mit den Nullzinsen jetzt schon schleichend enteignet. Sollte es zum Schuldenschnitt oder zur rasanten Inflation kommen, werden sie die ersten Leidtragenden sein.
Japan steckt in einer ökonomischen Schönwetterperiode, statistisch wächst die Wirtschaft langsam, auch wenn das ein blutarmes Wachstum ist, von dem die meisten Leute wenig merken. Eine ultralockere Geldpolitik jedoch gehört nichts ins schöne Wetter. Sie ist eine Notmaßnahme, mit der man Unwetter abfedern würde. Doch die Bank of Japan nutzt sie permanent und vergibt damit dieses finanzpolitische Rettungsinstrument, das ihr im Notfall - nach einer Naturkatastrophe oder in einem Handelskrieg - fehlen wird.
Die Schuhputzer und Köche wussten es 1929 nicht besser, die Finanzprofis hätten es 2008 wissen können, dass es jenes Mal nicht anders war. Sie wollten nur nicht. Zentralbankchef Kuroda dagegen weiß genau, dass sich eine Wirtschaft mit Geldpolitik nicht sanieren lässt. Früher hat er es selber gesagt. Trotzdem liefert er Abes Regierung die Droge, die sie von ihm verlangt. Und droht damit den Yen zu verzocken, dessen oberster Hüter er als Notenbank-Chef sein sollte.