Süddeutsche Zeitung

Sachverständigenrat:Deutschland muss die guten Zeiten nutzen

Lesezeit: 3 min

Der Sachverständigenrat fordert von der künftigen Bundesregierung eine neue Wirtschaftspolitik - und hat recht damit!

Kommentar von Nikolaus Piper

Deutschland geht es wirtschaftlich gut. Das Land steht sogar viel besser da, als noch vor Kurzem gedacht. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat soeben seine Wachstumsprognose für dieses Jahr von 1,4 auf 2,0 Prozent heraufgesetzt, im kommenden Jahr sollen es sogar 2,2 Prozent sein. Die Arbeitslosigkeit sinkt weiter, die Inflation bleibt unter Kontrolle. Deutschland erlebt den zweitlängsten Aufschwung seiner Nachkriegsgeschichte, und ein Ende ist nicht absehbar. Im Gegenteil: Die Sachverständigen befürchten sogar eine Überhitzung der deutschen Wirtschaft.

Interessant ist dabei, dass die Ökonomen im Jahresgutachten unterschiedlicher Meinung darüber sind, was man mit der guten Lage eigentlich anfangen soll. Die Mehrheit sagt: Lasst uns die guten Zeiten für eine "Neujustierung der Wirtschaftspolitik" nutzen, "um Deutschland auf zukünftige Herausforderungen vorzubereiten", so der Vorsitzende Christoph Schmidt. Der mit Unterstützung der Gewerkschaften in den Rat berufene Peter Bofinger hält dem, leicht vereinfacht, entgegen: Wenn die Wirtschaft so gut läuft, kann die bisherige Politik so schlecht nicht gewesen sein. Warum also sollte man ausgerechnet jetzt irgend etwas neu justieren?

Wer hat Recht?

Die Ökonomen fordern eine "Neujustierung der Politik". Sie haben recht damit

Um die Frage beantworten zu können, muss man etwas genauer hinschauen. Es ist unstrittig, dass Deutschland den Weg aus der Finanzkrise hervorragend gemeistert hat, dass sich aber auch große Probleme aufgebaut haben, die dem Land teuer zu stehen kommen, wenn sie nicht gelöst werden: zu wenig Investitionen, bröckelnde Infrastruktur, Rückstand beim Ausbau des schnellen Internets, zu wenig Lehrer, zu wenig Pflegekräfte, zu wenig Fachkräfte in der Industrie, Integration Hunderttausender schlecht ausgebildeter Migranten in die Volkswirtschaft, Sicherung der Renten. Bofinger will die Aufgaben bewältigen, indem er dem Staat die nötigen Mittel sichert. Die Mehrheit will der Privatwirtschaft zu diesem Zweck mehr Freiraum lassen. Mit Mut zur Ungenauigkeit kann man sagen: Bofinger hat zu 30 Prozent recht, die Mehrheit zu 70 Prozent.

Es stimmt schon, Deutschland braucht keine umfangreichen Steuersenkungen, der Anteil der Steuern an der Wirtschaftsleistung liegt mit gut 23 Prozent nur ein bisschen über dem langjährigen Mittel. Trotzdem ist es richtig, den Soli schrittweise abzubauen. Das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit: Wenn eine Abgabe zu einem bestimmten Zweck (Aufbau Ost) eingeführt wurde, dann muss sie auch abgeschafft werden, wenn die Aufgabe entfällt. Außerdem ist es notwendig, von Zeit zu Zeit die, infolge des Steuertarifs, übermäßig steigende Steuerlast mittlerer Einkommen zu senken, also den sogenannten "Mittelstandsbauch" abzubauen.

Bofinger hat recht: Es gibt zu wenig öffentliche Investitionen. Die Staatsausgaben für Polizisten und Soldaten oder auch für die Integration der Flüchtlinge werden steigen. Der Raum für Steuersenkungen ist also durchaus begrenzt. Es gibt aber auch deutlich zu wenig private Investitionen und es wäre gut, diese zu fördern, auch steuerlich. So entsteht Wachstum, so entstehen auch neue Steuereinnahmen. Auf jeden Fall sollte die nächste Bundesregierung nicht den einfachen Weg gehen, sich von der "schwarzen Null" zu verabschieden und neue Kredite aufzunehmen. Selbst wenn die Zinsen verlockend niedrig sind - in einer Wirtschaft, die nahe der Überhitzung ist, gibt es keinen Grund für eine höhere Neuverschuldung, dafür umso mehr Gründe, die Schulden weiter abzubauen, als Vorsorge für schlechtere Zeiten.

Auch der Ruf der Ratsmehrheit nach einer "geldpolitischen Wende" bei der Europäischen Zentralbank, sprich nach höheren Zinsen, ist richtig. Eine Wirtschaft, die um zwei Prozent wächst, braucht keine Geldschwemme von der Notenbank. Auch wenn man berücksichtigt, dass die EZB-Politik für die sehr unterschiedlichen Staaten der Euro-Zone passen muss, ist es Zeit für eine Wende. Selbst in Griechenland wächst die Wirtschaft inzwischen wieder.

Vielleicht tragen die Sachverständigen mit ihrem Gutachten dazu bei, die Debatte in Talkrunden und an Stammtischen über Wirtschaft, Gerechtigkeit und Sozialstaat wieder etwas näher an die Fakten heranzuführen. Deutschland ist kein Land, das immer ungerechter wird und in dem das Elend wächst. Die Löhne steigen real, der Aufschwung wird von der Binnennachfrage getragen, die soziale Ungleichheit hat seit 2005 nicht mehr zugenommen. Die Zeiten werden nicht immer so gut bleiben. Umso wichtiger, die Möglichkeiten von heute zu nutzen.

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Quelle:
SZ vom 09.11.2017
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