Sagen Sie mal ...:Was steckt hinter den großen Zahlen?

Um sechs Prozent soll die Wirtschaft einbrechen. Was das bedeutet, sagt Heiner Flassbeck, einer der angriffslustigsten Ökonomen Deutschlands.

Hans von der Hagen

Die Prognosen sind verheerend: Die deutsche Wirtschaft dürfte im laufenden Jahr mit sechs Prozent so stark einbrechen wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Aber: Solche Zahlen bleiben solange abstrakt, bis man selbst davon betroffen ist.

Sagen Sie mal ...: Heiner Flassbeck: "Ich fürchte, dass die politischen Verwerfungen dieses Prozesses noch gewaltig sein werden."

Heiner Flassbeck: "Ich fürchte, dass die politischen Verwerfungen dieses Prozesses noch gewaltig sein werden."

(Foto: Illustration: sueddeutsche.de)

Was jetzt passiert - sagt Heiner Flassbeck. Er zählt nach eigener Einschätzung zu "den wenigen Menschen, die praktisch alle wichtigen Institutionen der Wirtschaftspolitik und der wirtschaftspolitischen Beratung in Deutschland aus eigener Mitarbeit kennen".

Flassbeck war Staatssekretär im Bundesfinanzministerium unter Oskar Lafontaine und Mitarbeiter im Stab der Wirtschaftweisen. Seit 2000 arbeitet er als Chefvolkswirt bei der United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD) in Genf. Unlängst ist sein Buch "Gescheitert - Warum die Politik vor der Wirtschaft kapituliert" erschienen.

sueddeutsche.de: Die deutsche Wirtschaft soll 2009 um bis zu sechs Prozent schrumpfen. Wer hat sich mehr erschrocken: der frühere Staatssekretär oder der frühere Wirtschaftsforscher?

Heiner Flassbeck: Der Staatssekretär - denn ich fürchte, dass die politischen Verwerfungen dieses Prozesses noch gewaltig sein werden. Ich sehe derzeit keine politische Konstellation in Deutschland, die mit den Herausforderungen, die vor uns stehen, fertig werden könnte.

sueddeutsche.de: Welche Herausforderungen?

Flassbeck: Wir dürften vor einer langen Phase der Stagnation stehen - die Wirtschaft wird auch auf dem niedrigen Niveau kaum noch wachsen. Schlimmer noch: Die Preise könnten ins Rutschen kommen - uns droht also eine Deflation. Die wiederum hält die Leute von größeren Anschaffungen ab - es wird ja immer alles noch billiger. Die Folge: Der Konsum bricht ein. Man darf sich also durchaus Sorgen um die Stabilität des gesamtgesellschaftlichen Systems machen.

sueddeutsche.de: Wann war absehbar, dass die frühen Prognosen - die lediglich einen Einbruch von ein bis zwei Prozent vorsahen - völlig danebenlagen?

Flassbeck: Als im Herbst 2008 die ersten Indikatoren dramatisch nach unten zeigten.

sueddeutsche.de: Auf welche Zahl schaut ein Konjunkturforscher als Erstes?

Flassbeck: Auf die Auftragseingänge in der Industrie. Das ist ganz klar der wichtigste Indikator. Der Ifo-Index ist ja auch nichts anderes als der Auftragseingang in der Industrie. Nur, dass der Ifo-Index 14 Tage früher kommt (lacht).

sueddeutsche.de: Ein Minus von fünf bis sechs Prozent ist im historischen Vergleich gewaltig - trotzdem ist es für viele kaum mehr als eine Zahl. Was bedeutet ein solcher Abschwung für eine Wirtschaft?

Flassbeck: Es ist ein dramatischer Schock, dessen Dimension bislang kaum verstanden werden kann. Die Bevölkerung bekommt zunächst nicht viel davon mit. Auch bei den Unternehmen steht das volle Ausmaß des Schocks noch nicht in den Büchern.

sueddeutsche.de: Bei welchen Branchen ist es am Schlimmsten?

Flassbeck: Vor allem in den Büchern der Firmen, die Fabriken ausrüsten und erweitern - in der Investitionsgüterindustrie. Dort sind die Auswirkungen der Finanzkrise schon jetzt dramatisch. Daneben traf es schon früh die Hersteller von großen und luxeriösen Konsumgütern.

sueddeutsche.de: Vom Aufschwung haben viele nichts mitbekommen - den Abschwung werden alle spüren?

Flassbeck: Natürlich. Das liegt an den Machtverhältnissen in unserer Marktwirtschaft. Die Unternehmen haben über Jahre gewaltige Gewinne angehäuft, doch die sind bei den Arbeitnehmern nicht angekommen. Wenn jetzt gegen Ende des Jahres Bilanz gezogen wird, werden auch die Unternehmen mit hohen Gewinnpolstern versuchen, mit Kostensenkungen ihre Situation zu retten. Das kommt sofort beim sprichwörtlichen kleinen Mann an, der sich nicht wehren kann.

sueddeutsche.de: Sie meinen Entlassungen?

Flassbeck: Entlassungen und Lohnsenkungen. Schon jetzt wird von vielen Beschäftigten ein Gehaltsverzicht eingefordert. Daimler hat das unlängst gemacht: Zehn Prozent Lohnsenkung für die 70.000 Mitarbeiter, die nicht von Kurzarbeit betroffen sind. Für ein Unternehmen sieht das gut aus, doch gesamtwirtschaftlich ist es der Weg in den Abgrund.

sueddeutsche.de: Warum?

Flassbeck: Weil der Verlust auf andere Unternehmen weitergeschoben wird. Die Unternehmen insgesamt aber können ihre Verluste nicht vermindern. Die Kosten des einen Unternehmens sind immer der Ertrag einer anderen Firma. Und wenn die Mitarbeiter weniger Geld bekommen, geben sie weniger aus. Mit immer weiter sich verbreitenden Lohnsenkungen werden auch die Verluste laufend vergrößert. Es ist eine absolut lebenswichtige Erkenntnis, die seit den Veröffentlichungen von Keynes in den dreißiger Jahren untergegangen ist.

sueddeutsche.de: Ein Volkswirt darf das große Ganze im Auge behalten - von einem Unternehmen wie Daimler kann man das nicht erwarten.

Flassbeck: Sicher. Daimler handelt aus seiner engen betriebswirtschaftlichen Sicht heraus völlig richtig. Darum bräuchten wir Politiker mit gesamtwirtschaftlicher Einsicht, die verstehen, dass Lohnsenkungen keine Lösung sind. Die müssten alles daransetzen, um die Unternehmen von dieser Deflationslogik abzubringen. Aber man spricht noch nicht einmal darüber.

sueddeutsche.de: Es gilt die Tarifautonomie. Was wäre der Weg aus dem Dilemma?

Flassbeck: Man muss den Unternehmen - aber auch den Gewerkschaften - erklären, wie anders die Dynamik einer Volkswirtschaft ist.

sueddeutsche.de: Die Unternehmen sollen also gemeinsame Verluste einfach mal in Kauf nehmen, um das Land zu retten?

Flassbeck: Ja, das Beste wäre in der Tat, sie würden einen Moment stillhalten, weil die unternehmensinternen Versuche, der Krise Herr zu werden, überhaupt nichts bringen.

Was die Politik macht, wenn die Prognosen schlechter werden

sueddeutsche.de: Schöne neue Welt. Hat es je in der Wirtschaftsgeschichte einen solchen Moment des kollektiven Innehaltens gegeben?

Heiner Flassbeck, dpa

Heiner Flassbeck: "Verluste werden immer nur weitergeschoben - die Unternehmen insgesamt können ihre Verluste nicht vermindern."

(Foto: Foto: dpa)

Flassbeck: Nicht, dass ich wüsste. Aber Lernen ist ja nicht immer von Übel. Man hätte viele schlimme Krisen mit schrecklichen politischen und menschlichen Folgen auf diese Weise abmildern können. Nicht nur Keynes, eine ganze Reihe herausragender Ökonomen haben das gewusst, aber in der Politik spielt dieser zentrale Gedanke keine Rolle. Die verschanzt sich hinter einem Wall von einfachster Ökonomie, um mit komplizierten Fragen gar nicht erst in Berührung zu kommen.

sueddeutsche.de: Wenn die Politik mitbekommt, dass die Prognosen immer schlechter werden und die Wirtschaft abstürzt - was passiert da hinter den Kulissen des Politikapparates?

Flassbeck: Es gibt vermutlich weniger Betriebsamkeit als man glauben könnte, weil die deutsche Politik davon überzeugt ist, dass sie sowieso an den makroökonomischen Ergebnissen nichts ändern kann. Die zuständigen Minister lassen sich von ihren Leuten Papiere schreiben, die immer das Gleiche wiedergeben. Die Leute sind ja ausgewählt worden, weil sie loyal seien sollen. Und dann machen sie das, was alle guten Beamte machen: Sie versuchen nicht, ein unabhängiges Papier zu schreiben, sondern wollen vorausahnen, was der Herr Minister gerne hören und lesen möchte - und bemühen sich, dass dann analytisch zu begründen.

sueddeutsche.de: Aber auch jetzt in der Krise macht jeder Ökonom andere Vorschläge. Gibt es in der Zunft überhaupt einen kleinsten gemeinsamen Nenner, wie eine Krise diesen Ausmaßes bewältigt werden soll?

Flassbeck: Den gibt es schon. Mancher würde seine Meinung ohnehin - wie es der Ökonom Joseph Schumpeter ausdrückte - "under critical fire" zurücknehmen. Viele Ökonomen sagen beispielsweise, dass Deutschland nicht weiter auf das Exportmodell setzen solle. Kanzlerin Angela Merkel hingegen wünscht sich, dass Deutschland "Exportweltmeister" bleibe. Das ist der größte Irrtum aller Zeiten.

sueddeutsche.de: Es bleibt die Kernfrage: Was hilft dem Land akut aus der Krise?

Flassbeck: Ohne Verschuldung geht es nicht. Die privaten Schuldentürme, die durch das Zusammenbrechen der Spekulation entstanden sind, müssen jetzt durch staatliche Schuldentürme ersetzt werden, weil sich die Privaten insgesamt nicht weiter verschulden können oder wollen. In den USA ist die Regierung viel entschlossener als die unsrige: US-Präsident Barack Obama macht in der Summe fast doppelt so viel wie Merkel in Deutschland. Er hat begriffen, dass die Abwärtsspirale gestoppt werden muss.

sueddeutsche.de: Aber wo soll das Geld hineingesteckt werden? In Straßenbeton?

Flassbeck: Der Staat kann immer nur das tun, was er wirklich kann. Opel oder Arcandor kann er zum Beispiel nicht. Es müssen nicht immer nur Investitionen in die Infrastruktur sein, er kann auch neue Lehrer anstellen und in Bildung investieren.

sueddeutsche.de: Er soll den Beamtenapparat aufblähen?

Flassbeck: Es müssen ja nicht unbedingt Beamte sein. Er kann jedenfalls in Menschen investieren oder den Umweltschutz. Er kann auch den Leuten das Geld geben, die ohnehin notleidend sind und das Geld wieder ausgeben. Auch Geld gegen die Armut von Familien und Kindern ist eine Investition in Humankapital. Allgemeine Steuersenkungen helfen uns hingegen nicht weiter, weil das zusätzliche Geld größtenteils nur gespart würde.

sueddeutsche.de: Viele hoffen nach so einem starken Wirtschaftseinbruch auf einen Flummi-Effekt: Was stark gefallen ist, muss auch wieder stark steigen. Ist das realistisch?

Flassbeck: Überhaupt nicht. Es gibt keine Selbststabilisierung des Systems, was sich gut am Beispiel Japan in den neunziger Jahren erkennen lässt. Die Kapazitätsauslastung der deutschen Industrie ist auf fast 70 Prozent gefallen. Das heißt, über Jahre brauchen Unternehmen nur sehr wenig investieren. Der Konsum ist auch schwach. Es ist gut möglich, dass wir jetzt erst mal fünf oder sechs Jahre Flaute haben. In früheren Krisen half oft der Export Deutschland rasch aus Krisen heraus. Das ist diesmal nicht so, weil wir einen globalen Einbruch von Konsum und Investition haben.

sueddeutsche.de: Welche Wachstumsrate bräuchte Deutschland, um langfristig gut in Schwung zu bleiben?

Flassbeck: Es wäre schon wunderbar, wenn wir auf Dauer ein Wachstum von gut zwei Prozent hätten und alle auch etwas davon abbekommen würden. Bei einem Einkommenswachstum von jährlich zwei Prozent würden wir unser Einkommen in 35 Jahren verdoppeln. Aber: Wachstum fällt nicht vom Himmel. Wir bräuchten dafür eine langfristig stabile Lohnpolitik, bei der sichergestellt wird, dass alle auch ihre zwei Prozent bekommen. In der Wirtschaftswunderzeit unter Ludwig Erhard war das übrigens ganz selbstverständlich. Doch das ist in Deutschland in den letzten 15 Jahren vollkommen verlorengegangen.

sueddeutsche.de: Können Sie der Rezession auch positive Seiten abgewinnen?

Flassbeck: Immerhin kann die Politik lernen, dass sie sich den makroökonomischen Aufgaben stellen muss und nicht alles den Zentralbanken überlassen kann.

sueddeutsche.de: "Es ist weniger schwierig, neue Ideen zu entwickeln als den alten zu entkommen", sagte der Ökonom John Maynard Keynes, der in der Krise einen aktiven Staat forderte. Welchen Ideen müssen wir entkommen?

Flassbeck: Der Idee vor allem, dass der Arbeitsmarkt wie ein Kartoffelmarkt funktioniert. Der Preis der Arbeit bestimmt nicht darüber, wie viele Arbeitnehmer beschäftigt sind, weil Angebot und Nachfrage an diesem Markt nicht unabhängig voneinander sind. Wir müssen zurück zu einer Teilhabergesellschaft, an der alle teilhaben am Fortschritt. Bei uns stehen die Ausgegrenzten auf der einen Seite, diejenigen, die durch Zocken zu Millionären werden, auf der anderen.

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