Die Nachricht wirkt wie aus der Zeit gefallen: Da diskutiert die Politik seit Jahren, wie schnell Deutschland aus Kohle- und Atomkraft aussteigen sollte. Da betont die Regierung unentwegt, wie sie den Ausbau erneuerbarer Energien forcieren will. Und währenddessen steigt ausgerechnet der alte Kohle- und Atomkonzern RWE zur marktbeherrschenden Firma in der Stromerzeugung auf. So hat es nun zumindest das Bundeskartellamt festgestellt. Wie passt das zusammen?
Um herauszufinden, wie mächtig einzelne Kraftwerksunternehmen sind, untersuchte das Kartellamt die Stromerzeugung in Deutschland und Luxemburg von Herbst 2020 bis Herbst 2021. Wohl bemerkt: Windräder oder Solaranlagen, die für ihren Strom feste Vergütungen gemäß dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) erhalten, erfasste die Behörde nicht. Denn sie speisen ihren Strom ja ohnehin mit Vorrang ein. Dem Kartellamt geht es um den verbleibenden Markt, der zuletzt noch knapp 60 Prozent allen Stroms in Deutschland ausmachte - besonders wichtig in Zeiten mit wenig Wind und Sonnenschein.
Doch dort Marktmacht zu messen, ist gar nicht mal so leicht. So erzeugte RWE manchmal nur 15 Prozent allen Stroms auf dem Markt - in Spitzenzeiten aber bis zu 40 Prozent, wie die Behörde herausgefunden hat. Das hing jeweils davon ab, wie gefragt der Strom aus den Gas-, Kohle- und Wasserkraftwerken sowie den letzten Atommeilern von RWE noch war.
Das Kartellamt stellt daher eine andere Frage: In wie vielen Viertelstunden eines Jahres waren RWE-Kraftwerke unverzichtbar für die Stromversorgung? Je nachdem, wie hoch die Behörde die Konkurrenz durch Stromimporte aus dem Ausland einschätzt, kommt sie auf Anteile von acht bis 16 Prozent. "Nach unseren Ermittlungen liegt RWE damit über der Schwelle für eine marktbeherrschende Stellung", sagt Kartellamts-Präsident Andreas Mundt. Denn Wettbewerbsbehörden bezeichnen einen Kraftwerksbetreiber dann als marktbeherrschend, wenn man den Strombedarf ohne seine Meiler in mindestens fünf Prozent der Zeit eines Jahres nicht decken könnte.
Vieles kommt darauf an, wie lange Braunkohlemeiler noch laufen werden
Doch was ändert das, wenn RWE nun marktbeherrschend ist? Darauf gab der Behördenpräsident im Interview zum Jahreswechsel Hinweise: Kein Unternehmen dürfe von Engpässen "unbotmäßig profitieren und seine Stellung missbrauchen", warnte Mundt. "Wenn Kapazitäten eng sind, könnte es Anreize geben, die Preise durch bewusste Zurückhaltung von Kapazitäten in die Höhe zu treiben." Das müsse die Behörde vermeiden. Sie dürfte RWE künftig also genau beobachten, gerade in Zeiten stark steigender Strompreise. Ein konkretes Missbrauchsverfahren steht bislang freilich nicht im Raum.
Nun beziehen sich die Zahlen des Kartellamts auf einen besonderen Zeitraum: Deutschland brauchte im vergangenen Jahr wieder mehr Strom, da sich vor allem die Industrie vom Corona-Krisenjahr 2020 erholt hat. Doch gleichzeitig sind mehrere klimaschädliche Kohlekraftwerke wie geplant vom Netz gegangen. Und es wurde weniger Ökostrom erzeugt als im Vorjahr, vor allem, weil der Wind schwächer wehte.
Dass in dieser Gemengelage nun vor allem RWE Marktmacht gewann, hat weitere Gründe. Beispielsweise hat der ewige RWE-Rivale Eon seine großen Meiler vor sechs Jahren in die Firma Uniper ausgelagert und sich von Uniper getrennt. Eon setzt seither auf Netze und Vertrieb. Und Uniper nimmt zumindest die Kohlekraftwerke in Deutschland nach und nach vom Netz. Auch andere Konzerne wie Vattenfall oder Steag schalten Steinkohlemeiler sukzessive ab.
Braunkohle-Unternehmen wie RWE im Rheinland oder Leag aus der Lausitz haben mit dem Bund auch Ausstiegspläne für ihre großen Tagebaue und Kraftwerke vereinbart. Als Enddatum gilt bislang allerdings das Jahr 2038; die neue Bundesregierung will den Ausstieg nun "idealerweise" auf 2030 vorziehen. Wie schnell sich RWE von der Braunkohle lossagen sollte, darüber streitet der Konzern auch mit dem kritischen Investor Enkraft: Dieser fordert eine Abspaltung des besonders klimaschädlichen Geschäfts, während RWE das ablehnt.
RWE profitiert von hohen Strompreisen und hebt die Gewinnprognose an
Das Kartellamt erwartet jedenfalls, dass Braunkohle-Betreiber wie RWE vorerst noch an Bedeutung gewinnen dürften. So sollen Ende dieses Jahres die letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland vom Netz gehen, auch der Ausstieg aus der Steinkohle-Verstromung schreite fort. Dies alles "verstärkt die Marktstellung von RWE tendenziell weiter", prophezeit Mundt.
Der Konzern selbst kritisiert den Bericht des Kartellamts: Man sei nicht verantwortlich für die Umstände, die zu der angeblich marktbeherrschenden Stellung geführt haben. RWE baue seit Jahren keine neuen Kohle- oder Kernkraftwerke mehr, stattdessen haben die Essener ja bereits Meiler stillgelegt. Das Unternehmen glaubt zudem, dass das Kartellamt die Konkurrenz aus dem Ausland unterschätze. Und für schwächeren Wind könne RWE nun auch nichts.
Die Firma wolle jedenfalls weiter investieren, vor allem voran in erneuerbare Energien, die weltweit einen wachsenden Anteil an den Geschäften ausmachen. Und in neue Gaskraftwerke an bestehenden Standorten, vor allem für Zeiten mit wenig Wind und Sonne. Derlei Gasmeiler könnten in einer klimaneutralen Zukunft mit Wasserstoff betrieben werden, den man mit viel Ökostrom aus Wasser herstellen kann.
Fest steht, dass RWE derzeit von den allgemein hohen Strompreisen profitiert. So hat der Konzern nun seine Gewinnprognose für dieses Jahr um etwa 300 Millionen Euro angehoben, auf bis zu 1,7 Milliarden Euro. Demnach erwartet RWE höhere Profite vor allem im Geschäft mit Gas- und Wasserkraftwerken sowie den Auslaufmodellen Kohle und Atom. Das Unternehmen verweist auf ein "dynamisches Marktumfeld": So haben deutlich gestiegene Gaspreise, auch infolge der politischen Konflikte mit Russland, zuletzt die Strompreise mit nach oben gezogen. An der Börse stieg die RWE-Aktie am Donnerstag auf den höchsten Kurs seit fast elf Jahren.