Süddeutsche Zeitung

Russland:Wohlstand für wenige

Eigentlich ist Russlands Wirtschaft stabil, vor allem dank des Öls. Die Regierung legt gar Geld auf die Seite, Präsident Putin will in die globale Elite aufsteigen. Viele Russen können aber nur mit Schwarzarbeit überleben.

Von Silke Bigalke, Moskau

Mehrmals im Jahr hat der russische Präsident Wladimir Putin Gelegenheit, als sorgender Landesvater aufzutreten. Meistens spricht er dann als erstes über die Wirtschaft, etwa bei der Jahrespressekonferenz oder der Rede an die Nation. Er hat viele Zahlen dabei, und alle sollen zeigen, wie gut es läuft und dass es bald noch besser wird. Putin spricht davon, wie er Russland zur fünftgrößten Wirtschaftsmacht der Welt machen will - dabei liegt das Land laut Internationalem Währungsfonds (IWF) derzeit auf Platz zwölf. Er spricht von seinen "nationalen Projekten", mit denen er die russische Wirtschaft umstrukturieren möchte, die aber kaum ein Russe durchblickt.

Putins Publikum hat ohnehin meist andere Sorgen. Die Menschen spüren, dass die russische Wirtschaft seit 2014 stagniert, für ihre Einkommen können sie sich von Jahr zu Jahr weniger leisten. Seit Anfang des Jahres zahlen sie zudem zwei Prozent mehr Mehrwertsteuer. Und die meisten müssen nun fünf Jahre länger arbeiten, bevor sie ihre Renten bekommen. Vor allem diese Rentenreform hat Putin viel Unmut eingebracht. 2018 wurde er zum vierten Mal Präsident, seither sinken seine Zustimmungswerte.

Bei seinem jüngsten großen Auftritt hat sich deshalb Putins Ton geändert. Bei der Fernsehsendung "Der direkte Draht", bei der er Probleme von Anrufern live am Telefon löst, ging es als erstes um die niedrigen Gehälter. Als eine Lehrerin über ihre mageren 10 764 Rubel - umgerechnet 151 Euro - klagte, war er nicht zum ersten Mal verwundert über die Lebensumstände der Bürger. "Wir müssen das prüfen", sagte er, schließlich habe man die Armutsgrenze gerade erst auf 11 280 Rubel erhöht, knapp 160 Euro also. Wer darunter bleibt, bekommt Hilfe. Nur 180 Euro im Monat für einen Feuerwehrmann mit Familie? Eine Lohnerhöhung für diese Berufsgruppe sei bereits in die Wege geleitet, erklärte Putin live im Fernsehen.

So eine Schnellhilfe am jährlichen Sorgentelefon ändert allerdings wenig an den grundsätzlichen Problemen. Die russische Wirtschaft wächst zu langsam und Putin steckt in der Klemme. Denn er kann das Wachstum kaum ankurbeln, ohne das System ins Wanken zu bringen, dem er seine Macht verdankt. Die russische Wirtschaft leidet vor allem unter drei Dingen. Erstens unter den Sanktionen wegen der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine. Die haben aber laut IWF einen geringeren Effekt auf das Wachstum als Grund Nummer Zwei: Der Ölpreis, der 2014 eingebrochen ist und den Rubelkurs mit sich riss. Von Öl und Gas ist die russische Wirtschaft weiterhin gefährlich abhängig. Das dritte Problem ist die Reaktion der Regierung auf diese Probleme: Sie spart, häuft Reserven an und hält die Verschuldung niedrig.

Sanktionen von beiden Seiten

Die Sanktionen haben das russische Wirtschaftswachstum laut Internationalen Währungsfonds (IWF) seit 2014 zwar verlangsamt, um etwa 0,2 Prozentpunkte im Jahr. Der schwache Ölpreis aber hatte demnach einen deutlich stärkeren Effekt. Bringen die Sanktionen also etwas? Eine Antwort darauf ist, dass es unterschiedliche Sanktionen gibt, die auf bestimmte Branchen abzielen, und nicht darauf, jedem Russen zu schaden.

Die EU-Strafmaßnahmen verbieten Unternehmen, auf der von Russland annektierten Krim zu investieren oder Güter dorthin zu verkaufen, die für Energie- und Infrastrukturprojekte genutzt werden können. Außerdem soll es keinen Tourismus mehr auf der Halbinsel geben. Ein weiteres Sanktionspaket bezieht sich auf den Krieg in der Ostukraine und ist daran gebunden, dass das Minsker Abkommen umgesetzt wird. Diese Sanktionen betreffen Rüstungsunternehmen, Energieunternehmen und Banken, die nun vom europäischen Finanzmarkt abgeschnitten sind. Schmerzhaft für die Regierung in Moskau dürfte die Liste von Personen und Organisationen sein, die nicht mehr in die EU einreisen dürften und deren Vermögen dort eingefroren sind.

Putin erklärt gerne, dass die Maßnahmen den Europäern wirtschaftlich mehr schadeten als den Russen. Die spüren wohl eher die Sanktionen, mit denen ihr eigener Präsident reagiert hat: Putin hat verboten, Milch- und Fleischprodukte, Obst und Gemüse aus der EU zu importieren. Silke Bigalke

An Geld mangelt es dem russischen Staat dank Spardiktat und Öleinnahmen nicht. Ein Nationaler Wohlstandsfonds soll Putin in Krisen absichern. Dieses Jahr wird er wahrscheinlich die vorgeschriebenen sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts übersteigen. Was darüber liegt, darf die Regierung nach Belieben ausgeben. Schon jetzt wird spekuliert, wer davon profitiert. Meist ist es ein kleiner Kreis von Vertrauten Putins und von mächtigen Leuten, oft mit Verbindungen zu Militär oder Geheimdienst, auf die er angewiesen ist. Der Regierung fällt es offenbar schwer, Geld sinnvoll auszugeben. Mit ihren Investitionen in Putins "nationale Projekte" liegt sie weit hinter Plan. Mit ihnen möchte der Präsident das Wachstum stärken und die Wirtschaft moderner machen. Dabei ist Putins Riesenprojekt so umfassend und so unübersichtlich, dass es offenbar weder das Publikum noch alle Minister verstehen. Die Projekte sind in 13 Bereiche unterteilt und sollen mehr als 360 Milliarden Euro kosten. Putin will neue Straßen bauen, in Schulen und Krankenhäuser investieren, er will Exporte stärken, Wälder retten und neue Kriegsdenkmäler errichten. Manche Projekte sind detailliert, andere nur vage formuliert. Es scheint, als wüssten die beauftragen Ministerien nicht recht, wo sie anfangen sollen.

Etwa 30 Prozent der Gesamtsumme soll zudem von privaten Unternehmen kommen. Private Investitionen aber sind das, was Russland überall fehlt. Der Staat ist für mehr als ein Drittel des wirtschaftlichen Ergebnisses verantwortlich. Jeder zweite Arbeitnehmer, der einen offiziellen Job hat und Steuern zahlt, ist bei Behörden und staatlichen Unternehmen angestellt.

Die großen Staatsaufträge bekommen vor allem staatliche Holdinggesellschaften wie das Technologieunternehmen Rostec. Sie entwerfen Waffen und Maschinen, bauen Schienen oder Straßen, entwickeln Medikamente und versorgen das Land mit Strom. Diese Großbetriebe kontrollieren den größten Teil der russischen Wirtschaft - und werden von einigen Oligarchen geleitet, die Putin Bericht erstatten. Private Unternehmen dagegen haben das Problem, dass die private Nachfrage in Russland gering ist. Zugleich ist der Export schwierig, nicht allein der Sanktionen wegen. Sie sind oft auch einfach nicht konkurrenzfähig. Weil damit die Zahl der gut bezahlten Jobs in der Privatwirtschaft abnimmt, sinken auch die Einkommen.

Stabil ist die russische Wirtschaft deshalb bisher vor allem, weil sich die Leute selber helfen. Viele Russen halten sich mit Schwarzarbeit über Wasser, sie arbeiten beispielsweise als Fahrer, reparieren Autos oder vermieten ihren Garten als Parkplatz. Diese Grauzone macht laut IWF mehr als ein Drittel der russischen Wirtschaft aus. Der Staat hat bereits einige Anläufe unternommen, diese Jobs in steuerpflichtige, offizielle Arbeit umzuwandeln. Doch das ist riskant: Mit den Nebenverdiensten retten sich vielen Russen vor der Armut. Auch deswegen stützt sich der Staatshaushalt vor allem auf die Mehrwertsteuer. Und aufs Öl.

Den Staat stärker aus der Wirtschaft herauszuziehen und Wettbewerb zu fördern, würde Putins Einfluss schwächen. Die Staatsangestellten sind seine zuverlässigste Unterstützerbasis, auf ihre Stimmen kann er sich bei den Wahlen verlassen. Zugleich stützt er seine Macht auf diejenigen, die durch sein System reich geworden sind. Sie sind am Ende vielleicht das größte Problem der russischen Wirtschaft, wo Einfluss mehr zählt als Wettbewerbsfähigkeit: Mächtige Geschäftsleute tragen Streitigkeiten zwar vor Gericht aus, aber nicht in fairen Verfahren sondern in gekauften Prozessen. Wer ihnen in die Quere kommt, riskiert Gefängnis.

"Das Gesetz ist biegsam", sagt auch Alexander, Rentner aus Moskau. "Jeder hilft sich selbst." Alexander hat 50 Jahre lang als Fahrer für verschiedene Unternehmen gearbeitet, heute fährt er Leute schwarz durch die Stadt und verdient außerdem als Putzhilfe etwas dazu. Offiziell bekommen er und seine Frau gemeinsam 41 000 Rubel, etwa 575 Euro. Sie liegen dabei in Moskau, wo die Renten höher sind als im Rest des Landes, ungefähr im Schnitt. Sie leben in ihrem eigenen Haus außerhalb der Stadt, zahlen dort 5000 Rubel monatlich an Nebenkosten, dazu kommen 20 000 bis 30 000 Rubel für Lebensmittel, manchmal kaufen sie ein Geschenk für den Enkel. Kino? Kleidung? Schwierig. Alexanders Frau ist krebskrank, die Medikamente muss er selbst bezahlen, die Behandlung, wenn er nicht Monate lang darauf warten will, auch. Das sind mindestens 15 000 Rubel im Jahr, letztes Jahr waren es 200 000. "Die zur Seite zu legen fällt schwer", sagt er. Vom Schwiegervater haben sie eine Wohnung geerbt, die sie vermieten. Das Geld sparen sie für die Medizin. "Wer vor der Rente nichts hat", sagt Alexander, "der kann von der Rente allein nicht leben".

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Quelle:
SZ vom 08.10.2019
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