Sagen Sie mal ...:Hat Deutschland sieben Billionen Euro Schulden?

Deutschland ächzt unter einem gewaltigen Schuldenberg. Doch wie groß ist der? Ex-Finanz- minister Hans Eichel über die Schulden der Republik.

Hans von der Hagen

Die Finanzkrise hat die Schwachstellen der Europäischen Union offengelegt und die Verschuldung vieler EU-Staaten in die Höhe getrieben. Deutschland wird noch über Jahrzehnte hinweg die neu aufgenommenen Kredite abtragen müssen.

Hans Eichel, dpa

Hans Eichel: "Sofern man Europa voranbringen und eine stärkere Integration erreichen will, sollte man nicht auf den IWF zurückgreifen müssen."

(Foto: Foto: dpa)

Zugleich hat die Krise auch die Diskussion um die tatsächlichen Verpflichtungen der Länder neu entfacht. Liegen sie in Deutschland tatsächlich bei sieben Billionen Euro, wie manche Experten sagen?

Der frühere Finanzminister Hans Eichel, der "Eiserne Hans", über die Probleme Europas und Griechenlands, den Europäischen Währungsfonds, die Schulden Deutschlands - und kluge Haushaltsführung.

sueddeutsche.de: Europa steckt in einer Krise - sind die Euroländer auf solche Ereignisse vorbereitet?

Hans Eichel: Die Krise ist nicht so schwer wie oft beschrieben wird, jedenfalls für den Euro. Da ist viel Spekulation mit im Spiel und es gibt zahlreiche interessensgeleitete Aussagen. Die Länder sind durch die Krise in sehr große Verschuldung geraten, aber das gilt für Länder ohne den Euro zum Teil auch.

sueddeutsche.de: Was passiert, wenn sich die Lage verschärft?

Eichel: Ich glaube nicht, dass das passieren wird. Der Euro und die hinter ihm stehende Wirtschaftskraft haben geholfen, die Krise besser durchzustehen. Mit einem Flickenteppich an nationalen Währungen wären wir in ganz andere Verwerfungen geraten, weil einzelne EU-Länder dann erst recht den Spekulanten ausgeliefert gewesen wären.

sueddeutsche.de: Sollen die Euroländer notfalls auf die Hilfe des Internationale Währungsfonds zurückgreifen?

Eichel: Das ist der normale Weg, selbstverständlich. Aber sofern man Europa voranbringen und eine stärkere Integration erreichen will, sollte man nicht auf den IWF zurückgreifen müssen. Es sollte dafür einen eigenen Mechanismus geben.

sueddeutsche.de: Sie meinen einen Europäischen Währungsfonds?

Eichel: Ob es dafür gleich eine eigene Organisation geben muss, ist offen. Doch die Möglichkeit, dass ein Staat zahlungsunfähig werden kann, ist in den europäischen Verträgen überhaupt nicht vorhergesehen. Dagegen müssen wir aber Vorkehrungen treffen. Ich glaube aber nicht, dass es in Griechenland soweit kommen wird.

sueddeutsche.de: Europa hat demnach keine gravierenden Probleme?

Eichel: Doch: Die Europäische Union ist ebenso wenig fertig gebaut wie die Eurozone. Die Geldpolitik ist vergemeinschaftet, aber bei den anderen makroökonomischen Größen - der Fiskalpolitik und noch mehr bei der Lohnpolitik - gibt es noch überhaupt kein europäisches Denken. Da ist noch außerordentlich viel zu tun. An den Stellen brauchen wir neue Konzepte.

sueddeutsche.de: Läuft das auf eine gemeinsame Wirtschaftspolitik hinaus?

Eichel: Ja. Zunächst muss aber der makroökonomische Dialog - den es schon gibt - mit Leben gefüllt werden. Auch die unterschiedlichen Lohn- und Steuerentwicklungen in Europa müssen stärker harmonisiert werden. Das heißt nicht, dass alle das Gleiche machen, sondern dass unter Berücksichtigung der jeweiligen Besonderheiten eine gemeinsame Richtung eingeschlagen wird. Die nationalen makroökonomischen Größen müssen sich in die wirtschaftspolitische Zielsetzung der Eurozone und der EU einpassen.

sueddeutsche.de: Wie muss man sich den makroökonomischen Dialog vorstellen?

Eichel: Da sitzen die Tarifvertragsparteien, die EU-Kommission und die Europäische Zentralbank, an einem Tisch und legen die Ziele fest. Nur: Das dringt nicht durch - etwa in die nationalen Tarifverhandlungen. In der Fiskalpolitik ist die Abstimmung und der Wille zu gemeinschaftsverträglichem Verhalten ebenfalls völlig unzureichend. Das hat sich gerade im Fall von Griechenland deutlich gezeigt.

sueddeutsche.de: Ist Europa im Umgang mit sich selbst zu lax?

Eichel: Europa ist weniger lax als andere Weltregionen - beispielsweise die Vereinigten Staaten oder Japan. Aber gemessen an den Kriterien, die wir uns selbst im Rahmen des Maastricht-Vertrags gegeben haben, ist die EU sicherlich bei einer ganzen Reihe von Ländern zu lasch gewesen.

sueddeutsche.de: Viele Staaten sind schon mit enormen Schulden der Eurozone beigetreten. Wurde die Fähigkeit zur Rückzahlung der Kredite überschätzt?

Eichel: Auf jeden Fall haben Länder wie Griechenland und Italien den Spielraum, den sie mit der Einführung des Euro und den damit verbundenen viel niedrigeren Zinsen erhielten, nicht zur Rückführung von Schulden genutzt. Stattdessen haben sie ihn missbraucht, um noch mehr Schulden zu machen.

sueddeutsche.de: Zuletzt warnten Experten, dass die Schulden bei vielen Ländern weit höher seien als offziell ausgewiesen. Für Deutschland kursierte beispielsweise ein Zahl von rund sieben Billionen Euro - statt der regulären 1,7 Billionen. Wird der Schuldenberg kleingerechnet?

Eichel: Nein. Die 1,7 Billionen Euro sind richtig. In dieser Summe sind auch Verpflichtungen enthalten, die außerhalb des regulären Haushalts geführt werden, etwa die Mittel für den Bankenrettungsfonds oder für Teile des Konjunkturpaketes.

sueddeutsche.de: Woher kommen dann Zahlen wie die sieben Billionen Euro?

Eichel: Manche rechnen die sogenannte implizite Staatsverschuldung als echte Verschuldung und dann über lange Perioden hoch. Das kann als Ausgangsschock für eine Debatte nützlich sein. Aber es ist nicht sehr erhellend. Dabei geht es um künftige Zusagen des Staates etwa für die Sozialversicherungen. Die implizite Verschuldung wird sinnvollerweise getrennt ausgewiesen - es gibt dafür Regeln von der OECD und von der EU-Kommission.

sueddeutsche.de: Wo wird die implizite Verschuldung dokumentiert?

Eichel: In dem Tragfähigkeitsbericht für die öffentlichen Finanzen, den Deutschland 2005 erstmals vorgelegt hat. Das Finanzministerium macht das seither einmal pro Wahlperiode des Bundestages. Der letzte stammt von 2008.

sueddeutsche.de: Warum sollen die impliziten Staatschulden nicht zu den regulären Staatsschulden hinzugezählt werden?

Eichel: Weil es um Zusagen geht, die für die Zukunft gemacht worden sind. Das ist etwas anderes als die Schulden, die wir heute tatsächlich haben.

sueddeutsche.de: Im aktuellen Tragfähigkeitsbericht der EU-Kommission wird für diese Zusagen, also die impliziten Staatsschulden Deutschlands, ein Wert von 4,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausgewiesen, für Griechenland gar ein Wert von mehr als 14 Prozent. Können Sie das in konkrete Zahlen übersetzen?

Eichel: Für Deutschland heißt das, dass nachhaltig jährlich rund 100 Milliarden Euro in den öffentlichen Kassen - einschließlich der sozialen Sicherungssysteme - fehlen, um zu einem ausgeglichenen Staatshaushalt zu kommen. Das bezieht die Folgen der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise ein. Vor dieser Krise hat Deutschland mit einer Tragfähigkeitslücke von - je nach Szenario - null bis 2,4 Prozent gerechnet.

sueddeutsche.de: Aber wenn in dieser Rechnung Geld fehlt, werden daraus am Ende zwangsläufig Schulden ...

Eichel: Zumindest, wenn nicht politisch gegengesteuert wird. Und das ist genau das, was wir unter Rot-Grün mit der Rentenreform, der Haushaltskonsolidierung und der Agenda 2010 gemacht haben. Darum wurde später auch das Rentenalter auf 67 Jahre angehoben. Gegebenenfalls müssen in einem solchen Fall auch die Sozialversicherungsbeiträge oder die Bundeszuschüsse heraufgesetzt werden. Aber es ist nicht erhellend, deswegen Horrorzahlen für die künftige Verschuldung in die Welt zu setzen. Die wären nur dann richtig, wenn die Leistungen und Einnahmen unabänderlich wären. Die Tragfähigkeitslücke zeigt aber den politischen Handlungsbedarf.

sueddeutsche.de: Je höher aber die Schulden eines Landes sind, desto schwieriger wird es, eine solche Lücke zu schließen. Wann werden die impliziten Schulden zu einem Problem?

Eichel: Die explizite Staatsverschuldung, also die aktuell 1,7 Billionen Euro, macht den Sockel an Schulden aus, die auf jeden Fall finanziert werden müssen. Natürlich verringert eine hohe Staatsverschuldung den Spielraum eines Landes, um eine Lücke zu schließen, aber die impliziten Schulden werden darum noch nicht zwangsläufig zu einem Problem.

sueddeutsche.de: Wird in den Maastricht-Kriterien die implizite Verschuldung berücksichtigt?

Eichel: Bislang nicht, aber die EU-Kommssion plant, die Schuldengrenze für die einzelnen Länder aus diesem Grund neu festzulegen. Die maximale Verschuldung in Höhe von 60 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung ist zu schematisch gesetzt: Wenn die künftigen Verpflichtungen hoch sind, weil die Menschen immer älter werden, zugleich aber die Geburterate niedrig ist, können auch 60 Prozent Verschuldung zu viel sein. Wenn dagegen wie in Frankreich oder Schweden die Geburtenrate vergleichsweise hoch ist, ist die Belastung aus den künftigen Verpflichtungen niedriger. Darum ist in solchen Fällen eine höhere Gesamtverschuldung weniger problematisch.

sueddeutsche.de: Was würde sich für Deutschland ändern?

Eichel: Angesichts der geringen Geburtenrate dürften wir künftig wohl noch nicht einmal 60 Prozent der Wirtschaftsleistung als maximal zulässige Verschuldung haben.

sueddeutsche.de: Kaum eines der EU-Länder schafft es, die Finanzen unter Kontrolle zu halten. Was sagt der "Eiserne Hans", wie sie als Finanzminister genannt wurden: Gibt es - jenseits aller Maastricht-Kriterien - eine vernünftige Verschuldungsgrenze?

Eichel: Es gibt eine ganz einfache Regel - sie wird nur kaum beachtet, auch von Deutschland nicht: Kredite, die aufgenommen werden, um bestimmte Investitionen zu finanzieren, müssen dann zurückgezahlt sein, wenn die Gebrauchsdauer der Investition zu Ende ist. Stattdessen werden aber alte Kredite durch neue ersetzt, es wird nur umgeschuldet.

sueddeutsche.de: Nennen Sie uns ein Beispiel?

Eichel: Die Autobahnen. Sie sind fast alle nach dem Zweiten Weltkrieg neu gebaut worden - und der Staat zahlt noch immer für die dafür aufgenommenen Kredite. Inzwischen mussten sie längst saniert werden - wieder auf Kredit. Die Kosten dafür kommen jetzt noch obendrauf. Viele Autobahnen verursachen also mittlerweile die doppelten Kapitalkosten. Das ist ein schwerer Fehler. So ist unser Schuldenberg entstanden.

sueddeutsche.de: Wie wirkt sich das aus?

Eichel: Wenn der Bund wie in diesem Jahr eine Neuverschuldung von rund 100 Milliarden Euro hat, dann fragt er am Kapitalmarkt aber gut 340 Milliarden Euro nach - mehr als 200 Milliarden Euro müssen also umgeschuldet werden.

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