Samstagsessay:Das Konto denkt mit

Die künstliche Intelligenz erreicht die Finanzindustrie: Sie verändert Banken, Dienstleister, Jobprofile - und bald auch den Kunden. Manch einer sagt, die Bank mit Filialen und Kundenberatern habe keine Chance.

Von Jan Willmroth

Manch ein Spieler trägt verspiegelte Sonnenbrille, manche schauen bloß skeptisch, andere pflegen ein undurchschaubares Lächeln. Die eigenen Emotionen zu verbergen macht beim Poker den Unterschied, der menschliche Faktor in dem Spiel gilt als unberechenbar, am Ende siegt die Intuition. Gegen Deep Stack, eine Software von Wissenschaftlern an der kanadischen Universität von Alberta, hatten elf der weltweit besten Pokerspieler aber keine Chance: Ende des vergangenen Jahres spielte jeder von ihnen 3000 Partien gegen das Programm. Nur einer lag am Schluss vorn.

Nach dem sehr kalkulierbaren Schach und dem strategisch geprägten Brettspiel Go schlagen Maschinen jetzt auch Poker-Profis. Das ist unterhaltsam, vor allem aber nicht zu unterschätzen: Künstliche Intelligenz macht dem Menschen zunehmend Konkurrenz, selbst in hochemotionalen Bereichen, in dem die menschliche Intuition bislang als unersetzlich galt. Nirgendwo lässt sich das momentan so gut beobachten wie in der Finanzindustrie.

Die Geldbranche geht mit großen Ankündigungen nicht gerade sparsam um. Seit Jahren reden Banker und Berater davon, wie die Digitalisierung Banken und Finanzdienstleister fundamental verändern wird, wie Banken unter Zugzwang geraten, weil innovative junge Firmen und amerikanische Technikkonzerne neue Lösungen für Teile ihres Geschäfts erfinden. Die Computerisierung der Finanzwelt läuft spätestens seit den Achtzigerjahren ab, sie hat sich im Internetzeitalter exponentiell beschleunigt, der Abstraktionsgrad von Finanzgeschäften ist bereits so hoch, dass sie kaum noch zu begreifen sind. Aber der ganz große Wurf, ein totaler Umsturz dessen, was man als Bank oder Vermögensverwaltung kennt, blieb aus.

Bis jetzt. Die rasante Entwicklung der künstlichen Intelligenz erfasst nun auch die Welt des Geldes, sie verändert den Zahlungsverkehr, löscht ganze Funktionseinheiten von Banken aus, sie verändert das, was Kunden unter Kontoführung und Kreditmanagement verstehen. Massenhaft verfügbare, günstige Rechenleistung, lernfähige Programme, die eigenständig Entscheidungen treffen, und Milliardeninvestitionen in deren Anwendung an den Finanzplätzen der Welt lösen den Umbruch aus, über den die Branche so lange gesprochen hat. Den Banken bleibt nicht viel Zeit, und sie haben keine Wahl: Entweder machen sie mit, oder sie gehen unter.

In der Geldanlage sind intelligente Maschinen besser als Menschen

Der australische Bestsellerautor und Banken-Berater Brett King behauptet sogar, die Universalbank mit Filialen und Kundenberatern habe keine Chance und werde verschwinden; in der Geldanlage seien intelligente Maschinen besser als Menschen, Banken würden von physischen Orten zu reinen Zweckmäßigkeiten.

Künstliche Intelligenz ist ein Schlagwort, das eine Reihe verwandter Technologien zusammenfasst: Technologien, die Maschinen empfinden, verstehen und entscheiden lassen, ähnlich dem menschlichen Gehirn. Dazu gehören die Verarbeitung von Sprache, selbstlernende Maschinen mit unbegrenztem Datengedächtnis oder Systeme, die Ratschläge erteilen und Vorhersagen machen - genau die Kernkompetenzen von Finanzkonzernen.

Der erste Teil des Umbruchs ist weithin unsichtbar, er betrifft viele Tausend Anwälte, Analysten und Sachbearbeiter in Bankentürmen und setzt die Arbeitsprozesse in Geldhäusern völlig neu zusammen. Die größte US-Bank JP Morgan Chase beschäftigt Entwicklerteams, die eine Software namens Contract Intelligence (Coin) pflegen. Das Programm interpretiert Vertragsunterlagen zu Unternehmenskrediten, eine komplexe Aufgabe, an der sonst Juristen der Bank 360 000 Stunden jährlich arbeiteten. Die Software erledigt deren Job in Sekunden, macht weniger Fehler - und sie ist billiger. In Kürze will JP Morgan sie auch für Kreditversicherungen und Verträge zur Verwahrung von Wertpapieren einsetzen.

Samstagsessay: Illustration: Stefan Dimitrov

Illustration: Stefan Dimitrov

Coin ist für JP Morgan erst der Anfang und nur ein aktuelles Beispiel unter vielen: Weltweit richten Banken Technologiezentren ein, sie investieren Milliarden in die Analyse großer Datenmengen, Cloud-Computing und sogar Robotik. Richard Lumb, der bei der Technologieberatung Accenture den Bereich Finanzdienstleistungen verantwortet, hält im Zuge dessen "Tausende Funktionen" innerhalb von Banken für ersetzbar. Während es in der öffentlichen Debatte über Automation noch vor allem um den Wegfall einfacher Arbeiter-Tätigkeiten geht, macht künstliche Intelligenz in Banken und Versicherungen bald hochqualifizierte Banker, Anwälte und Mathematiker überflüssig. So lässt sich eine Menge Geld sparen in einer Branche, die viel weniger verdient als früher.

Das liegt auch an der Regulierung seit der Finanzkrise: Nachdem Regierungen das Weltfinanzsystem vor dem Zusammenbruch gerettet hatten, zogen die Regulierer die Daumenschrauben an, verboten bestimmte Bankgeschäfte oder machten sie so teuer, dass sie unattraktiv wurden. Eine durchschnittliche Bank gibt heute zwischen zehn und 15 Prozent ihres Budgets dafür aus, die regulatorischen Anforderungen zu erfüllen. Die US-Bank Citigroup schätzt, dass große Banken die Zahl der Beschäftigten in diesem Bereich verdoppelt haben, 270 Milliarden Euro bezahlt die Bankindustrie laut Citi pro Jahr allein, um Regeln einzuhalten. Wenn Maschinen Verträge prüfen, massenweise Daten analysieren und Probleme selbst lösen, fällt vieles davon weg, vor allem viele Stellen. Der Chef der französischen Bank BNP Paribas, Jean-Laurent Bonnafé, sagte dazu vor wenigen Wochen: "Wir sind in einem Umfeld, in dem wir keine neuen Jobs schaffen. Wir managen den Wandel."

Dieser Wandel wird nun auch von außen sichtbar. Denn der zweite Teil des Umbruchs geht über die internen Abläufe in Banken, die regulatorischen Pflichten und die Datenanalyse weit hinaus. Mit dem Potenzial künstlicher Intelligenz erfährt die Beziehung zwischen Kunden und Bank den größten Wandel seit der Erfindung des Kreditgeschäfts. Dass alle großen Banken und viele kleine Sparkassen Filialen schließen, ist das prominenteste Symptom einer Entwicklung, die gerade beginnt: Das Bankkonto wird virtualisiert - und es lernt denken.

Bislang beschränkte sich die Virtualisierung der persönlichen Geldgeschäfte etwa auf Programme, die den Kunden ihre Ein- und Ausnahmen aufzeigen und etwa automatisch Bilanzen erstellen. Künftig wird das Konto selbst zum Akteur. Intelligente Software analysiert, wie der Kunde mit seinem Geld umgeht, wann er sich Lebensmittel kauft, Kleidung und Bücher bestellt, sie weiß, wie viel er für Versicherungen ausgibt und erkennt, wann er im Urlaub ist. Sie verarbeitet und verknüpft ungezählte Datenpunkte von Millionen Bankkunden. Sie weiß besser als jeder Schuldenberater, wo Kunden Geld sparen können, und empfiehlt ihnen Entsprechendes: Dein Mobilfunkvertrag ist zu teuer, Du zahlst zu hohe Zinsen für Deinen Hauskredit, ich habe eine günstigere Versicherung für Dich und Deine beiden Kinder gefunden.

Drei Thesen

Die Gegenwart Finanzkonzerne investieren Milliarden in künstliche Intelligenz

Die Zukunft Der größte Umbruch in der Branche seit der Erfindung des Bankwesens

Die Wirkung Eine beschleunigte Entmenschlichung der Welt des Geldes

Man kennt das von Amazon, aber Amazon weiß nur, was den Kunden gefällt. Eine kontoführende Bank weiß: fast alles.

Daraus erwächst auch das Potenzial, das Sparen neu zu definieren. Bis auf wenige Nischen, in denen Menschen ihr Vermögen selbst online anlegen oder sich von algorithmisch geprägten digitalen Vermögensverwaltern Produkte empfehlen lassen, funktioniert das so wie früher: Kunde geht in Bank, Berater stuft ihn ein, lässt ihn jede Menge Papiere unterschreiben und empfiehlt ihm Produkte. Schlaue Software lernt den Kunden schneller und besser kennen als jeder Berater, kann viel präziser einschätzen, wie ängstlich oder wagemutig jemand ist und kennt mehr Produkte als der Mitarbeiter in der Bank (nämlich alle). Der wird zwar nicht völlig verschwinden, seine software-gestützte Arbeit wird aber zunehmend robotisiert. Wenn Maschinen zu sprechen lernen, laufen Beratungsgespräche nur noch virtuell ab.

Der Grad der Fremdbestimmung, wird noch einmal höher

Hedgefonds und Hochfrequenzhändler werden künstliche Intelligenz nutzen; wer an der Börse handelt, konkurriert mit selbstdenkenden Maschinen, die zwar nie langsamer sind als der Mensch, aber auch gefährliche Fehler machen können.

Klingt alles beängstigend? Ist es auch, in dreierlei Hinsicht. Erstens dürften sich selbst gut ausgebildete und hochbezahlte Mitarbeiter in manchen Finanzkonzernen fragen, ob sie ihre Stelle noch länger als ein paar Jahre behalten. Künstliche Intelligenz ist kein Selbstzweck, sie dient den Banken zuerst dazu, Kosten zu senken, weniger Menschen zu beschäftigen und die verbleibenden mit anderen Dingen.

Mit den persönlichen Finanzen wird zweitens der letzte Lebensbereich von der Vernetzung erfasst, in dem man bisher noch eine robuste Privatsphäre wahren zu können glaubte. Die Liebe der Deutschen zum Bargeld wird nicht verhindern, dass Banken und Finanzdienstleister immer mehr über das Verhalten ihrer Kunden erfahren, auswerten und nutzen. Das öffnet den privaten Raum des Geldes für Manipulationen und neue Lockrufe der Werbung. Der Grad der potenziellen Fremdbestimmung, wie ihn Technikkonzerne bis heute schon erweitert haben, wird noch einmal höher; Gleiches gilt für die Abhängigkeit von Technologien, die fehleranfällig und angreifbar sind. Die Entmenschlichung der Beziehung zwischen Bank und Kunden, das ist der dritte Punkt, ist ein Sicherheitsrisiko, sie bietet Kriminellen neue Angriffsflächen und Staaten und Geheimdiensten potenziell perfekte Überwachungsmöglichkeiten.

Gleichwohl ist sie unvermeidlich. Die Kinder von heute werden Banken nicht mehr als die Kreissparkasse um die Ecke wahrnehmen, sie werden sich intelligente Konten herunterladen. Sie werden nicht mehr sparen, sondern ihre persönliche Bilanz optimieren, ohne etwas von Buchhaltung zu verstehen. Sie werden nie wieder in Warteschleifen festhängen, weil Roboter ohne Wartezeit ihre Fragen beantworten. Banken sind nun endlich in der Lage, die riesige Menge an Daten in ihren Häusern effektiv zu nutzen, sie können wieder mehr Geld verdienen und vielleicht auch innovativ sein. Die Echtzeit-Ökonomie schafft eine neue Weltordnung, künstliche Intelligenz ordnet die Welt des Geldes neu. Mit noch offenem Ausgang.

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