Etwa 135 000 Saisonarbeiter kamen zuletzt jährlich nach Deutschland, fast alle aus Osteuropa. Ähnlich viele werden es auch in diesem Frühling, Sommer und Herbst sein, wenn Beeren gepflückt werden, Spargel gestochen und Wein gelesen wird. Wenn die Produkte schließlich im Supermarkt liegen, wird nicht mehr zu sehen sein, unter welchen prekären Bedingungen sie entstanden sind.
Da ist zum Beispiel der Erntehelfer aus Rumänien, der starke Zahnschmerzen bekommt und von seinem Vorarbeiter nicht zum Arzt gelassen wird. Da sind die Georgier, die Erdbeeren pflücken und in Containern voller Schimmel und Kakerlaken hausen. Und da sind die drei Ukrainer, die nach zwei Monaten der Plackerei auf den Feldern unter einem Vorwand 300 Euro vom mickrigen Lohn abgezogen bekommen.
Manches sei zwar ein wenig besser geworden, heißt es im Bericht der Initiative Faire Landarbeit, den die Gewerkschaft IG Bau und der Deutsche Gewerkschaftsbund am Donnerstag vorlegten. Die Lage sei nicht mehr so schlimm wie zur Hochzeit der Pandemie, als die Erntehelferinnen und -helfer in Busse und enge Gruppenunterkünfte gepfercht wurden und sich ganze Betriebe in Hotspots verwandelten.
"Das sind teils unhaltbare Zustände in den Unterkünften und auf den Feldern."
So müssen Arbeitgeber heute etwa ihre Arbeitskräfte bei der Krankenversicherung anmelden. Den Mindestlohn, den auch die Erntehelfer bekommen müssen, hat die Bundesregierung außerdem zum Oktober auf zwölf Euro pro Stunde erhöht. Und trotzdem sagt Harald Schaum, Vizechef der IG Bau: "Das sind teils unhaltbare Zustände in den Unterkünften und auf den Feldern."
Den Gewerkschaften zufolge sind es zwei große Themen, bei denen sich nach wie vor große Probleme für die Erntehelfer auftun - bei den Löhnen und beim Gesundheitsschutz. Der Mindestlohn von zwölf Euro bedeutet für sie eigentlich eine klare Verbesserung, doch die Frage ist, wie viele Beschäftigte ihn überhaupt erhalten. Da ist, zum einen, ein Bezahlungssystem, das kaum durchschaubar ist, insbesondere nicht für Menschen, die nur für wenige Monate im Jahr nach Deutschland kommen und die Sprache kaum sprechen. Die Erntehelfer bekommen zwar einen Grundlohn pro Stunde, werden aber zusätzlich auch danach bezahlt, wie viel Kilogramm sie geerntet haben.
Sowohl die Löhne pro Kilo als auch die geleisteten Stunden ließen sich viel zu leicht manipulieren, kritisieren die Gewerkschaften, in der Praxis führe das zu "Dumping-Akkordlöhnen". Der Vorarbeiter notiere die Arbeitszeit meist handschriftlich, die Beschäftigten selbst bekämen keine Belege darüber. Außerdem würden die Löhne meist erst am letzten Tag ausgezahlt. "Die Beschäftigten sind dann kurz vor der Abreise und stehen unter großem Zeitdruck", sagt Anja Piel aus dem DGB-Vorstand. Unstimmigkeiten ließen sich dann kaum noch klären. Immer wieder drückten Arbeitgeber widerrechtlich den Lohn, indem sie Wuchermieten für schlechte Unterkünfte oder Kosten für Arbeitsmaterial berechneten, etwa für Handschuhe oder Scheren.
Nur etwa ein Prozent der Betriebe wurde überhaupt überprüft
Die Einhaltung des Mindestlohns wird den Gewerkschaften zufolge außerdem viel zu selten kontrolliert. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls, die dafür zuständig ist, habe 2021 nur etwa ein Prozent der Betriebe geprüft, im ersten Halbjahr 2022 sei die Quote noch niedriger gewesen. Sie fordern, der Staat müsse die Kontrollen deutlich ausweiten; bereits im vergangenen Jahr forderte die IG Bau eine Verdopplung der dafür zuständigen Stellen auf 16 000. Außerdem verlangen die Gewerkschafter eine manipulationssichere, elektronische Arbeitszeiterfassung.
Dabei könnte es durchaus Unterstützung aus Berlin geben: Nachdem das Bundesarbeitsgericht im vergangenen September entschieden hat, dass Arbeitgeber eine flächendeckende Erfassung der geleisteten Arbeit anbieten müssen, arbeitet das Haus von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) derzeit an einem Gesetzentwurf, der Genaueres regeln soll. Er soll bis Ende März vorliegen.
Heil hatte schon vergangenes Jahr versucht, im Zuge des Mindestlohngesetzes eine allgemeine Arbeitszeiterfassung durchzusetzen, diese müsse die Stunden "elektronisch und manipulationssicher" aufzeichnen, so der Plan. Dieser scheiterte jedoch an Einwänden der FDP, die einen enormen Aufwand der Unternehmen ins Felde führte.
Ähnliche Auseinandersetzungen zeichnen sich auch jetzt wieder ab. Insbesondere die SPD-Bundestagsfraktion pocht auf eine engmaschige Erfassung der Arbeitszeit mit möglichst wenigen Ausnahmen, die FDP möchte den Spielraum der Arbeitgeber möglichst groß halten. Dabei geht es erneut darum, ob eine elektronische und manipulationssichere Aufzeichnung Pflicht wird. Sie würde typischerweise per App stattfinden.
Den Gewerkschaften reicht das jedoch nicht, sie fordern, die Bundesregierung müsse auch beim Krankenversicherungsschutz nachlegen. Die bisherige Gesetzeslage habe in der Praxis noch zu große Lücken. So meldeten die Arbeitgeber ihre Erntehelfer in der Regel bei privaten Gruppen-Krankenversicherungen an, händigten die Nachweise darüber aber ihren Beschäftigten oft nicht aus - was dazu führe, dass die Erntehelfer nicht selbstbestimmt zum Arzt gehen könnten. Außerdem reiche der Schutz vieler Privatversicherungen nicht aus. Die Erntehelfer blieben zum Teil auf Behandlungskosten sitzen, außerdem hätten sie häufig in den ersten vier Wochen keinen Anspruch auf Krankengeld, das den Lohnausfall ersetzen würde.
Bei diesem Thema ist die Bundesregierung bisher nicht entscheidend vorangekommen. Im Koalitionsvertrag hatten die Ampel-Partner vereinbart, dass sie bei Saisonbeschäftigten "für den vollen Krankenversicherungsschutz ab dem ersten Tag" sorgen würden. Das zuständige Bundesgesundheitsministerium teilte auf Anfrage mit, dass derzeit noch in der Regierung abgestimmt werde, "wie ein solcher Versicherungsschutz konkret gestaltet werden könnte". Den Saisonarbeitern, die in diesem Jahr kommen, dürfte das kaum helfen - die Spargelernte beginnt schon im April.